Von Süden über einen langen Weg durch den Wald herankommend erreicht man Ascendent-Moon-Manor, das alte Stammhaus der Familie Kabane. Düster liegt es da, aus Steinblöcken erbaut. Große Fenster würden Einblick in sein Inneres gewähren, wären sie nicht die meiste Zeit von schweren Stoffvorhängen verhangen. Aus Teil westlich des Portals und der dahinterliegenden Eingangshalle dringt nur in den allerseltensten Fällen Licht, aus den östlich gelegenen Räumlichkeiten dafür umso öfter. Das Gelände vor dem Haus ist mehr oder weniger verwildert, der hier zu sehende Garten mehr oder weniger ungepflegt. Gerademal der Kiesweg der zum Eingang des einstöckigen Landhauses führt ist rudimentär von größerem Unkraut befreit, links und rechts davon häufen sich aktuell Bauschutt und Werkzeug. Wer es nun wagt die alte Villa zu betreten wird sich in der schon zuvor erwähnten Eingangshalle wiederfinden, düster wie von außen und nur schwach durch ein paar wenige Lampen beleuchtet, dafür aber sauber und stilvoll eingerichtet. In den Westflügel des Hauses führt ein stets verschlossenes Eichenportal, nach Osten gelangt man durch eine einfachere Holztür in einen schmalen Gang, an dem zur Innenseite des beinahe quadratischen Gebäudes die Zimmer liegen, während man nach außen hin das betrachten kann, was einst ein Garten oder Park gewesen sein könnte. Gegenüber des doppelflügeligen Eingangstores ist ein großer Teil der Wand durch Glasscheiben ersetzt, die einen Einblick in den Innenhof gewähren. Dieser ist im Gegensatz zum Außengelände im großartigem Zustand, liebevoll gepflegtes Grün und sogar ein kleiner Fischteich lassen sich hier bewundern und bieten somit einen überraschenden Kontrast zur Triste der Ascendent-Moon-Manor.

Zitat

---

Sehr geehrter Herr Itasa,

hiermit wünsche ich, Kabane Yureiko, sie für ein klärendes Gespräch in meinen Landsitz vor Hosenka Town einzuladen. Ihr kommen wird in drei Tagen zur siebenten Abendstunde erwartet.

Gezeichnet
Kabane Yureiko

---

Förmlichkeit lag ihr, ganz im Gegensatz zur Gefühlsduselei. Sogar Yureiko selbst wäre es diesmal lieber gewesen, wenn sie ihre Einladung weniger wie einen Geschäftsbrief aussehen hätte lassen können, aber was sollte man schon tun? Man hatte ihr eben beigebracht Distanz zum "einfachen Volk" zu wahren und Respekt gegenüber denen zu zeigen, wenn auch nicht zwingend zu haben, mit denen man sich gleichstellen wollte - auch dies setzte eine gewisse Distanz voraus. Sie zumindest ein klein wenig Nähe zu lehren wäre gewiss von Vorteil gewesen, zumindest ihrer eigenen, ganz und gar nicht bescheidenen Meinung nach. Es war dennoch müßig darüber nachzudenken, denn nun musste sie mit den Mitteln arbeiten, die sie hatte. Eines davon war die angemessene Präsentation. Es war kein Zufall, dass Souta, wenn er denn pünktlich erschien, die Villa in tiefstes Abendrot getaucht erleben würde. Der Eindruck, der erweckt wurde, musste einfach stimmen. Das begann bei ihren Räumlichkeiten und endete bei ihr selbst. Auch da war nichts zufällig: Die Gastgeberin hatte schwarze, geschnürte Lederstiefel angezogen, darüber eine weite Stoffhose, die sich am Saum bauschte, weil dieser wenige Zentimeter weit in Stiefel gesteckt worden war, und noch eine Ebene höher ein ebenso weites und schwarzes Oberteil ohne Ärmel. Ihr Schmuck war wie immer aus teurem Silber, dafür aber klein an Zahl: Nur das übliche Spiralarmband, welches sich um ihr Handgelenk wand, und ein Siegelring zierten den Magierkörper. Die Kabane wusste, was sie ausdrücken wollte: Einerseits ihre Geburt aus gutem Haus, das Geld, welches ihre Familie erworben hatte, und andererseits ihre schlichte, kämpferische Natur, die ihr Gast nur allzu gut kennen gelernt hatte. Es sollte ein guter Abend werden. Die Frage war nur noch, ob besagter Gast auch wirklich auftauchte.

Drei Tage zuvor

“Aha ...”
Mit einer gehobenen Augenbraue flog ein zusammengeknülltes Stück Papier über die Schulter eines jungen Rothaarigen, prallte von einer Umzugskiste ab und rollte noch ein Stück über den Holzboden, ehe es regungslos liegen blieb. Unberührt davon öffnete besagter Rotschopf, die übrigen Umschläge in seiner Hand durchforstend, im Vorbeigehen ein Fenster und zog die dazugehörigen Rollos nach oben, was einerseits eine kühle Brise, andererseits auch Sonnenlicht in die Wohnung verfrachtete, die er seit ein paar Tagen sein Eigen nennen durfte, was auch die Umzugskartons erklärte, die überall herumstanden und zu etwa neunzig Prozent mit Büchern gefüllt waren. Schon lustig, dass so viele Leute ihn auf Grund seines Gemütes für minderbemittelt hielten, dabei war er sogar ziemlich gebildet. Na ja, es war kein Problem, wer nichts von seinem Genie wusste, der belästigte ihn auch nicht mit seinen Problemen und alle waren glücklich. Auch wenn er sich gerade nicht so glücklich fühlte, wie er das an einem so schönen Morgen, an dem es von irgendwoher nach Waffeln roch (er vermutete eine Etage höher, wo eine Person lebte, die erst vor zwei Stunden gegangen war, was seine Kleidung auf eine bauschige Pyjamahose reduziert hatte, bevor sie sich endlich voneinander verabschiedet hatten ... also wirklich, dieser Jemand war unmöglich, wenn man ihn loswerden wollte) eigentlich sein sollte. Das lag hauptsächlich – wenn nicht gar vollständig – an dem Stück Papier, welches ihn von der anderen Seite des Raumes mit seinem Knitterlächeln höhnisch angrinste. Natürlich würde er dieser Pseudoeinladung nicht nachkommen, er hatte genug von dieser Person und hier ein unglaublich tolles Leben. Eigentlich dachte er gar nicht mehr an sie! Ja wirklich, er war vollkommen über sie hinweg und bewegte sich deshalb auch ... unbewusst ... genau ... auf ... das ... Ding ... zu. Verdammt. Mit einem nackten Fuß (wo war seine zweite Socke und wollte er das wissen?) kickte er das Knäuel zur Seite, traf dabei die Wand und jaulte auf. Nichts als Schmerzen hatte sie ihm gebracht, als sie noch dagewesen war! Als sie weg war, hatte er sich fast umgebracht und jetzt wo er sie ignorierte war er schon wieder am Leiden, das konnte doch nicht wahr sein. Was wollte sie bitte von ihm? Ein klärendes Gespräch, als würde er das brauchen. Er brauchte gar nichts, er war Souta, der coolste Typ in ganz Fiore, wer etwas von ihm wollte, der konnte das gefälligst persönlich tun und hatte nicht seinen Nachnamen zu benutzen, der ironischerweise ja auch wieder mit “Schmerz” übersetzt werden konnte! Nicht einmal eine Adresse hatte sie ihm genannt, weil er natürlich wusste, wo sie wohnte, weil er sie unendlich oft beschattet hatte, zum Beispiel bei ihrer idiotischen Gartenarbeit. Und nun wollte sie ihn sehen und mit ihm reden. Ob das eine Falle war? Hatte sie ihm nicht gesagt, dass er nicht einmal einen Blick von ihr würdig war, und nun wollte sie tatsächlich Zeit mit ihm verbringen?
Seufzend hob er, auf einem Bein hüpfend, das Knäuel auf und las es noch einmal. In drei Tagen um 19 Uhr Abend also ...

Jetzt

Der Kies knirschte unter den Gummisohlen seiner zerfransten Turnschuhe. Es klang wie das Aufeinanderreiben von Zähnen und passte demnach ziemlich gut zu seiner momentanen Gemütslage. Itasa Soutanobu war ja normalerweise ein rosarotes Gummibärchen, das im siebten Himmel durch die Welt schwebte, ungeachtet aller anderen Menschen. Niemand konnte ihm das Wasser reichen, weil er der großartigste Mann Fiores war. Zumindest war das lange Zeit so gewesen. In den letzten Monaten hatte er so viel erlebt, so viele Leute getroffen, die ihn aus der Bahn warfen und ihn zum ersten Mal wirklich dazu brachten, über sich selbst nachzudenken. Mit zunehmender Zuneigung zu gewissen Personen wurde es immer schwieriger für ihn, sich über alles und jeden zu stellen und immer öfter erwischte er sich dabei, wie seine Gedanken von seinem Heldenglanz abdrifteten und sich stattdessen an ganz andere Dinge klammerten, die ihn früher nie berührt hätten. Es war dem Rotschopf nicht möglich gewesen, sich für die Emotionen seiner Umwelt zu interessieren, weil er alles ausgefüllt hatte, was es in seiner Welt gab, jeden Winkel davon in Besitz genommen hatte. Aber jetzt gab es andere Dinge in seinem Universum, er war nur noch ein Teil davon – und das war hart zu verdauen, selbst für ihn. Eigentlich war Souta ziemlich egoistisch und ganz sicher nicht halb so nett, wie man von ihm behaupten könnte, weil er vor allem auf sein eigenes Wohl bedacht war, da war es natürlich nicht verwunderlich, dass es ihn verwirrte, wenn es plötzlich ... anders war. Kabane-sama war eine der Personen gewesen, die er über sich gestellt hatte, die er aus vollkommen irrationalen Gründen geliebt hatte. Total verschossen war er in sie, er, der Weiberheld, hatte den 13-Jährigen gemimt, hatte sein ganzes Leben für sie zerstört, und sie hatte ihn mit Füßen getreten. Dutzende Male hatte sie ihn geschlagen, ihn beleidigt und ihn mit bösen Blicken angesehen, aber es war ihm egal gewesen. Was er nicht verkraften konnte, war, dass sie ihn nicht einmal als ihren Freund ansah, sondern nur als einen Wurm, etwas, was ihr nicht einmal “eines Blickes würdig” war. Das hatte ihn nicht nur zerstört, es war in seiner Brust explodiert und hatte seine Schrapnelle überall in seinem Körper verteilt. Und es tat immernoch weh, auch wenn das schon eine Weile her war, aber jetzt, wo er den dummen Kiesweg entschlangschlenderte und die Hände in seine verwaschene, geschlitzte Jeans gesteckt hatte, kam es wieder hoch und brannte in seiner Kehle wie Galle. Eigentlich war er verdammt sauer auf die Blonde, aber er kam natürlich trotzdem, weil sie mit ihm reden wollte und er zugegeben neugierig war – sein Stolz war nicht gebrochen und er meinte immernoch ernst, dass sie in seinem Leben keine Rolle mehr spielen sollte, aber er konnte sie nicht einfach so abnabeln. Ihretwegen hatte er Narben an seinen Handgelenken, verdammt ...
Mit gerunzelter Stirn zog sich der Rothaarige seine Sweatshirtjackenkapuze über den Kopf und schloss den Reißverschluss, um das quietschpinke T-Shirt mit der “Look AND touch, baby!”- Aufschrift zu bedecken. Es war etwas zu kurz für seinen schlaksigen Körper, deshalb blitzte hin und wieder die Unterseite seines neuen Gildenwappens hervor, was er in seiner dummen Naivität doch tatsächlich in Erinnerung an sie an dieselbe Stelle gesetzt hatte ... Weil er gedacht hatte, dass sie tot war. An seiner linken Hüfte baumelte eine Lederschnalle, in die er seine Peitsche gesteckt hatte. Sie wippte leicht, als er sich der Tür näherte und nach einer Klingel Ausschau hielt. Besaßen alte Villen soetwas? Er hatte keine Erfahrung damit, weil die Besitzerinnen solcher Häuser meist mit reichen Typen verheiratet waren oder deutlich außerhalb seiner Alterspräferenz angesiedelt, also musste er sich wohl auf sein Bauchgefühl verlassen – und das riet ihm, erst einmal ein Drumsolo gegen das Holz hinzulegen. Er hatte sie immer schon genervt, oder? Was sprach also dagegen, wenn er das nun absichtlich tat? "Yo, Kabane-kun!"

Hatte sie überhaupt etwas anderes erwartet? Eigentlich nicht, nein, wirklich nicht. Obwohl ihr letzter Abschied von Eiseskälte geprägt gewesen war, war der Rotschopf maßlos wie eh und je. Ob ihm jemals aufgefallen war, dass er sie damit mehr abgestoßen als an- (oder gar aus-) gezogen hatte? Ihr erster Eindruck bestätigte, dass er sich nicht geändert hatte, ein oder zweimal zu klopfen wäre für jeden anderen Menschen vollkommen ausreichend gewesen - nicht aber für Souta. Yureiko ließ sich auf ihrem Weg zur Tür viel Zeit, sollte er sich ruhig an der Tür verausgaben, wenn er es so nötig hatte. Er war ohnehin zum Reden eingeladen worden, da war es ohnehin nicht schlecht einen Mann ein wenig zappeln zu lassen. Zumindest hatte die Magierin das einmal so gehört. Mit beiden Händen fasste sie die Türklinken und drückte sie hinunter, nur um Augenblicke danach gemächlich das Tor zu öffnen und die beiden Türhälften nach außen schwingen zu lassen. Da stand er nun, der Mann, den sie zu sich eingeladen hatte. Er war der erste, der dieses Privileg genießen durfte, ohne für sie zu arbeiten, ansonsten ließ sie nur Dienstpersonal zu sich ins Haus. Aktuell besaß sie aber nicht mal solches - die Alchemistin pflegte kaum jemanden länger als mehrere Monate zu beschäftigen, weil sie dann der andauernden Gesellschaft dieser Menschen überdrüssig war.
Mit ruhigem Blick maß sie ihren Gegenüber, der Kettenschwinger sah eigentlich so aus, wie er es immer getan hatte. Früher hatte dieser Anblick schon genügt um sie in Rage zu versetzen, heute war Yureiko sogar froh, dass er gekommen war. "Du übertreibst manchmal, hat man dir das schon gesagt? Man hört dich nicht eher, wenn du öfters klopfst", tadelte die Blondine ihn - was für eine Begrüßung. "Dennoch freut es mich, dass du gekommen bist. Ich war mir nicht sicher, ob du an einem weiteren Treffen überhaupt noch Interesse hattest. Willkommen in meinem bescheidenen Heim", setzte sie die Begrüßung einigermaßen sachlich fort, "Aber komm herein. Dieser Wald ist selbst für uns Magier gefährlich, wenn es dunkel wird." Natürlich war er das in Wahrheit nicht halb so sehr wie Yureiko vorgab, aber seit dem rätselhaften Tod ihrer Tante stand sie mit der Kombination von Nacht und dem Wald vor ihrer Haustür auf Kriegsfuß. Bis heute wusste sie nicht was dort draußen passiert war und umso länger sie sich damit beschäftigte, desto größer wurde die Gewissheit, dass sie es nie herausfinden würde. Es war ohnehin wichtiger sich um das hier und jetzt zu kümmern, um die Gegenwart. In dieser Gegenwart stand ein orangehaariger junger Mann vor ihrer Haustür, den sie gerade hereingebeten hatte. Dies unterstrich die Zauberin in dem sie seitlich aus dem Portal trat und ihn mit einer ausladenden Geste ihrer rechten Hand mehr oder weniger hinein winkte. Der erste Schritt war getan - ihr Besuch war zumindest aufgetaucht.

Kaum war die Tür aufgeschwungen – erstaunlich lautlos für die dahinterliegende Kraft – fühlte sich Souta, als hätte man ihn ohne Text auf eine Bühne geschubst. Das Licht, was aus der altertümlichen Villa drang, tastete nach ihm, konnte ihn jedoch nicht ganz erfassen, während Kabane-sama in voller Beleuchtung vor ihm stand und er unwillkürlich einen sich an seinem Kehlkopf formenden Kloß herunterschluckte. Sein Auge glitt über die Konturen ihres Körpers, beinahe wie ein altes Programm, welches antrainierte Muster anwendet, verlor sich einen Moment an der unter der Hose nur in Andeutung vorhandenen Kurve ihrer Hüfte und schaute ihr dann erst ins Gesicht. Sein Beschauungsritual war nur ein Anlaufnehmen gewesen, die Sammlung von Kraft, um den Blick ihrer Augen zu erwidern, ohne in Tränen auszubrechen oder sie auf der Stelle zu ermorden. Es hatte seinen Zweck erfüllt. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, was weniger Zuneigung als vielmehr grundlegende Gemütshaltung ausdrückte, beobachtete er sie dabei, wie sie ihn belehrte. Er neigte den Kopf etwas, als sie ihm eine Frage stellte, nicht ganz ein Nicken, aber fast, wahrscheinlich wusste sie ohnehin, dass er mit Absicht übertrieb und es eher als Kompliment ansah, wenn sie ihm das so vorhielt. Allgemein war es doch schon immer so gewesen, oder? Souta machte irgendetwas, Kabane-sama rügte ihn dafür. Nur war aus ihr nun Kabane-kun geworden, denn sie war genauso interessant wie irgendein Typ für ihn, den er auf der Straße kennen lernte. An Männer machte der Rothaarige sich nicht heran, auch wenn man vielleicht Gegenteiliges behaupten mochte, wenn man beobachtete, wie er mit einem ganz bestimmten Exemplar seiner eigene Art umging, aber das war nebensächlich. Stattdessen war es angebracht, aufzublicken, als sie meinte, dass sie sich über sein Kommen freute. Beinahe instinktiv hob er eine Hand und strich sich die Kapuze zurück, was nicht nur eine Flut an knallroten Haaren an die Oberfläche brachte, sondern auch seinem Hörvermögen zuträglich war: Hatte sie das wirklich gesagt? Sie freute sich, ihn zu sehen? Souta war sich nicht sicher, ob sie ihn auf den Arm nahm, deshalb blieb seine Hand locker auf seinem Hinterkopf gelegt, während er sie etwas misstrauisch betrachtete. Schließlich ließ er den Arm sinken und zuckte mit den Schultern. „Ich bin nur hier, weil du mit mir reden willst.“ Dabei überging er ihren Kommentar mit dem Wald – gefährlich, für ihn? - und trat dann, ihrer Geste folgend, in die Halle. Bevor er jedoch die Umgebung genauer in Augenschein nahm, wandte er sich um, schnappte sich die Tür und schloss sie mit einem eher unsanften Klicken. Innerhalb von Sekunden drückte er mit der Handfläche gegen das robuste Holz und baute sich über der Blonden auf, das Gesicht eine ernste Maske und das Auge glühend. Sein Körper war angespannt wie eine Bogensehne, während er sie so betrachtete und auf seiner Unterlippe herumkaute, ihr eigentlich viel zu nahe war. Schließlich seufzte er, um den Anschein von Bedrohung verschwinden zu lassen, den er gerade niedergekämpft hatte, und massierte sich den Ansatz seiner Nase mit zwei Fingern. „Was willst du von mir?“

Es war geradezu niedlich. Da versuchte dieser Rotschopf, dieser dreiste Kerl, doch einfach mal sich durch körperlich Präsenz in eine starke Position zu bringen und das ausgerechnet gegen sie, Kabane-sama, die wohl robusteste Magierin der ganzen Welt. Ulkig, gerade so ulkig, das sogar ihr, Kabane-sama, die nicht nur die robusteste, sondern wohl auch die humorloseste aller Magierinnen war, ein leichtes Grinsen ins Gesicht huschte. Dachte er wirklich, dass er damit bei ihr auch nur das kleineste bisschen bewirken würde? Sie war nicht einzuschüchtern, zumindest nicht auf diese Art. Das hätte Souta eigentlich wissen müssen, aber entweder war es ihm egal oder er achtete einfach nicht darauf und handelte schlicht nach Instinkt. Egal wieso er es tat, es war lächerlich genug, dass er es tat. Diesmal würde sie ihn aber nicht auf seinen Fehler hinweisen. Nein, sie hatte sich ein wenig weitergebildet und zumindest in Ansätzen gelernt, wie man die Dinge, die man sagte, untermauerte, ohne einfach Recht zu haben oder dem anderen solange die Faust ins Gesicht zu schlagen, bis er gar nicht mehr anders konnte, als schweigend zuzustimmen. Da waren Sachen wie Betonung, Gestik oder die richtige Wortwahl, um seinen Willen durchzusetzen. Sie würde versuchen von allen dreien Gebrauch zu machen. Gerade bei einem gefühlsgesteuerten Menschen wie ihrem Gast sollten die Samen solcher Taten auf guten Boden fallen. So also hob die Zauberin langsam ihre Hände, legte sie sachte auf seine Brust und schob ihren ehemaligen Kollegen behutsam ein Stückchen von sich weg - weit genug, um das Bedürfnis von Abstand zu verdeutlich, aber auch nicht so vehement, dass er sich von vornherein abgelehnt fühlte. Nein, diese Geste sollte einfach sagen: Lass mir bitte etwas mehr Raum(sonst breche ich dir alle Knochen im Körper, du blöder Arsch!).
"Natürlich möchte ich mit dir reden. Unsere letzte Begegnung lief für uns beide nicht gerade nach Wunsch, oder?", fragte Yureiko so unverfänglich, wie es ihr möglich war, und fuhr fort: "Das sollte nicht ungeklärt bleiben, finde ich. Wir kennen uns zu gut, um einander zu grämen." Übertrieben gestelzt war das gewesen, aber das war eben ihre Art. Als Tochter aus gutem Hause hatte die Alchemistin schon früh lernen müssen sich gewählt auszudrücken und das hatte natürlich auch seine Spuren hinterlassen, so sehr, dass sie gelegentlich ganz von selbst in diesen Ton verfiel. "Ich befürchte, ich habe damals etwas übertrieben und mich sehr rüde verhalten. Du hast mich in einer schwierigen Situation getroffen." Das war weder gelogen noch eine Ausrede. Die Kabane hatte schlicht Schmerzen gehabt, eine Situation, mit der sie auf längere Zeit noch selten konfrontiert war, und ganz nebenbei noch eine empfindliche Niederlage zu verdauen gehabt. Dazu war noch die Aufregung wegen einer neuen Leiche gekommen... sie hatte es einfach nicht geschafft die richtigen Worte oder auch nur die richtigen Gefühle zu finden. Aber das würde sich bessern, das hatte sie sich versprochen. "Wir sollten hinein gehen. Oder möchtest du in der Eingangshalle rumstehen?", hakte sie nach, ehe sie sich ohne lange auf eine Antwort zu warten um Souta herumbewegte. Es war düster, nicht dunkel, aber düster. Innerhalb weniger Minuten schien kein direktes Sonnenlicht mehr durch die großen Fenster an der Innenseite, die zum Garten führte. Bei Tageslicht hätte sie diesen zwar besser vorführen können, aber auch im Zwielicht des schwindenden Abendrots machte er deutlich, dass ihre Seele nicht nur aus Zorn und Hass bestand. Der Raum selbst war wie das Haus, in dem er sich befand: Alt, aber sauber, die Wände hölzern getäfelt und mit antiquarischen Möbeln gefüllt. Ihr Besucher passte mit seiner Kleidung absolut nicht hierher, aber weder sie selbst noch ihn würde das stören. Also wand sie sich der Tür nach Osten hin zu, ein normalgroßes Portal, wie man es auch in anderen Häusern finden konnte, nur eben teurer und antik. "Hier entlang."

Unter Umständen hätte es wohl mehr gebraucht als eine solche Geste, um Souta von Kabane zu lösen, da er ja erstens generell eher schwer auf Abstand zu bringen war, nachdem er sich erst einmal einer hübschen Frau genähert hatte und zweitens nicht unbedingt so leicht zu beugen war, wie es seine Statur suggerierte. Die Blondine hatte also Glück, dass sie unter die wenigen Personen fiel, deren Berührung eine negative Emotion bei ihm auslöste, teilweise mit Schmerz, teilweise mit Abscheu verbunden, weswegen er es erst einmal dabei beließ und von ihr weggeschoben wurde, ohne sich großartig zu wehren. Sie brauchte sich nicht zu fürchten, dass er sich abgelehnt fühlte, das tat er schon lange nicht mehr, es war eher so, dass er sie ihrerseits ablehnte und eben deshalb zu einer solchen Handlung gegriffen hatte, wo er doch sonst niemand war, der irgendjemanden bedrohte oder einschüchterte. Da war es nicht verwunderlich, dass es bei ihr nicht funktionierte, abgesehen davon, dass er es auch nicht wirklich versucht hatte, immerhin war seine Waffe an ihren Platz geblieben und er hatte sie sehr höflich gefragt. Das war nur ein Test gewesen, wieviel sie zulassen würde und ob sie sich mittlerweile schon an Körperkontakt gewöhnt hatte. Offenbar konnte sie es immernoch nicht leiden, wenn man ihr auf die Pelle rückte, aber sie hatte es geschafft, ihn relativ sanft zurückzudrücken. Zu anderen Gelegenheiten würde er wohl schon in der Wand stecken, das bestätigte ihn nur darin, dass sie sich zusammenriss und daher auf eine friedliche Lösung aus war. Aber worüber wollte sie mit ihm sprechen? Über ihr Treffen? Souta wusste nicht, was es da zu klären gab, sie war wieder aufgetaucht, nachdem er sich ihretwegen beinahe umgebracht hatte und hatte ihm dann klargemacht, dass sie ihn für wertlos ansah. Der Rothaarige zuckte deshalb nur mit den Schultern, müde, als würde er eine ziemlich große Bürde auf ihnen mit sich herumtragen, stockte jedoch: Bitte? Sie kannten sich gut? In Ordnung, er hatte sie gestalkt, aber es war ihm nie so vorgekommen, als hätte sie ihn gekannt ... oder kennen lernen wollen. „So?“, fragte er also, bedeutend weniger diplomatisch als sie und rieb die Handflächen aneinander, als könne er sich so abhalten, weitere, bösere Worte aus seinem Mund purzeln zu lassen. Immerhin schien sie sich für ihr Verhalten zu entschuldigen (oder etwas in der Art), weswegen er beschloss, nicht sofort wieder abzuhauen. Vielleicht war diese ganze Sache doch nicht so lächerlich, wie es den Anschein hatte. Vielleicht hab es eine Erklärung dafür, dass sie ihn so zerschmettert hatte ... Entweder das oder er verschwand einfach wieder. „Rüde“, wiederholte der Kettenmagier dennoch mit hohler Stimme und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Obwohl die Situation kein bisschen lustig war, konnte er nicht umhin, sich über ihren gestelzten Ton zu amüsieren. Ob sie wohl auch so an die Sache heranging, wenn sie jemanden zu Brei prügelte? 'Entschuldigung, ich habe mich etwas unhöflich verhalten?' „Wohin gehen wir?“ Etwas misstrauisch betrachtete er die Umgebung, die alt, antik und gruselig aussah, während er ihr folgte. Er hatte schon grausige Ungeheuer besiegt, aber so ein Pseudo-Geisterschloss war nie angenehm. Wie konnte man hier wohnen? Er würde wahrscheinlich nicht einmal hier essen können, hm, obwohl, jetzt wo er gerade daran dachte ... „Hast du vielleicht einen Snack oder so? War ein weiter Weg von Oshibana Town.“ Und eigentlich hatte er wie immer den Speisewagen im Zug besucht, aber das musste sie nicht wissen, wobei es unwahrscheinlich war, dass sie es nicht wusste, er war immerhin Souta. Und auf leerem Magen unterhielt es sich schlecht ...

Es war alles typisch. Wenn man wollte, dann konnte man Souta ganz einfach auf zwei Dinge beschränken: Frauen und Essen. Danach konnte man durchaus planen, das hatte Yureiko längst verstanden. Immerhin wollte sie ihrem Gast einen Empfang bereiten, den er so schnell nicht mehr vergessen würde. Dazu gehörte, gerade wenn es um den ihr wohlbekannten Rotschopf ging, eben auch eine Mahlzeit. Dennoch würde sie nicht mit ihren eigenen Gebräuchen brechen - ihr Haus, ihre Herrschaft, ihre Regeln. So einfach war das. Wenn er essen wollte, dann würde er etwas zu essen bekommen, aber nach ihrem Geschmack. Fleisch kam nicht in dieses Haus, zumindest nicht geschlachtet und tierisch. "Ich kenne dich. Denkst du nicht, dass ich daran gedacht habe, dich angemessen zu versorgen?", fragte sie über die Schulter, mit beinahe beleidigtem Unterton. Die Blondine musste zugeben, dass ihr diese Art von Verhalten doch etwas Spaß bereitete. Es war ganz ähnlich wie die Wissenschaft, man musste einen wachen Geist mitbringen, verstehen, was um einen passierte und wie die Umwelt reagierte, wenn man bestimmte Dinge beimischte. Ihr Vorteil dabei war ganz eindeutig, dass sie einander gut kannten, ohne dass sie das je gewollt hatte. Was unter normalen Umständen eine erschreckende Erkenntnis für die Magierin bedeutet hätte würde sich nun zu ihrem Vorteil auswirken. Sie mochte Souta, auch wenn sie es nur schwer zugab. Es tat ihr Leid, wie sie ihn behandelt hatte, ein Eingeständnis, dass ihr aus irgendeinem Grund tatsächlich leichter gefallen war. Nun musste sie diese Fehler wieder gerabiegen. Würde ihr Ehrlichkeit helfen? Die Kabane wusste es nicht. Eine gute Lüge wollte ihr ohnehin nicht einfallen, dabei war sie darin besser als in dem, was sie gerade zu tun versuchte. Sie hatte sich nie als geschickte Diplomatin und Verhandlungskünstlerin gesehen. Diese Dinge waren früher nicht notwendig gewesen. Heute, offensichtlich, schon.
Während sie brüskiert tuend ihre Worte an den ihr folgenden jungen Mann gerichtet hatte, legte sie weiter ihren Weg zurück. Nach der Tür waren sie direkt in einen Gang gekommen der scharf rechts abbog und so anscheinend, wenn man aus den Fenstern blickte war es sogar offensichtlich, an die Außenmauer heranführte. An dieser entlang führte dieser schwach beleuchtete Gang entlang, vorbei an zwei kleineren Holztüren, die in Zimmer hineinführten. Danach folgt eine weitere Biegung und sie verließen die Front in Richtung Ostseite des Anwesens. Ein weiteres Mal eröffnete die Blondine beiläufig das Gespräch: "Ich hoffe die Einrichtung stört dich nicht. Es ist alt, aber ich wage es nicht, an diesem Haus allzu viel zu verändern." Gewagt war tatsächlich das richtige Wort. Yureiko hatte es in der Vergangenheit tunlichst vermieden in den überirdischen Geschossen etwas zu verändern, selbst der Ausbau des Kellers hatte sie unheimlich viel Überwindung gekostet. Dieser war auch etwas, was sie ihrem ehemaligen Kameraden zeigen wollte.
Nur eine Tür säumte den Teil des Weges, den sie an der Ostseite zurückgelegt hatten. Genau diese Türe öffnete die junge Dame nun auch, um ihren Gast in den wohl am wärmsten eingerichteten Raum des Hauses zu geleiten: Das Wohnzimmer. Der Raum war groß, die Wände mit Holz vertäfelt. Bilder hingen an ihnen und auch Bücherregale gab es in guter Menge. Die Prunkstücke des Raumes waren ein Kachelofen, der direkt neben der Türe stand, und die Orgel, die direkt gegenüber des Einganges zu finden war. In der Mitte des Raumes stand ein niedriger, länglicher Beistelltisch, auf dem sich eine Schüssel mit frischem Obst und eine Kristallkaraffe mit Limonade befanden - natürlich mit zwei passenden Gläsern. Schlussendlich befand sich noch ein alter Flügel im Zimmer, in der vorderen linken Ecke. "Setz dich und bedien dich", wies die Zauberin auf die Obstschüssel. Nun würde sich wirklich zeigen, ob sie eine Chance hatte.

"Alte Sachen sind echt nicht so meins, aber wem's gefällt..."
Hin und wieder warf der Rothaarige einen Seitenblick auf die gewöhnungsbedürftige Einrichtung, blieb an einem Gemälde hängen oder kratzte mit einem Fingernagel prüfend über massives, dunkles Holz. Schon seit er klein war, hatte er den Drang, unbekannte Dinge zu berühren, sie zu fühlen, weil sie das viel greifbarer machte. Seine Mutter hatte ihn regelmäßig damit getadelt, dass man mit den Augen sah, aber nun konnte man es ihm wohl kaum verübeln, wo sein Sehsinn doch wirklich nicht auf der Höhe war, beziehungsweise buchstäblich halbiert. Nur mit halbem Ohr lauschte er auch den Worten der Blonden, versuchte sie auszublenden und sich gleichzeitig innerlich dem Klang ihrer Stimme, ihrer bloßen Anwesenheit anzupassen, ohne verrückt zu werden. Allein ihre Existenz war ein Stressfaktor, der nicht zu verachten war, und es war nur ihr Glück, dass Souta ein Meister darin war, sich von Stress zu befreien, dass er nicht hysterisch kreischend durch das Haus rannte. Während Kabane also sinnierte, ob sie wohl mit Ehrlichkeit bei ihm landen konnte, beobachtete er geistesabwesend den Boden, die Wände, sogar die Decke. Tatsächlich kam man am weitesten, wenn man nicht versuchte, ihn zu belügen. Er tat das selbst auch nicht, war so ehrlich, dass es manchmal schon wehtat - wieso ihm also Lügen auftischen? Das war sinnlose Zeitverschwendung, wobei der ganze Besuch noch immer danach aussah und er sich ernsthaft fragte, ob sie in der Lage war, sich bei ihm zu entschuldigen, ohne ihn zu beleidigen oder für erneuten Streit zu sorgen. War es also nicht wahr gewesen, dass er für sie nichts zählte, rein gar nichts? Angestrengt unterdrückte er die Hoffnung, die in seinem Herzen keimte, konzentrierte sich auf die Dekoration, weil er es nicht ertragen könnte, sich in eine Falle geführt zu sehen. Nicht schon wieder. "Allerdings wundert es mich, dass ausgerechnet du Bedenken hast, etwas zu verändern. Ich dachte, du hast keine Angst vor garnichts." Das war eine absichtliche doppelte Verneinung, aber er war sich ziemlich sicher, dass sie das nicht merken würde. Und selbst wenn, war das nicht ihr Spiel? Hatten sie das nicht schon hundertmal gemacht? Die Regeln waren so einfach ... Er war Souta, sie kommentierte das und er gab ihr eine kecke Antwort, welche eine erneute Reaktion provozierte. Ein bisschen wie tanzen. Nur intimer. Anfassen konnte er jede, aber richtig unterhalten? War es traurig, dass er sicher acht Frauen aufzählen konnte, mit denen er nicht ein einziges Wort gewechselt hatte, das nicht aus dem Anrufungen irgendwelcher Gottheiten ihrerseits bestand? Ein bisschen. Nicht einmal mit seinem Seraphim hatte er sonderlich viel geredet, bis er ... Sein Seraphim? Das Auge des Rothaarigen wanderte durch den neu betretenen Raum, fing sich an der Obstschüssel, und glitt dann weiter zu der sonstigen Einrichtung. Instrumente also. Ein Flügel und eine Orgel. Letzteres passte wohl zu ihr. Er konnte sich bildhaft vorstellen, wie sie in einer Gewitternacht darauf klimperte, diabolisch lachend, ehe sie sich einen Kittel anzog und in ihr Laboratorium stieg, um Frankensteins Monster zu wecken. Uh, Äpfel! Ohne sich großartig darum zu scheren, wie antik diese Möbel wohl sein mochten, schmiss sich der Rothaarige auf das Sofa, welches sein ohnehin kaum existentes Gewicht glücklicherweise aushielt und angelte nach einem der Früchte, biss ein gigantisches Stück heraus und mümmelte an diesem mit Hamsterbacken voller Apfelpampe. Als er dies letztendlich geschluckt hatte - was an sich vermutlich eine Meisterleistung war - goss er sich etwas von der Limonade ein (im Liegen, ohne einen Tropfen zu verschütten!) und balancierte das Glas auf dem Knie, während er zu ihr blickte. "Bin ganz Ohr."

Es gab viele Eigenschaften, die zu der Kabane passten. Sturheit, zum Beispiel. Aggressivität würden ihr sicher auch viele bescheinigen und ganz nebenbei auch eine Menge Selbstbewusstsein. Ganz im Gegensatz dazu stand, was sie aktuell fühlte: Unsicherheit. So richtig umgehen konnte sie damit nicht, denn Situationen in denen sie nicht die volle Kontrolle hatte gab es recht selten. Nun, wo sie sich aber doch in einer befand, musste sie sich eingestehen, dass sie kaum Wege fand damit umzugehen. Ironischer Weise war der erste, der ihr einfiel, einer, der der Magierin sonst weniger lag: Sie redete. "Du hast es immer so eilig. Kommt das, weil du es dir erlauben kannst, so schnell zu sein, oder bist du nur so schnell geworden, weil du es eilig hattest?" , fragte sie ihren Besucher, ohne ihn dabei anzusehen. Stattdessen glitt ihr Blick durch den Raum und suchte nach etwas, woran sie sich festhalten konnte, um ihrem Geist Sicherheit zu verleihen. Es war kaum zu glauben, wie sehr Soutas Anwesenheit in ihrem Haus sie außer Fassung brachte, vor allem da er ja nicht ungebeten gekommen war. Im Gegenteil, sie hatte ihn ja erst zu sich eingeladen. In eine dumme Situation hatte Yureiko sich da gebracht, aber es war wohl nötig gewesen. Wenn ihr nur einfallen würde, wie sie weitermachen sollte...
Dann fand sie endlich ihren Fixpunkt, etwas, das ihr schon immer Ruhe gegeben hatte, wenn auch keine Sicherheit. Langsamen Schrittes wandte sie sich der Orgel zu, ein stattliches Instrument. Die Zauberin hatte es schon immer auf eine gewisse Art bewundert und es mit Freuden spielen gelernt. Sie liebte es geradezu, beinahe so sehr, wie ihre Arbeit. Unendlich viele Stunden hatte sie nicht nur mit dem Spiel verbracht, sondern auch damit Noten zu lernen. Jahrelang hatte sie beinahe ihre gesamte Freizeit damit verbracht. Einzig schade war, dass ihr Talent dafür leider begrenzt war - eines der wenigen Dinge, mit dem sie sich doch recht schnell abgefunden hatte. Das wichtigste war gewesen zu spielen und sich dabei nicht am eigenen Spiel zu stoßen. Wieso sollte sie nun also nicht dabei zur Ruhe kommen? Langsam strich die Blondine mit spitzen Fingern über die elfenbeinernen Tasten der edlen Orgel. "Magst du Musik?" , stellte sie dem Rotschopf eine weitere Frage. Stille würde sie wahrscheinlich nur noch mehr anspannen. Also musste sie gefüllt werden, entweder mit Worten oder eben mit Musik. Gemächlich ließ sie sich auf dem Hocker nieder und legte die Finger locker auf die Tasten. Die Kabane atmete tief durch, das würde das erste Mal sein, dass sie jemandem vorspielte. Eigentlich sollte das zwar nichts ändern, aber irgendwie wollte sie umso fehlerfreier sein. Ihr liebstes Stück hatte sie gewählt, noch bevor sie sich gesetzt hatte. Es war extra für Orgel geschrieben und es hatte wirklich Jahre gedauert, bis sie es einigermaßen beherrscht hatte. Perfekt konnte sie es bis heute nicht aufführen, aber sie hoffte darauf, dass Souta schlicht nicht wusste, dass sie die eine oder andere Stelle falsch spielte. So begann sie also zu spielen, zuerst die Fingerspitzen noch bedächtig auf die Tasten setzend, doch schon bald freier und beruhigter eine Melodie aufspielend, die ihr Herz schon immer bewegt hatte. Vielleicht konnte sie damit auch ihren Gast erreichen.

Kabanes Spiel

Soutas Geschwindigkeit war ein Geheimnis, welches er – wenn überhaupt – nur in den nächtlichen Stunden erforschen wollte, und selbst dann nur, wenn es nichts Anderes gab, worüber er sich den Kopf zerbrechen konnte. Er wusste nicht, warum er so schnell war und ehrlich gesagt hatte er auch keine Lust, es herauszufinden. Irgendetwas lief mit seinem Körper falsch, das wusste er. Sein lächerlich hoher Stoffwechsel wirkte sich irgendwie auf seine Bewegungen aus, oder war vielleicht umgekehrt ein Resultat daraus. Aber das kümmerte ihn nicht, denn er konnte ein ganz normales Leben führen, wenn er regelmäßig aß … Wieso also aufregen? Souta war ein Lebemann, ein Taugenichts, der es genoss, wenn seine Existenz aus schnellen Augenblicken bestand, die auf ihn einhagelten. Er brauchte keine ruhigen Momente, keine Entspannung. Alles musste spannend bleiben, flüchtig und hastig. Bam. Bam. Bam. Wenn er darauf achtete, dass das Leben tornadoartig an ihm vorbeitänzelte und er sich von den Wogen mitreißen ließ, mal hierhin, mal dorthin flog, dann musste er nicht innehalten und sich vor Augen führen, wie kaputt er eigentlich war – dann musste er keinen Gedanken daran verschwenden, dass sein Dasein aus Bruchstücken bestand und er keine Ahnung hatte, wie er die nächsten Jahre eigentlich überleben sollte. Er ging auf die Zwanzig zu und benahm sich immernoch wie ein Teenager, weil er nicht loslassen konnte und die Erwachsenenwelt ihm eine Heidenangst einjagte. Klar hatte er es da eilig. Er war ständig auf der Flucht, da konnte er sich nicht leisten, stehen zu bleiben. Im Grunde genommen lief er hier über Treibsand: Blieb er zu lange stehen, würde er versinken und es gab niemanden, der ihn wieder hinausziehen konnte.
Souta dachte über ihre Worte nicht allzu lange nach. Sein Gehirn wurde von Apfel und Limonade eingenommen und er verdrängte alle anderen unangenehmen Fragen, weil das Sofa bequem war und er nichts Anderes im Leben brauchte als einen weichen Platz für seinen Hintern. Das war das Geheimnis der Existenz: Grundbedürfnisse waren schon wichtig, aber wer wollte schon überleben, wenn man sich nirgendwo hinsetzen konnte, wo es kuschlig war? „Vielleicht sind alle anderen einfach zu langsam“, erwiderte er also mit einer nicht zu überhörenden Arroganz, während er sich auf dem Möbelstück justierte, teils um Kabane Platz zu machen, teils weil sein Arm nicht ganz bis zur Obstschale reichte. Sein Auge hob sich dabei und fixierte die junge Magierin mit unverhohlener Neugier. Sie bewegte sich durch den Raum und wirkte irgendwie rastlos. Das war eigenartig – Kabane war nicht nervös, oder? Nicht in seiner Gegenwart, da musste man wirklich nicht nervös werden. Soutas Blick folgte ihr bis zu der fabulös aussehenden Orgel, und er setzte sich ganz auf, als sie sich auf den dazugehörigen Hocker niederließ. Sie fragte ihn, ob er Musik mochte (hatte er nicht die meiste Zeit ihrer Quests singend verbracht?) und er gab ihr dafür ein halbes Achselzucken, blinzelte allerdings erwartungsvoll und hielt inne, als sie den ersten Ton anklingen ließ. Hm, es wäre gelogen, wenn er etwas Fröhliches erwartet hätte ... Für eine ganze Weile saß der Rothaarige einfach nur da und lauschte ihrem Spiel, das von den Wänden des Salons hallte und ihm wiedereinmal das Gefühl eines Geisterschlosses gab, eines von Gespenstern und dunklen Gestalten bewohnten Mansons – und er war der grüne Klempner, der dort gefangen war und sich mit ihnen allen herumschlagen musste. Eine Gänsehaut hatte sich über seine Arme hinweg ausgebreitet, und er stand auf, um sie abzuschütteln. Das Glas stellte er lautlos auf dem Tisch ab, dann wanderte er – ähnlich wie sie wenige Minuten zuvor – durch den Raum und schien gar nicht stehen bleiben zu wollen, selbst dann nicht, als seine Schienbeine gegen ihren Hocker stießen. Mit einem leichten Lächeln beugte er sich hinunter, gerade soweit, dass seine Brust die Oberkante ihrer Schultern streifte, und legte ihr eine Hand auf den nackten Oberarm. Unter normalen Umständen wäre diese nun durchaus weitergerutscht, aber er war nicht deshalb hier. Sein Auge ruhte auf ihren Händen, verfolgte die Bewegungen, während sich sein Kopf nur wenige Milimeter von ihrer Wange entfernt befand – das Lederband seiner Augenklappe musste daran schrammen. Er wartete eine Weile, lauschte, beobachtete, dann griff er einfach in die Tasten und drückte eine, die einen hellen, beinahe freudigen Ton erzeugte. Sie hatte nicht wirklich erwartet, dass er wie jeder normale Zuschauer war, oder? „Kind aus der Dunkelheit, treibend durch Raum und Zeit, dein Weg ist einsam“, rezitierte er mit tiefer Stimme, ehe ein Kichern durch seine Ernsthaftigkeit brach und sich seine Tonlage um zwei Oktaven zu heben schien. „Tolles Lied, aber ein bisschen nach Art der „einsamen Burglady“, findest du nicht? Kannst du mir zeigen wie man hier was Fröhliches spielt?“