Der Himmel war sternenklar und eigentlich für diese Jahreszeit sogar relativ war. Hin und wieder streichelte der kühle Wind durch die Gräser und ließ die Blätter des Waldes aufgeregt rascheln. Sylvana gefiel es, ganz im Gegenteil zu Katsu, an der frischen Luft zu übernachten. Hier fühlte sie sich frei, der Blick in die Sterne verschaffte ihr das Gefühl von grenzenloser Freiheit. Nur zu gerne erinnerte sie sich daran, wie sie etliche Male auf Raidens Rücken über den Wolken geflogen ist und die Sterne über ihrem Kopf sehen konnte. Damals, als noch kleines und naives Kind, wollte sie nach ihnen greifen – obwohl sie eigentlich genau wusste, dass sie sie nie erreichen könnte. Ein kleines Schmunzeln tanzte über ihre Lippen. Es war schon erstaunlich, was in diesen acht Jahren an der Seite Raidens aus ihr geworden war. Manchmal fragte sie sich natürlich auch, wie sich ihr Leben entwickelt hätte, wenn sie damals nicht fortgelaufen wäre. Vermutlich würde sie dann jetzt an der Seite ihres Mannes in hübschen Kleidern am Tisch sitzen und einen unscheinbaren und guten Eindruck hinterlassen. Was auch immer geschehen wäre, sie würde ihr jetziges Leben nicht damit tauschen wollen. Jetzt hatte sie Möglichkeiten, etliche Ziele, denen sie nacheifern konnte. Und einen Drachen als Vater. Welches Menschenkind konnte denn schon von sich behaupten von einem Drachen großgezogen worden zu sein? //Schau mir nur zu, Raiden. Ich werde dich stolz machen!//
Lächelnd rollte sich Sylvana kurz zur Seite, schaute zu Kabutos Schlafsack rüber. Das leichte Zittern nahmen ihre scharfen Augen natürlich sofort wahr, jedoch schenkte sie diesem Zustand keine allzu große Beachtung. Vermutlich träumte der kleine Käfermagier nur schlecht oder fror ein wenig. Natürlich könnte sie ihn da wecken oder ihn wärmen, aber zum einen wollte sie ihm weder den Schlaf rauben, noch seine Sinne mit ihrer Körperwärme rauben. Kabuto war es ja ein wenig peinlich, wenn sie ihm zu nah kam. Er war nun einmal ein wenig verschüchtert, da konnte man wenig dran rütteln. Wichtiger war es da, dass sie die Augen aufhielt. An Schlaf dachte Sylvana nicht, dafür gingen ihr erstens zu viele Dinge durch den Kopf und zweitens hatte sie sich sowieso vorgenommen Wache zu halten. Irgendjemand musste ja aufpassen. Da die Sirene immer nur nachts zu singen begonnen hatte, war es der Dragonslayerin wichtig zu sehen, ob sie jemanden ausfindig machen konnte, der sich vom Gesang verzaubern ließ. Zudem war sie auch ein wenig neugierig, wie sich dieser Gesang anhörte UND sie wollte aufpassen, dass es Kabuto nicht erwischte.

Gut eine Stunde verging ohne große Geschehnisse. Hin und wieder hörte man den Schrei eines Uhus aus dem Wald schallen oder das Rauschen der Blätter im Winde. Sylvana lag weiterhin auf dem Rücken, beobachtete aufmerksam die Sterne. Nebenbei war ihr zwischenzeitlich auch wieder das Schwert in den Kopf gekommen, sowie etliche Erinnerungen aus der Zeit mit Raiden. Daran würde sich auch garantiert nichts ändern, wenn nicht irgendwas Weltbewegendes passieren würde. Aber wie das Schicksal es nun so wollte, passierte genau in diesem Moment etwas. Dann, als sie es am wenigsten erwartet hatte, hallte der süße Gesang der Sirene durch die Luft. Ein merkwürdiger Gesang, verstand Sylvana doch kein einziges Wort. Es war… fast wie eine fremde Sprache, längst vergangen. Aber sie spürte die Macht, die von ihr ausging. Anziehend, verführend… Sie musste sicherstellen, dass Kabuto seine Kopfhörer aufsetzte. Ansonsten würde er sicherlich noch ihr verfallen.
//Was zur…// Obwohl Sylvana versuchte sich zu bewegen, war ihr Körper wie eingefroren. Sie wollte sprechen, aber ihre Stimmbänder versagten ihr den Dienst. Sie lag einfach nur da, vollkommen starr, wie gelähmt. //I-Ich kann mich nicht bewegen?!//
Verzweifelt versuchte Sylvana sich aus der Starre zu reißen, ohne großen Erfolg, wie sie jedoch nach kurzer Zeit feststellen musste. Und während sie so regungslos in ihrem Schlafsack lag, wurde der Gesang auch langsam immer lauter – zumindest für Sylvana. Die Worte dröhnten in ihren Ohren, ließen ihre Gedanken vibrieren. Ein Nebel legte sich um ihr Bewusstsein, machte es schwerer und schwerer klar zu denken. Und bevor sie überhaupt realisieren konnte, was geschah, war sie auch schon weggetreten. Ihre Augen waren glasig geworden, erschienen vollkommen leer und distanziert, während sich ihr Körper langsam von selbst bewegte. Raschelnd öffnete sie den Schlafsack, während ihre Lippen wieder und wieder dieselben Wörter formten: „Ich komme schon…“

Der Kopf Kabutos wechselte stetig zwischen vollkommener, angsterfüllter Leere und Gedanken über Sylvana: Ob sie wohl wach war oder schlief, zu ihm sah oder ihn ignorierte. Am liebsten hätte er sich kurz umgedreht um nachzusehen, doch das ging natürlich nicht so einfach. Sollte sie ihm tatsächlich ihre wertvolle Aufmerksamkeit schenken, würde sie merken, dass er nur so getan hatte, als würde er schlafen. Zwar tat er nur deswegen so, damit sie sich keine Sorgen um ihn machen musste, doch trotz allem konnte es als eine weitere Lüge ihr gegenüber aufgenommen werden... Warum nur musste er so ein schlechter Mensch sein? Aber wahrscheinlich schlief sie ohnehin, immerhin gab es ja nichts, um das sie sich Sorgen machen müsste. Sie war viel zu stark und clever, als dass irgendeine Sirene sie einlullen könnte, und er konnte doch niemals so wichtig sein, dass sie seinetwegen wach blieb... oder? Andererseits war sie immer so freundlich und kümmerte sich um ihn, da war es durchaus möglich, dass sie sich Sorgen machte, schließlich konnte er sehr wohl von dem Gesang verzehrt werden, er war nicht so widerstandsfähig wie sie. Eigentlich war er ja nur hier, um sie zu beschützen, aber wenn man so darüber nachdachte, war das einfach nur dumm gewesen, schließlich konnte er sich auf sie verlassen, sie sich aber nicht auf ihn. Er war irgendein Schwächling, der ihr höchstens im Weg stand und um den sie sich die ganze Zeit über immer wieder hatte kümmern müssen, während das einzige, was er richtig gemacht hatte, seine Entschuldigungen waren. Die Zähne des Jungen pressten sich aufeinander. Nutzlos, wie er war, müsste sich die Dragonslayerin eigentlich für ihn schämen... wie konnte sie nur Verständnis für ihn haben?
Irgendwann, ob es nun nach Stunden oder nur nach Minuten war, konnte er aus seiner neurotischen Welt heraus nicht sagen, entschied er sich, dass er doch mal nachgucken sollte, ob seine Göttin sich ausruhte – sie hatte sich schließlich etwas Ruhe verdient – oder seinetwegen immer noch besorgt wach lag. Gerade, als er sich umdrehen wollte, begann es: Durch die drückende Finsternis ertönte der hoch gelegene, sanfte Klang einer weiblichen Stimme, die fast, aber eben nur fast, so schön klang wie die von Sylvana selbst. Sofort riss er die Kopfhörer über seine Ohren, hielt sie jedoch noch ein paar Sekunden lang fest, ohne sie aufzulegen, sodass er noch ein wenig hören konnte. Es klang wirklich schön, und auch, wenn er es nicht benennen konnte, so hatte die Melodie doch einen umgarnenden, bekannten Klang an sich. Es klang wirklich wunderschön... Und schon ließ der Kyofu los. Die Muscheln fielen auf seine Ohren, und schon war er wieder gefangen in aller Stille. Eine finstere und geräuschlose Welt, in der es nichts weiter gab als Furcht, das Glühwürmchen vor seiner Nase und natürlich dem unumstößlichen, Sicherheit gebenden Wissen, dass die brünette Dragonslayerin sich noch immer ganz in seiner Nähe aufhielt, weshalb ihm nichts passieren konnte. Apropos Sylvana... sie wollte jetzt bestimmt etwas unternehmen! Und da er in diesem Zustand ihre Befehle sicher nicht hören würde, musste er sich jetzt wohl an sie wenden... also wand er sich aus seinem Schlafsack heraus und lief hinüber zu dem ihren. Und was er entdeckte war schockierend... Sie war nicht da! Was war passiert? Hatte der Gesang sie eingelullt...? Nein, das konnte nicht sein. Oh! Ich weiß es jetzt! Sylvana hat natürlich gemerkt, dass der Gesang begonnen hat, und sich entschieden, etwas deswegen zu unternehmen! Vermutlich dachte sie, ich würde schlafen, deswegen ist sie alleine losgezogen! Oh, sie ist so rücksichtsvoll... und so mutig... Ich muss an ihrer Seite bleiben! Sofort sah er sich um, erkannte gerade noch eine Silhouette, die sich langsam entfernte. Das musste sie sein! So schnell ihn seine Beine tragen konnten verfolgte sie die Figur im Dunkeln, wollte zu ihr aufholen. Ja, das war ganz eindeutig die Brünette, er würde sie überall erkennen. Sylvana!, rief er ihr in Kopfhörer-Lautstärke zu, um sie auf sich aufmerksam zu machen, doch sie reagierte überhaupt nicht. Sie wirkte nicht wie jemand, die einen Namen gehört hatte, der nicht ihrer war, sondern eher wie jemand, der gar nichts gehört hatte. Wenn in einer leisen Nacht, in der niemand sonst da war, eine laute Stimme erschallte, dann zeigte man doch zumindest eine kleine Reaktion... es sei denn... Sie kann doch nicht... die Sirene...? Diese Erkenntnis schlug kräftig ein in Kabutos Nervensystem. Er hatte es sich nicht vorstellen können, aber das war die einzig logische Erklärung. Noch im Laufen verlor er das Gleichgewicht, stolperte dann, obwohl eigentlich nichts in seinem Weg lag, und wurde so in die Luft versetzt, überschlug sich einmal in der Luft, schlug mit dem Kopf auf dem schlammigen und – Gott sei dank – nicht asphaltierten Weg auf, rollte dann noch ein bisschen, ehe er verwirrt, mit Kopfschmerzen und einem kräftigen Schwindelgefühl flach auf der Erde liegen blieb, Gesicht im ekelhaften Schlamm. Während des Fluges hatte man noch den verzweifelten Ruf nach Sylvanaaa! hören können, doch jetzt war er still...

Schon in vielen Büchern wurden Geschichten über die lebenden Toten geschrieben. Wie sie sich aus ihren eigenen Gräbern ausgruben und anschließend nach Menschenfleisch jagten. Gerade in diesem Augenblick konnte man Sylvana sicherlich mit einem Zombie verwechseln. Dies lag jedoch nicht am Gestank von verfaultem Fleisch, fehlenden oder angenagten Körperteilen oder aber leichenblasser Haut. Nur ihre Körperhaltung, sowie der leere und emotionslose Gesichtsausdruck hinterließen einen solchen Eindruck. Ihre Schritte waren langsam, aber unglaublich regelmäßig. Der linke Fuß setzte auf dem Boden auf und eine Sekunde später bewegte sich das andere Bein, um einen Schritt zu machen. Von Kabutos Rufen bekam Sylvana nichts mit. Nach Außen hin. Der Gesang mochte zwar ihr Bewusstsein ausgeschaltet haben, ihr Unterbewusstsein war aber noch vollständig in Takt. Sie war zwar nicht in der Lage ihren Körper zu lenken oder einen klaren Gedanken zu fassen, aber sie tat, was sie machen konnte: Kämpfen. Widerstand leisten und sich gegen die lähmende Umklammerung der Sirene wehren. Leider nur mit keinem Erfolg. Sie hatte bereits den Waldrand erreicht und tauchte langsam in den Schatten der Baumkronen ein.
Was wäre, wenn Raiden sie so sehen würde? Er würde garantiert wütend sein, dass sie sich so einfach überwältigen lassen hatte. Hatte sie sich überschätzt? Oder war die Magie des Gesangs einfach nur zu stark? Aber sie war besaß die Magie der alten Drachen. Etwas Reineres und Mächtigeres gab es doch nicht! So dachte Sylvana zumindest bisher. Denn so wie es aussah, war die Magie des Sirenengesang stärker…
Inzwischen war Sylvana schon etwas tiefer in den Wald gegangen. Ob Kabuto sie verfolgte? Sie konnte es nicht sagen, immerhin hörte ihr Unterbewusstsein nur den Gesang. Überall, wo sie hinsah, waren Bäume. Eichen, Buchen, Tannen und was alles für Baumarten hier wuchsen. Kurz strauchelte sie, als eine Wurzel sich ihr in den Weg stellte, jedoch fing sie sich schnell wieder und setzte eine weitere Minute ihren Weg fort. Dann, völlig untermittelt, blieb sie einfach stehen. Um sie herum, im Umkreis von gut fünf Metern, stand kein Baum. Die Erde war merkwürdig verkohlt, keine Blätter oder Gräser wuchsen dort.
„Ich bin da…“ Ihre Worte waren gehaucht, gerade laut genug, dass sie es selbst hören könnte, wenn der Sirenengesang dort nicht wäre. Ganz langsam breitete Sylvana ihre Arme zur Seite, als der Gesang ganz plötzlich verstummte und sie stattdessen zu singen begann. Ihre Stimme hallte durch den Wald, der sonst vollkommen still war. Kein Uhu, kein Rascheln der Blätter und auch kein Windstoß. Nur Sylvanas Gesang.
Plötzlich, vollkommen unvermittelt, zerzerrte sich die Luft direkt vor der Dragonslayerin. Ein Flimmern, undeutlich. Man sah nur, dass dort etwas war. Der Gesang verstummte, ein leichtes Lächeln legte sich auf Sylvanas Lippen. Dann schlossen sich ihre Augen, ihr Körper kippte nach vorne und fiel durch die flimmernde Luft – und war plötzlich verschwunden.

Der Kopf des Kyofu dröhnte, doch darauf konnte er keine Rücksicht nehmen. Er war mit der Schädeldecke gegen die Erde geschlagen? Unwichtig! Viel schlimmer war doch, dass die arme Sylvana sich dem Bann eines mystischen Wesens unterwerfen musste. Das musste wirklich schlimm sein, ganz besonders für die stolze Dragonslayerin, die mit Sicherheit – und verdienterweise – sehr überzeugt von ihrer Überlegenheit gegenüber anderer Magien war. Aber die Macht eines solchen natürlichen Wesens konnte man natürlich nicht mit erlernter Zauberei außer Kraft setzen, zumindest nicht, wenn man nicht dafür ausgebildet worden war. Sylvana war darauf eingestellt worden, Drachen töten zu können, deswegen hatte sie die Fähigkeit, sich gegen Drachen zu behaupten, was natürlich keine Immunität gegen hypnotische Klänge bot; es war einfach ein ungerechtes Spiel. Sie war das elegante, schlanke Papier, das jeden noch so schweren Stein einwickeln konnte, bloß gegen eine Schere konnte sie nicht viel ausrichten, weil die einfach ihr gegenüber einen Vorteil hatte. Das bedeutete nicht, dass die Brünette in irgendeiner Weise schwächer war als die Sirene. All das wurde dem Grünschopf innerhalb weniger Sekunden klar, die er auf dem Boden lag. Jetzt musste er sich eben für seine Göttin ins Getriebe klemmen, um die Schere stumpf zu schleifen...
Irgendwie schaffte er es, die Augen zu öffnen, rollte sich auf den Bauch und drückte sich mit beiden Armen hoch. Er setzte einen Fuß auf die Erde, dann stand er ganz auf und begann sofort wieder damit, in die Richtung zu laufen, in die Sylvana unterwegs gewesen war. Er konnte sie aber nicht mehr sehen... Dabei hatte er vor seinem Sturz doch fast schon aufgeholt! Ohne stehen zu bleiben, machte sich der Grünschopf seine Gedanken um mögliche Vorgehensweisen, aber er konnte sie einfach nicht entdecken. Kein verräterischer wackelnder Busch, kein abgebrochener Zweig, nicht einmal gut sichtbare Fußabdrücke! Moment mal!, unterbrach er seinen eigenen Gedankengang plötzlich. Nach neun Gesängen fehlen neun Personen. Das bedeutet, jedes Mal kann die Sirene sich nur eine einzige Person holen. Also bedeutet das, wenn ich den Gesang auch höre, kann er mir nichts anhaben... oder sie entscheidet, dass ich das einfachere Ziel bin, und nimmt mich statt Sylvana. Wenn nicht, kann ich zumindest versuchen, sie zu hören... Er blieb nicht stehen, wurde nicht einmal langsamer. Falls er ihr schon auf den Versen war, durfte er das nicht. So lief er weiter, während sich seine Hände auf die Hörmuscheln legten, sie ergriffen. Leicht zitternd festigte er seinen Griff, während sein Hirn weiterarbeitete: Aber was ist, wenn ich mich irre? Wenn die Sirene aus eigenen Gründen nur je eine Person entführte und ihre Fähigkeiten ihr auch zwei oder sogar mehr Hypnosen erlaubten? Es war durchaus möglich, dass er, sobald er wieder hören konnte, ebenfalls unter ihren Bann fiel, und das wäre dann das Aus für die Quest. Sylvanas Ruf wäre ruiniert, ihr Leben verloren, und er, der sie beschützen sollte, hätte alles kaputt gemacht. Das Risiko war hoch... und doch zögerte er nicht. Nicht eine Sekunde. Nachdem dieser Gedanke gedacht war, zog er die Kopfhörer sofort zu seinem Hals herunter und setzte sich dem Gesang aus. Wenn das seine einzige Chance war, um Sylvana zu retten, dann würde er alles aufs Spiel setzen.
Es war vielleicht nur pures Glück, doch alles funktionierte wie geplant. Er hatte sich entweder nicht geirrt, oder er war nicht wichtig genug, um kontrolliert zu werden. Während all die zuvor verstummten Geräusche wieder auf ihn einprasselten strauchelte er ein wenig, fing sich jedoch wieder und versuchte, das richtige herauszufiltern. Den Gesang zurückzuverfolgen versuchte er erst gar nicht, es war klar, dass das nicht ging – er klang so allgegenwärtig, als käme er von überall gleichzeitig. Da waren die Grillen, die er fürchtete, dann noch der Klang einer Eule und... Da! Schritte! Schlitternd kam der Junge zum Stehen, lauschte kurz, und schlug dann eine sehr scharfe Rechtskurve ein und beschleunigte wieder. Nicht nur war er ein ganzes Stück zu weit links gewesen, er war noch dazu zu weit gelaufen, aber wenigstens wusste er jetzt, wo er lang musste, um zu der Göttin gelangen zu können. Irgendwo hier muss es doch sein..., murmelte er, als er an der Stelle war, an der er zuletzt Schritte gehört hatte, und seine Geschwindigkeit senkte. Jetzt war kurz alles still, selbst die süße Singstimme setzte aus. Nur um einer anderen, noch viel schöneren Stimme die Bühne zu überlassen... Kabuto erkannte Sylvana sofort. Er bemerkte auch, woher es kam. So schnell er konnte erschien er hinter dem Mädchen, sah, wie sie voraus schritt, plötzlich verschwand. Was war da passiert? Wie die Umgebung aussah fiel ihm nicht auf, auch nicht das Flimmern der Luft oder sonst irgendetwas, nur, dass eins seiner Idole gerade verschwand. Das konnte er doch nicht zulassen... Er lief hinterher, verschwand ebenfalls und lag plötzlich flach auf dem Bauch, aus irgendeinem Grund plötzlich auf steinernem Erdboden. Doch auch darüber konnte er jetzt nicht nachdenken. Sofort stand er wieder auf, sah sich um, um Sylvana zu entdecken, und als er sie sah lief er sofort zu ihr, ergriff ihren Arm. Sylvana..., brachte er schwach hervor, während er Tränen unterdrückte. Hoffentlich ging es ihr wieder besser, hoffentlich hielt der Bann nicht länger an...

Schmerzt flammte in ihr auf, durchzog jede Faser ihres Körpers. Es war sicherlich nicht die schönste Begrüßung, die man erhalten konnte, wenn man sein Bewusstsein wiedererlangt hatte. Ihre Gedanken waren noch wirr, flogen wie ein Schwarm wilder Bienen, deren Bau man mit einem Stock geschlagen hatte, in ihrem Kopf umher. Und nur eine einzige Frage trat wieder und wieder in den Vordergrund: Was war geschehen? Nur schwach konnte sie sich daran erinnern, wie der Sirenengesang begonnen hatte. Die Erinnerungen danach waren alle merkwürdige trüb, verschwommen und verblasst. Egal, wie sehr die Dragonslayerin doch versuchte sich zu erinnern, es wollte einfach nicht aufklaren.
Eine weitere Woge des Schmerzens ließ sie leise aufstöhnen. Ihre Sinne begannen langsam wieder normal zu arbeiten. Sie spürte kalten Stein unter ihrem Körper und… etwas feuchtes, was auf ihre Wange tropfte. Ganz langsam schlug sie die Augen auf. Dunkelheit umgab sie und es dauerte einige Augenblicke, bis Sylvanas Augen sich an die Lichtumstände gewöhnt hatten – und sie überhaupt Kabutos Silhouette, die über ihr lag, erblickte. Auch bemerkte sie erst jetzt, dass er ihren Arm hielt.
„Ka…Kabuto?“ Die Stimme der Dragonslayerin war noch leise, ein klein wenig brüchig. Ein weiterer, kalter Tropfen fiel auf ihr Gesicht, diesmal die Stirn. Im ersten Moment vermutete sie, dass Kabuto weinte. Aber Tränen waren nicht kalt. Ihr Blick schweifte an Kabutos Gesicht vorbei und fokussierte die Tropfsteine, die über ihren Köpfen hangen. Waren sie in einer Höhle?
„W-Was…“ Ein weiteres, schmerzerfülltes Stöhnen unterbrach Sylvanas Frage, als sie sich versuchte aufzurichten. Der Schmerz kam diesmal aus ihrem Knöchel. Es war beinahe so, als würde jemand einen heißen Dolch langsam dort hineindrücken. Vermutlich hatte sie sich den Knöchel verstaucht oder, wenn sie Pech hatte, sogar gebrochen. Was in aller Welt war nur geschehen, woran sie sich nicht erinnern konnte? Wie war sie nur hierhergekommen?
Der Schmerz verebbte langsam wieder, während Sylvana mit tiefen Atemzügen auf ihrem Rücken lag und versuchte, ihren Körper zu entspannen und ihre Gedanken einigermaßen zu ordnen. Was für eine Ironie es doch war, dass ausgerechnet sie jetzt in diesem Schlamassel geraten war. Hoffentlich verlor Kabuto jetzt nicht sein Vertrauen in sie.
„Sag mal, Kabuto… Kannst du mir erzählen, was passiert ist? I-Ich kann mich an nichts mehr erinnern, was geschehen war, nachdem die Sirene angefangen hatte zu singen.“

Es dauerte ein wenig, doch Sylvana kam wieder zu Bewusstsein, und das vollständig. In dem Moment, in dem sich ihre Lider hoben und Kabuto ihren verwirrten Blick sah, war ihm klar, dass in diesen tiefen, blauen Augen nichts mehr von einem Sirenenfluch lag, das war einzig und allein die Göttin, die er so verehrte. Und sie erkannte ihn sofort! Sie schien weder zu wissen, was geschehen war, noch wo sie sich gerade befanden, aber ihr fiel augenblicklich ein, wer der magere, grünhaarige Junge war, der immer an ihrer Seite geblieben und ihr durch eine Art Loch im Universum gefolgt war, welches aus einem Wald bei Nanto in ein seltsames Höhlensystem irgendwo auf der Welt geführt hatte! Vielleicht waren sie sogar durch die Zeit gereist, man wusste ja nie, was in dieser magischen Welt so alles möglich war. Aber egal, an welchem Ort und in welcher Epoche sie sich gerade befanden, der Kyofu war unendlich glücklich wegen der Dragonslayerin, und als sie mit ihm redete und so bewies, dass sie endgültig wieder sie selbst war, konnte er sich einfach nicht mehr zurückhalten: Mit tränenden Augen schlang er seine Arme um ihren Hals und drückte sie an sich. Ich bin ja so froh, dass es dir gut geht, rief er, seine Stimme bebend. Ich habe mir solche Sorgen gemacht... D-diese miese Sirene ha-hat dich einfach so kalt erwischt, ohne dass du auch nur eine Chance gehabt hättest, dich vorzubereiten! Dich zu hypnotisieren war total unfair, sie hat sich nicht einmal gezeigt, das fiese Biest! Dann... du bist plötzlich weggegangen, aber du warst nicht mehr du selbst, du bist einfach stur dieser Stimme gefolgt, die von überall kam! Ich hab dich gerufen, aber du konntest mich nicht hören, also bin ich dir hinterher... Er stockte kurz. Jetzt kam der Teil der Geschichte, in dem er gar nicht gut dastand. Immerhin war er hingefallen und hatte sogar dieses wundervolle Geschöpf komplett aus den Augen verloren. Wenn er ihr das erzählte, würde alles, was er an gutem Eindruck hatte aufbauen können – und das war aus seiner Sicht ohnehin nicht viel – verfallen und sie würde sehen, wie lächerlich und nutzlos er doch war. Vermutlich war es besser, ihr das vorzuenthalten, aber... langsam ließ er seine Arme wieder von ihren Schultern gleiten und blickte zu Boden: I-i-ich... ich bin gestolpert... dann konnte ich dich nicht mehr sehen. T-tut mir unglaublich leid, glaub mir! Ich wollte das gar nicht! A-auf jeden Fall hab ich dich dann wiedergefunden und du hast so wunderschön gesungen, und dann bist du plötzlich einfach so in der Luft verschwunden! Ehrlich, du hast einen Schritt vor gemacht und dann warst du weg! Na-natürlich bin ich sofort hinterher, a-auch wenn ich nicht so richtig kapiert habe, was passiert ist. Und naja, dann waren wir hier... Jetzt, wo er fertig erzählt hatte, wusste er nicht so recht, wie es weitergehen sollte. Sie waren an einem Ort, über den sie nichts wussten, und in einer Situation, die ziemlich unerklärlich war, aber eindeutig gefährlich wirkte. Nicht nur weil ihre Lage unbekannt war, sondern auch, weil sich hier ja vielleicht noch irgendwo eine bösartige Sirene versteckt halten konnte. Der Gedanke tat dem Jungen so gar nicht gut, sein gesamter Körper begann leicht zu zittern und er brachte ein gequältes Lächeln auf sein Gesicht, um seine Angstreaktionen zu verschleiern, was sie natürlich nur wieder hervorhob. Und noch schlimmer war es, als Sylvana versuchte aufzustehen. Whoa!, rief Kabuto überrascht, als er bemerkte, wie schwer es ihr fiel, offensichtlich tat ihr Knöchel sehr weh. Hoffentlich war er nicht verstaucht oder gar gebrochen, das hätte so ein schönes, göttliches Wesen einfach nicht verdient! Schneller als das Auge blicken konnte stand er neben ihr, stützte sie, damit sie aufstehen konnte. Geht e-es... deinem Knöchel gut?, fragte er sehr besorgt, doch dann lächelte er. Keine Sorge, ich bin gerne deine Stütze, solange du mich brauchst. Ich würde alles tun, um dir zu helfen, Sylvana! Und schon war seine Stimmung wieder ganz oben. Er konnte ihr helfen! Er, Kabuto Kyofu, war eine Hilfe anstatt einer Last für dieses so bewundernswerte Mädchen. Nur... wo ging es jetzt lang?

Im allerersten Moment war Sylvana etwas überwältigt von der Reaktion, die ihr der kleine Käfermagier entgegenbrachte. Irgendwie war es ja schon süß, wie rührend sich Kabuto doch um sie sorgte. Auch wenn sie von einem Drachen großgezogen worden war und besondere Magie durch sie strömte, floss durch ihren Körper aus Fleisch doch auch nur gewöhnliches menschliches Blut. Sie hatte ihm weder das Leben gerettet, noch irgendetwas anderes außergewöhnliches getan, was seine Sorge im Ansatz rechtfertigte.
„Nicht so fest, du zerdrückst mich noch, Kabuto…“, flüsterte Sylvana in sein rechtes Ohr, welches sich so nah an ihren Lippen befand. Man sah es Kabuto nicht an, aber er war kein Schwächling was die körperliche Kraft anging. In ihm schlummerte viel Potenzial, mehr als er sich vielleicht in seinen kühnsten Träumen auch nur vorstellen konnte. Man musste nur etwas tun, um sie zu erwecken, ihm zu zeigen, dass er mehr konnte. Dafür war es jedoch nötig dem Käfermagier seine Ängste zu nehmen und ihm zu zeigen, dass er in Wirklichkeit viel stärker war, als er glaubte.
Aufmerksam lauschte die Dragonslayerin seinen Worten. Ihre Erinnerungen kamen, entgegen aller ihrer Erwartungen, nicht zurück, immerhin wusste sie nun aber, was geschehen war. Und sie wussten nun, was mit den Opfern der Sirene geschehen war. Der Gesang hat Kontrolle über den Geist der Menschen ergriffen und sie in den Wald geführt, wo sie dann möglicherweise genauso verschwunden sind, wie Kabuto es beschrieben hatte. Unfreiwillig waren sie auf die richtige Spur gekommen…
„Mo-Moment… W-Was hast du da gerade gesagt?“ Erst jetzt realisierte Sylvana die Bemerkung Kabutos. „I-Ich soll wunderschön gesungen haben? B-bist du dir auch g-ganz sicher, dass es nicht die Sirene war?“ Ein leichter Rotschimmer hatte sich auf die Wangen der Dragonslayerin gelegt. Gut, dass man in der Dunkelheit dies nicht wirklich wahrnehmen konnte. Aber warum reagierte sie auf einmal so nervös, beinahe schüchtern auf diese Bemerkung Kabutos? //Das liegt garantiert daran, dass ich noch nicht völlig bei mir bin… Ja, so muss es sein!// Ob es stimmte oder nicht konnte und wollte Sylvana nicht herausfinden, denn als sie wieder versuchte aufzustehen, meldete sich erneut der Schmerz tief in ihrem Knöchel. Kurz schrie sie schmerzvoll auf, ehe sie fest die Zähne aufeinander biss. Ihr Schrei hallte noch einige Augenblicke von den Steinwänden hin und her. Womit hatte sie das nur verdient? Der Tag hatte noch so schön mit diesem Gewitter angefangen und nun? Hatte es die wohl schlechtmöglichste aller Wendungen genommen.
„Vielen Dank, Kabuto…“ Ihre Stimme war leise, man hörte deutlich heraus, dass sie Schmerzen hatte. Und schon jetzt wusste Sylvana, dass es schwer werden würde, einen Weg nach draußen zu finden. Denn immerhin wusste sie nun, dass sie sich in irgendeiner Höhle befinden mussten. Über ihren Köpfen hingen spitze Tropfsteine, die einen sicherlich mit Leichtigkeit durchbohren könnten, wenn sie herabfallen sollten.
„Aber sag mir doch bitte… Denkst du, dass du in der Lage wärst, uns mit seinen Käfern ein wenig zu helfen? Ein wenig Licht und eine Möglichkeit die Umgebung zu erkunden wären nicht schlecht.“

[OC: Du hast ne PN mit Infos]

Es war nicht gut, dass es Sylvanas Knöchel erwischt hatte, natürlich nicht. Andererseits war es aber ziemlich großes Glück, dass sie ansonsten völlig unversehrt war. Und viel wichtiger war die Tatsache, dass sie wieder sie selbst war! Der Grünschopf war sehr glücklich darüber, aber dennoch konnte er diese Stimme in seinem Kopf nicht abstellen, und auch nicht die Bilder, die sich vor seinem inneren Auge wieder ausbreiteten; wie sie unter Hypnose das Lager verließ, wie sie durch den Dimensionsspalt fiel, wie sie mit schmerzverzerrtem Gesicht entdeckte, dass etwas mit ihrem Knöchel nicht stimmte. Du bist Schuld daran, hörte er wieder und wieder. Du hättest sie beschützen müssen, und doch ist ihr all das passiert. Du hast sie im Stich gelassen, und das weißt du genau! Du bist ihre Nähe nicht einmal wert, du Abschaum! Zwar ließ der Kyofu sich davon nichts anmerken, aber das war genau das, von dem er im Moment überzeugt war. Es war alles allein seine Schuld, auch wenn sie es ihm nicht übel zu nehmen schien – er tat es. Sie war einfach zu gut für diese Welt.
Na klar warst du das, Sylvana! Deine Stimme ist etwas Besonderes, die würde ich unter tausenden erkennen!, antwortete er auf die Frage bezüglich ihres Gesangs, wobei sich seine Wangen leicht röteten. Aber nicht, weil ihm das peinlich gewesen wäre, sondern weil er erkannte, wie geschmeichelt sich seine Göttin von seinen Worten fühlte. Das war das erste Mal, dass sie gestottert hatte, normalerweise sprach sie immer sehr entschlossen und klar. Neben wunderschön, liebenswert und intelligent konnte sie also auch noch niedlich sein! Was für ein schönes Gefühl...
Und die Glückssträhne für den Jungen ging weiter. Die nächste Aufgabe war wie für ihn gemacht: Sie brauchten Licht, um sich zu orientieren. Mit einem Lächeln nickte er Sylvana zu und streckte eine Hand nach vorne, worauf auf dem Arm zehn blaue Lichter zu glühen begannen. Fireflies!, rief er leise, und schon verschwanden die Lichter und ließen kleine Käfer zurück, die wenige Sekunden darauf selbst zu leuchten begannen, aber nicht matt wie das Beschwörungslicht, sondern hell und gelb, sodass die Höhle gut beleuchtet wurde. Dann ordnete er die Tiere so an, dass sie in einem Kreis um die beiden herum flogen, mit einem Abstand von etwas mehr als vier Metern, sodass sie weit nach vorne, hinten und zur Seite sehen konnten. Die Decke wurde nun sichtbar, die linke Wand war zu erahnen, die rechte in ihrer Nähe deutlich erkennbar. Es war ein wenig überraschend, zu erkennen, dass diese Höhle hier wohl mal eine Miene gewesen war: An beiden Wänden befanden sich typische Stützbalken, ein paar Schienen, das seine besten Tage offensichtlich lang hinter sich hatte, zog sich durch die Mitte. Nicht weit über Sylvana hing eine Vorrichtung an der Seite, in die man, wie Kabuto nach kurzem Überlegen erkannte, wohl eine Fackel stecken konnte. Es war alles sehr interessant, aber beide wussten, dass sie langsam weiterzugehen hatten.
Die Frage, die sich stellte, war, ob sie nun nach Norden oder nach Süden gehen wollten. Oder nach Osten oder Westen, je nachdem, in welche Richtung diese Miene ging. Die Dragonslayerin traf die Entscheidung, welchen Weg sie nehmen sollten, und er stützte sie beim Gehen, genoss ihren Arm über seiner Schulter und wie er seine Hand um ihre Hüfte legen musste. Es war immer ein bisschen beunruhigend, wenn ein großer Felsen im Weg stand, hinter dem sich etwas verstecken könnte, oder wenn sie an einer Spitzhacke vorbei kamen, die in der Erde steckte, aber er sagte nichts, wollte nicht so ängstlich wirken, wie er war. Vermutlich spürte sie dennoch sein leichtes Zittern, so nah, wie sie sich gerade waren... Der Gedanke beunruhigte ihn nur umso mehr, als sie am nächsten Stein vorbeikamen. Und als nun plötzlich eine Ratte hervor schoss und vor dem eingeschüchterten, angespannten Jungen vorbei rannte, zuckte er überrascht zusammen, entließ einen spitzen Schrei, für den er sich schon kurz danach so sehr schämte, dass seine Wangen in leuchtendem Rot erstrahlten. Lange Zeit blieb ihm aber nicht, um peinlich berührt zu sein, denn schon hörten beide eine helle Stimme: „Ist da jemand? Hallo?“ W-wer ist das?, antwortete Kabuto, obwohl es mehr eine Frage an seine Partnerin war. Sylvana... d-da ist jemand! Die Stimme war leise und entfernt gewesen, doch als sie näher herangingen, konnten sie nicht mehr sagen, woher sie gekommen war, denn... plötzlich wurde die breite Höhle zu zwei weniger breiten. Der Weg teilte sich... was sollten sie denn jetzt tun? Ä-ähm... w-wenn sie uns hören, folgen sie meiner Stimme... bitte!, wollte Kabuto rufen, doch seine Stimme war nicht ganz so laut wie erhofft... Das sollte wohl besser die Dragonslayerin erledigen.

Sie waren nicht alleine hier unten. Im ersten Augenblick wusste Sylvana nicht, ob sie diese Erkenntnis als positiv oder negativ werten sollte. Erst nach einer kurzen Zeit des Überlegens kam ihr sofort der Gedanke, dass es sich bei der Stimme um eine der verschwundenen Personen aus Nanto handeln konnte. Es lag zumindest nahe, dass die anderen Personen genauso wie sie hier unten gelandet waren.
„Kabuto, könntest du noch mal ein paar Käfer in die einzelnen Gänge schicken? Vielleicht können wir so einen Weg weisen.“ Ohne lange warten zu müssen erschienen zehn weitere Glühwürmchen, die daraufhin zu jeweils fünf Exemplaren in die zwei Gänge flogen und in größeren Abständen selbigen erhellten.
„Wenn sie ein Licht sehen sollten, dann gehen sie ihm entgegen“, rief die Dragonslayerin, ehe ihr noch etwas einfiel. „Sie rennen nicht in ihren Tod, keine Sorge. Es handelt sich dabei um kleine Glühwürmchen, die ihnen den Weg zeigen sollen!“
Während sie nun darauf warteten, dass die Person, deren Stimme sie gehört hatte, auf sie zukam, lehnte sich Sylvana an die Wand aus Stein und ließ sich langsam an ihr herabgleiten, um ihr Bein dann auszustrecken. Schon jetzt war sie leicht genervt, dass sie sich nicht selbst bewegen konnte. Es musste doch irgendeinen Weg geben, durch welchen sie wieder eigenständig ohne Schmerzen gehen konnte. Sie hatte natürlich schon kurzzeitig den Gedanken gehabt, ihren Fuß mit ihrer Magie zu betäuben, doch im selben Moment fiel ihr natürlich wieder ein, dass sie gegen ihre eigene Magie völlig immun war. Es würde sie nicht einmal kitzeln. Immerhin war sie in der Lage sich von einem Blitz treffen zu lassen ohne Schaden zu nehmen. Und irgendwelche Schmerzmittel hatte die Dragonslayerin nicht eingepackt.
„Hallo?“ Da war sie wieder, die Stimme. Diesmal konnte man sie deutlich und ein wenig lauter wahrnehmen. Sie musste also nähergekommen sein.
„Wir können sie deutlich hören. Scheinbar kommen sie uns langsam näher!“
Gut eine Minute verging, ehe einzelne Schritte ihnen entgegenhallten. Sie kamen aus dem rechten Tunnel und wurden mit jedem weiteren Schritt immer lauter, bis man schließlich die Silhouette einer Frau in der Ferne erkennen konnte. Eine weitere Minute verging und die Frau war bei ihnen angekommen. Sie war relativ zierlich, ihre Haut war sehr blass, die fast schon blutroten Haare waren zu einem Zopf geflochten, der über ihrer Schulter herabhing. Ein paar Sommersprossen waren um ihre Nase herum verstreut. Sylvana kannte dieses Gesicht, hatte sie es im Laufe des Tages doch einmal auf einem Foto gesehen.
„Du bist Gwyneth, richtig? Die Tochter von Arawn, des Schmieds.“
Man sah deutlich das Erstaunen in dem Gesicht der jungen Frau, als Sylvana ihren Namen ausgesprochen hatte, aber schnell fasste sie sich wieder und nickte einmal.
„Ja, die bin ich. Und euch hat der Zauber der Sirene anscheinend auch erwischt.“ Seufzend schüttelte Gwyneth den Kopf. „Wisst ihr, vor euch bin ich schon auf drei weitere aus unserem Dorf gestoßen, aber… Inzwischen sind es nur noch zwei. Nantopa und Farwen. Megan ist uns verloren gegangen.“

Die neuen Forderungen Sylvanas brachten den Käfermagier etwas ins Schwitzen. Er konnte nur eine begrenzte Menge an Käfern kontrollieren, und er konnte sie auch nicht unendlich weit von sich entfernen, aber selbstverständlich konnte er ihr das nicht sagen. Glücklicherweise hatte er aber auch viel Erfahrung mit der Anwendung seiner Zauber gesammelt, sodass sich gewisse Routinen eingearbeitet hatten. Momentan kontrollierte er streng genommen gar keins seiner Geschöpfe, die zehn, die um ihn herum schwebten, befanden sich gerade in einem Freiraum, den er grundsätzlich schuf. Einige Zentimeter um die Stellen, an denen er die Tiere halten wollte, entließ er die Kontrolle und fokussierte sich in der umliegenden Luft darauf, einfach alles wieder herein zu drücken, was heraus wollte. So bemerkten sie relativ schnell, dass sie nur wenig Platz hatten, auch wenn sie die Wände, die sie gefangen hielten, wie in einer Glaskugel nicht sahen. Und umso stärker sie das realisierten, umso seltener versuchten sie, gegen die unsichtbare Barriere anzugehen, bis sie sich irgendwann eingependelt hatten an dem Punkt, an dem der Kyofu sie haben wollte. Nicht gerade Käferkontrolle für Anfänger, aber eine sehr hilfreiche Technik, wenn man weitere Objekte zu steuern hatte.
Nun ging es darum, zwei leuchtende Wege aus zehn weiteren Käfern zu schaffen. Schritt eins dazu war es, erst einmal so nah an die sich trennenden Gänge zu treten wie möglich, um die eigene Reichweite zu maximieren. Dann wartete man kurz, damit sich die bereits beschworenen Glühwürmchen einpendelten, und entließ die Kontrolle über sie, beschwor zehn neue Exemplare, von denen man dann fünf in jeden Gang schickte. Und so steckte er die verschiedenen Entfernungen ab; drei Meter, fünf Meter, sieben Meter, neuneinhalb Meter und die beiden letzten stieß er einfach immer, wenn sie in seinen Radius von zehn Metern tauchten, wieder ab, sodass sie immer wieder zwischen neuneinhalb und elf Metern hin und her trudelten, als sei das beabsichtigt, um möglichst viel Aufmerksamkeit erregen zu können. I-in Ordnung, Sylvana, signalisierte Kabuto der Dragonslayerin, als er fertig war. Das sollte reichen.
Die brünette Magierin konnte toll reden, fiel dem Grünschopf auf. Die Art, wie sie mit der fremden Stimme kommunizierte und ihr erklärte, wie sie zu ihnen finden konnte und was es mit den Glühwürmchen auf sich hatte, war einfach hinreißend. Kein Wunder, dass die Fremde ohne große Angst oder Zurückhaltung auf sie zu kam, dem Licht folgte, bis ihre Stimme wirklich verständlich wurde und Sylvana sie etwas weiter ermutigen konnte. Und schon bald erschien der helle Körper, der im leicht grünlichen Licht der Käfer sanft schimmerte wie das Spiegelbild des Mondes auf einer Wasserfläche. Die Fremde war eine hübsche Frau, das merkte Kabuto schnell – auch wenn sie nicht im Ansatz mit Sylvana mithalten konnte. Woher die beiden sich kannten, das wusste er nicht, aber offensichtlich taten sie es, denn die Dragonslayerin erkannte sie schon auf den ersten Blick und wusste den Namen der mysteriösen Fremden. Diese erzählte, dass sie bereits auf Nantopa und Farwen getroffen war und Megan, wobei letztere... Moment mal! N-Nantopa? S-sie wissen, wo Nanpa ist? Geht es ihr gut? Ist sie verletzt? Wo ist sie? Nantopa! Das war die Schwester dieses seltsamen, traurigen Kerls, der den Technikwarenladen führte! Der mit der Atari Portable und den unglaublichen Kopfhörern! Und jetzt hatte Kabuto tatsächlich seinen ersten Hinweis auf sie gefunden! Da war es kein Wunder, dass er unglaublich aufgeregt war, und das konnte er nun einmal nicht verbergen, platzte heraus mit seinen Fragen, ohne auf Antworten zu warten. Kaum wurde ihm das klar, verstummte er plötzlich und errötete, schob Sylvanas Arm ein bisschen nach oben, um sie besser stützen zu können, und scharrte mit einem Fuß auf dem Boden. Trotzdem – oder gerade deswegen – bildete sich ein Blick der Irritation auf dem Gesicht dieser Gwyneth, den sie langsam abschüttelte und dann nickte. „Ja, Nantopa wartet hinten in unserem Lager, es geht ihr gut. Kommt mit, ich führe euch hin... in Zeiten wie diesen müssen wir zusammenhalten, nicht wahr?“ Ein kurzes Lächeln huschte über ihre Lippen und vermittelte ein Gefühl von Sicherheit, das gerade Kabuto wirklich gut gebrauchen konnte. Langsam setzten er und Sylvana sich in Bewegung, um ihr zu folgen...

Das Lager der drei... Entführten? Hypnotiesierten? Entlaufenen? Jedenfalls war das Lager der drei Frauen klein und dürftig, man sah deutlich, dass sie einfach das Beste aus ihrer Situation gemacht hatten. Es gab einen kleinen Steinkreis, in dem verkohlte Holzspäne lagen, die man offenbar von den Stützbalken abgeschabt hatte. Auch eine Spitzhacke war in erreichbarer Nähe in den Boden gesteckt worden, wohl um sich im Notfall selbst verteidigen zu können. Gemütlich wirkte es aber nicht, und der Geruch, der von der Feuerstelle aufstieg, ließ darauf schließen, dass hier unten keine Gourmetnahrung verspeist wurde. Zuerst einmal kam die Person auf sie zu, die ihnen schnell als Farwen, die Heilerin vorgestellt wurde. Im ersten Moment wirkte sie skeptisch, doch nach einigen Worten von Gwyneth entspannte sie sich und bot an, sich einmal Sylvanas Knöchel anzusehen. Auf die Frage, wo sich Nantopa befand, wurde Kabuto auf eine Ecke verwiesen, und tatsächlich: Dort saß, zusammengekauert hinter einem Felsen, eine junge Frau. Ihre Knie waren angewinkelt, sodass ihr langes, blondes Haar darüber fiel, während ihre Hände mit der leicht gebräunten Haut damit beschäftigt waren, mit blitzschnellen Bewegung eine sehr unordentliche Schrift auf den kleinen Notizblock zu setzen, den sie hielt. N-Nantopa...?, murmelte Kabuto leise und näherte sich ihr, stupste sie sanft an. Plötzlich hielten ihre Hände an und ihr Kopf drehte sich zur Seite, sie starrte den Jungen an aus tief in den Höhlen liegenden, blutunterlaufenen Augen; sie hatte offensichtlich länger nicht geschlafen. „Ja, das bin ich. Wer bist du? Und was willst du von mir?“ Ich... I-Ich bin Kabuto Kyofu, Magier von Fairy Tail. Ich bin gekommen, um die Geschichte hinter der Sirene zu untersuchen... und ihr Bruder hat mich darum gebeten, sie zu finden, er macht sich nämlich große Sorgen. Ähm... h-hier! Die hat er mir mitgegeben! Schnell zog er die Kopfhörer von seinem Hals und hielt sie Nanpa hin, die sie kurz begutachtete und nickte; ja, die würde ihr Bruder verkaufen. Dann wandte sie sich wieder an den Block und kritzelte weiter ihre unleserliche Handschrift darauf. Nur der Kyofu stand jetzt etwas unsicher in der Gegend herum... Was wollte sie denn damit sagen?