Vom Regen in die Traufe… Ren war nach Hosenka gereist, weil er eine kleine Botschaft im Namen der Gilde überbringen sollte. Nichts Großartiges und auch nicht wirklich relevant… Nun war er hier und wollte wieder abreisen, um sich zurück auf den Weg nach Oshibana zu begeben. Allerdings war es später geworden, als der Hüne es eingeplant hatte. Mit schnellem Schritt war er zurück zum Bahnhof gegangen, hatte die Fahrpläne gecheckt und sich mehrfach informiert… Er hatte sich sogar extra auf jeden Gleis begeben und jeden Schaffner gefragt… Aber nein. Kein Erfolg. Es fuhr kein Zug zurück nach Oshibana. Nicht heute… Was machte er nun? Für den Hünen wäre es sicher kein Problem in den Wartebereichen an den Gleisen zu schlafen, aber das war nicht wirklich etwas, was er so sehr genoss. So spät war es auch noch gar nicht… Noch nicht einmal so richtig dunkel, aber das reichte eben schon aus. Ren hatte ja gedacht, dass Hosenka eine Großstadt mit viel Tourismus war. Das war sogar so, aber Züge schienen hier trotzdem nur in sehr speziellen Abständen zu fahre. Wie dem auch sei… Er lief gerade ein wenig planlos durch den Bahnhof und hatte gerade beschlossen, dass er sich von seinem Geld eine Kleinigkeit zu Essen besorgen könnte. Daher bewegte er sich in Richtung einer Bäckerei, die sich in unmittelbarer Nähe befand. Ren hatte sich schon des Öfteren in Hosenka aufgehalten und kannte sich hier langsam aus. Als er jedoch vor dem Geschäft ankam, zog dieser seine Rollläden herunter. Zornig und angespannt stand Ren vor der Tür, als die Verkäuferin mit einem mitleidigen Lächeln das Wort „Entschuldigung“ formte. Das war wirklich zu viel… So etwas war das Geld wirklich nicht wert… Wann hatte er sich das letzte Mal so aufgeregt? Der Hüne stampfte mit dem Fuß auf den Steinboden, wobei er sich sogar krampfhaft zurückhalten musste, um nicht die Pflastersteine zu zertrümmern… So ein Pech… Womit hatte er das verdient? Sein Magen knurrte und er blickte sich um. Während sich gerade die Laternen rund herum einschalteten, erspähte er eine Reihe voller Automaten… Ein Snackautomat! Na immerhin etwas gegen das penetrante Knurren.
Als er jedoch vor diesem stoppte und die Angebote durchging, hatte er ein komisches Gefühl. Was war das? Wo kam das her? Er steckte das Geld in den Schlitz und wartete ab, dass dieses widerwertige, eingeschweißte Fertigessen mit lautem Poltern aus dem Automat fiel. Nachdem er sich bückte um es herauszuholen, blickte er schräg neben sich, einige Automaten weiter und erkannte dort eine junge Dame, die völlig regungslos vor dem Gerät stand. Sie wirkte wie erstarrt, blickte stur, in komischer Pose und zitternd auf etwas… Ren nahm sein Essen heraus. Es wurde dunkel… Sie sollte vielleicht aufhören den Getränkeautomaten anzubeten, oder nicht?
Die großen Füße brauchten nur wenige Schritte, bis die beiden nur noch ein unmittelbares Stück trennte. „Yo! Kann man dir helfen?“, fragte er also völlig entspannt und blickte das junge Fräulein an. Im Vergleich zu ihm hatte sie Zwergengröße, war kindlich und noch deutlich merkwürdiger. Ja, es gab jemanden, neben dem sogar Ren irgendwie normal aussah. Sie war ein wenig komisch, aber sie hatte es geschafft ihn von seiner Wut abzulenken. Der Hüne hasste Kinder, aber in letzter Zeit hatte er gelernt, dass manchmal ein anderer Kern hinter jeder Schale stecken konnte. Ob sie vielleicht kein Geld hatte? Ein bisschen was konnte er vielleicht abdrücken… Er war nicht verschwenderisch, aber er konnte es auch nicht wirklich leiden, wenn jemand hungern musste. Das Gefühl kannte er zu gut. „Brauchst du vielleicht… Geld?“ So schwer ihm diese Frage auch über die Lippen ging, aber das hier war wirklich grenzwertig, okay? Natürlich war er absolut egozentrisch und stur, aber er hatte ja sowieso nichts Besseres zu tun hier! Vielleicht gab es ja noch eine andere Person, die gerade so arm dran war in diesem Dreckloch, aus dem er nicht herauskam. Was sie ihm wohl antworten würde? Oder eher wie?

Der schwarzhaarige Kopf drehte sich zu der tiefen Stimme um, die sie angesprochen hatte. Sie gehörte zu einem Riesen mit blauen, langen Haaren und leicht abgewetzter Kleidung, der von der Seite auf sie zugekommen war und sie nun um multiple Köpfe überragte. Leicht verträumt blickte sie ihn an und schüttelte den Kopf. Langsam griff sie nach ihrer Tasche und öffnete sie, griff hinein und zog ein kleines Säckchen hervor, das sie auf zog und dem Mann einen kleinen Vorrat Jewel entgegen hielt. Madeleine hatte Geld, denn immerhin kam sie gerade aus Oak Town, aus dem Kloster, in dem sie aufgewachsen war und der Kult verfügte über durchaus großzügige finanzielle Mittel, auch wenn sie nicht wusste woher. Es war aber auch nicht ihre Aufgabe, darüber nachzudenken, also schüttelte sie erneut den Kopf und schwenkte den Arm vor, ausgestreckt wie einen toten Ast. Der ausgesprochen dünne Zeigefinger wies eindeutig auf die Flasche Limonade, die auch schon zuvor ihr Begehr gewesen war. Danach legte sie die Finger auf die Lippen und blickte den Riesen an. Sie hatte Durst und da war etwas zu trinken, sollte es aussagen, aber die logische Verknüpfung davon stand eben nicht in ihrer Macht. *Du stellst dich nicht unbedingt klug an, weißt du das?*, meldete sich eine Stimme in ihrem Kopf, die sich anhörte, als würde der Sprecher gleichzeitig die Augen verdrehen, *Fremden Geld zu zeigen, kann dazu führen, dass sie dich ausrauben.* *Oh...* *Falls er das tut, verteidigst du dich.* *Okay.* Kein Wort zu der Limonade, offenbar wollte Olphard abwarten, was der Riese nun tat und wer wäre Madeleine, ihm zu widersprechen? Madeleine machte ein paar Schritte vor und berührte die Scheibe, hinter der die Flasche stand. Sie kam gerade so heran, ohne sich auf die Zehenspitzen stellen zu müssen und wandte sich wieder zu Ren um. Ob dieser wohl darauf kommen würde, was sie von ihm wollte oder fühlte er sich jetzt schon überfordert? Die junge Dame hatte ihren Mund nicht einmal geöffnet, kein Wort hatte ihre Lippen verlassen und doch versuchte sie mit Ren zu kommunizieren. Das entsprach nicht unbedingt gesellschaftlichen Normen, aber andere Vierzehnjährige saßen auch schon längst zu Zuhause oder taten andere, unterhaltsamere Dinge als das hier.
Morgen wollte sie einmal versuchen, sich in Lamia Scale an eine Quest zu wagen, was sicherlich eine neue Erfahrung sein würde. Wenn sie ehrlich war, so verspürte sie ein wenig Aufregung, wie ein halb sterbender Schmetterling in ihrem Bauch. Wenn das allerdings so lief, wie diese Limonadensuche, so würde es wohl eine Unmöglichkeit werden, den Auftrag des Hohepriesters auszuführen. Warum genau schickte man aber auch ein kleines, unselbstständiges Mädchen statt jemandem, der eine solche Sache im Griff hatte... all das waren Entscheidungen, die sie nicht getroffen hatte und über die sie auch nicht nachdachte. Es war, wie es war, da war eine Flasche und sie hatte Durst. Klar soweit?

Ren war noch nie ein guter Kerl gewesen. Er war kein Samariter oder Held, sondern immer eher der Bösewicht und derjenige, den die frommen Menschen fürchteten. Doch nachts sind alle Katzen grau, nicht? Er hatte vor diesem Automaten gestanden und dieses Mädchen gesehen… Dann hatte er ich einfach gedacht, dass er etwas tun sollte, bevor sie sich hier noch ewig aufhielt und es gefährlicher wurde. Sie wirkte jung, noch deutlich jünger als Naomi und irgendwie weltfremd, wenn sie diesen Automaten so anstarrte. Ren interessierte sich normalerweise nicht für die Belange anderer Menschen, aber das kleine Ding hier konnte er nicht stehen lassen. Das war sicher Naomis Schuld! Er war teilweise viel zu weich geworden…
Tatsächlich war er sogar bereit gewesen etwas von seinem hart erknauserten Geld zu opfern, damit das Kind endlich nach Hause ging. Er hatte sie also gefragt, ob sie irgendetwas brauchte und ihre Reaktion war ziemlich einzigartig. Sie wirkte ein wenig, als wäre sie in Trance gewesen und schüttelte, auf seine Frage hin, den Kopf. Was machte sie dann hier? Sie griff in ihre Tasche und im ersten Moment hatte Ren ein wenig Sorge, dass sie eine Waffe hervorzog. Immerhin war das eine sehr spezielle Reaktion… Allerdings holte sie ein Säckchen mit Jewel heraus, die sie ihm unter die Nase hielt. Wieso zeigte sie ihm das? Eine Augenbraue des Mannes wanderte ein Stück nach oben, blickte in das Säckchen und in wieder in das Gesicht des Mädchens. Wieso sagte sie das nicht einfach? Der dünne Arm der jungen Frau reckte sich und deutete vor sich auf den Automaten. Bei einem genaueren Blick dorthin konnten die silberfarbenen Augen des Hünen erkennen, dass sie auf ein bestimmtes Produkt deutete. Dann zog sie den Arm wieder an und deutete auf ihre Lippen. Sie versuchte sich ganz eindeutig mittels ihrer Gestik mit ihm zu verständigen… Deshalb hatte sie nicht gesprochen! Sie konnte es nicht! Das machte natürlich Sinn… Aber was war ihr Problem mit dem Automaten? Sie hatte Geld und wusste offenbar was sie wollte. Wenn er es genau deutete, dann hatte sie vermutlich Durst oder Appetit auf diese Flasche Limonade. Was hinderte sie also? Sie trat noch einen Schritt heran, legte offenbar begierig die Hände an die Scheibe und ging sogar auf die Zehenspitzen, um sie genau zu betrachten. Dass sie sich nicht wie eine normale Vierzehnjährige verhielt, merkte sogar der ebenfalls weltfremde Ren. Im Gegensatz zu ihr war er jedoch schon ein Weilchen länger hier und hatte dazu gelernt. Dass sie also nicht auf die Straße gehörte um die Uhrzeit, kümmerte ihn gerade wenig. Wenn sie wirklich nicht wusste wie der Automat funktionierte… Er konnte nicht anders, als sich daran zu erinnern, wie er in seinen ersten Tagen hier versucht hatte Leuten Geld zu stehlen… Dafür wurde er mehrfach verhaftet und man ließ ihn wieder frei, weil es kein Vorsatz gewesen war. Ren wusste einfach nicht wie man sich Geld verdiente und das ging aus seinen Erzählungen immer deutlich hervor… Man war oft gnädig mit ihm und erklärte ihm einiges… So kam er erst in dieser Welt zurecht. „Du weißt nicht wie das funktioniert, hm?“, sagte er und deutete auf die Limonade. „Hören kannst du mich aber, oder?“ Ja doch, da war er sich ziemlich sicher. Er lief zu dem Automaten und kramte ein paar Jewel hervor. „Es ist ganz einfach. Siehst du die Zahlen vor den Flaschen? Du steckst das Geld rein, drückst auf den Knopf und dann fällt es von allein heraus.“ Ohne auf eine Reaktion von ihr zu warten, steckte er etwas Geld herein, drückte auf die Zahl der Limonade und mit einem lauten Poltern landete sie unten in der Ablage. „Du kannst sie haben. Spar dir dein Geld. Du wirst es bestimmt noch brauchen.“ Wenn es ihr wirklich ging wie ihm, dann war er dazu in der Lage erstaunlich viel Empathie für diese Situation zu haben. Deshalb bot er ihr auch die Limonade als Geschenk an… Manchmal war er eben doch ein guter Kerl, aber das würde er niemals zugeben.

Mit großen Augen nahm Madeleine die Flasche Limonade, die man ihr hingehalten hatte und blickte sie kurz an, ehe sie das Säckchen Jewel wieder in ihre Tasche steckte. Der Mann hatte gesagt, sie solle sich ihr Geld lieber für etwas anderes aufsparen, also würde sie das auch tun. Dennoch fühlte sie sich ein wenig schlecht dabei, dass er ihr gerade eine Limonade geschenkt hatte, obwohl sie sich gar nicht kannten und sie sehr wohl gewusst hatte, wie man einen solchen Automaten verwendete. Das Seltsame an ihrer Situation war nämlich nicht gewesen, dass sie nicht mit den technischen Gegebenheiten solcher Maschinen vertraut war, sondern eher, dass ihr niemand gesagt hatte, dass sie sich nun in diesem Moment eine Limonade leisten durfte oder sollte. Madeleine brauchte Anweisungen, um zu handeln, ganz ohne war sie ziemlich aufgeschmissen. Sie blinzelte erneut und kramte wieder in ihrer Tasche herum, aus der sie einen Block zog, auf dem sie eine leere Seite aufschlug und schließlich mit einem ebenso zu Tage geförderten Kugelschreiber die Worte Danke sehr. schrieb. Madeleines Handschrift war ebenso wenig kindlich, wie sie aussah, sondern geschwungen und genauso altmodisch wie die Rüschen ihres Kleides. Erneut setzte sie an und ergänzte die Nachricht um die Zeilen: Ich weiß, wie man einen Getränkeautomaten bedient, aber mir hat niemand gesagt, dass ich mir eine Flasche kaufen soll. Möchtest du deine Limonade zurück haben? Sie blickte Ren an und streckte ihm die Flasche entgegen, sodass er sie sich nehmen konnte, wenn er wollte. Das hier hatte etwas mit Fairness zu tun, das spürte sie ganz tief in sich drin, also musste sie die Fakten einfach erläutern. Es würde sicherlich niemanden wundern, wenn Ren nun befremdet wäre, immerhin passten die Worte auf dem Zettel ganz sicher nicht zu ihrem sonstigen Verhalten. Noch seltsamer wurde die Szenerie, als das schwarzhaarige Mädchen kurz stockte, die Stirn runzelte, nickte und danach einen erneuten Satz schrieb, der ihre geistige Gesundheit eindeutig in Frage stellte. Olphard möchte wissen, wie du heißt. Mein Name ist Madeleine. Tatsächlich hatte Madeleine nämlich gerade in diesem Moment die bekannte Stimme in ihrem Kopf gehört, die sie dafür schalt, dass sie das Getränk dieses Mannes annahm, ohne ihn wenigstens nach seinem Namen zu fragen. Sie selbst dachte sich dabei nichts, aber wahrscheinlich hatte Olphard durchaus einen Grund, ihn wissen zu wollen. Da sie ihn für den Gott des Schicksals hielt, wollte er vielleicht herausfinden, was dem Langhaarigen noch so blühen würde, aber das waren Dinge, die sich weit jenseits ihrer Ebene befanden. Sie war nur sein Sprechrohr, seine Stimme - aber es war sehr unwahrscheinlich, dass Ren diese jemals hören würde, wenn er nicht rein zufällig an alten Kulten interessiert war, die die Welt beinahe vergessen hatte.

Das sehr winzige Mädchen, das Ren gerade gegenüber stand, sah die Flasche in seinen Händen an, als hielte er den heiligen Gral darin. Irgendwie fragte Ren sich, was an einer Flasche Limonade so besonders war, dass man sich lange Zeit vor sie stellte und anstarrte. Vielleicht durfte sie zu Hause keine Limonade trinken und nutzte den Ausgang dafür aus? Sie war ziemlich klein, wobei sie gerade neben dem Akuma noch umso zwergenhafter erschien, doch dieser interessierte sich seit geraumer Zeit nicht mehr großartig für die Größe von Menschen. Er hatte gelernt, dass auch in kleinen oder zierlichen Wesen ein starker Charakter stecken konnte. Nicht jedem war seine Fähigkeit so auf die Stirn geschrieben wie dem Hünen. Einen erstaunlich langen Moment blinzelte das Mädchen Ren an und dieser geriet langsam in Verlegenheit, weil er nicht wusste, wie man mit einer solchen Situation am besten umging. Er tat einfach gar nichts und wartete ab… Dumm grinsen, wäre wohl auch nicht weniger unangebracht gewesen als jede andere Möglichkeit, die ihm gerade durch den Kopf ging…
Dann beobachtete er jedoch gespannt, wie sich das Mädchen in Bewegung setzt und in ihrer Tasche kramte, bevor sie etwas hervorzog. Einen Block? Sicher wollte sie kommunizieren! Warum hatte sie das nicht von Anfang an getan? Ihre Schrift war interessant… Für einen in der Regel gern lesenden Menschen wie Ren war selbst die Handschrift eines Menschen irgendwie etwas Spannendes. Es sagte viel über den Charakter aus. Seine war nicht sonderlich schön oder sauber, aber man konnte sie dennoch gut entziffern und es gab selten jemanden, der sich darüber beschwerte. Das Mädchen bedankte sich bei ihm und erklärte etwas, was den Hünen dazu brachte eine Augenbraue nach oben zu ziehen. Das war schon etwas Besonderes… Etwas, was Ren definitiv nicht erwartet hatte. Dieses Mädchen stand hier im Dunkeln, mitten im Nichts und erwartete, dass ihr jemand den Befehl gab sich ein Getränk zu kaufen? Doch bevor er antwortete, wartete er lieber ab, ob sie noch etwas zu sagen hatte. Mit Stift und Zettel dauerte dies ja schon einen Moment, weshalb er sie nicht drängen wollte. Er las und prägte sich aufmerksam ein was sie sagte. Auch ihr nächster Satz war jedoch merkwürdig. Olphard? Wenn sie Madleine war, wer war das dann? Er war sich ziemlich sicher, dass dieses kleine, zierliche Mädchen irgendeine Macke hatte. Aber wer war er schon, dass er jemanden dafür verurteilen könnte? Gerade Ren, der nicht gerade das Musterbeispiel eines perfekt funktionierenden Menschen war. Er kratzte sich am Hinterkopf und überlegte wie er damit umging. Allerdings machte sie ihre kleine Macke auch irgendwie interessant. „Behalt die Flasche.“, begann er und sah auf die Limonade. Nicht ohne Grund hatte er seine Worte wie ein Befehl formuliert. Wenn es das war, was sie erwartete, dann konnte er ihr so ein wenig unter die Arme greifen. Er verstand zwar nicht, wieso sie so unbedingt einen Befehl brauchte, aber er fand sich damit ab. Ob sie seine Aufforderung annahm oder nicht, konnte sie ja immer noch entscheiden. „Freut mich, Madeleine. Icb bin Ren.“ Völlig unüberlegt hatte er dies von sich gegeben. Erst kurz danach merkte er, dass er dem Mädchen gerade absolut natürlich seinen richtigen Namen genannt hatte. Wie konnte das passieren? Andererseits… Was sollte sie schon damit anfangen? Sie wirkte nicht, als würde sie in dieser Welt irgendetwas kennen… So winzig und verloren an diesem Bahnhof… Da machte sich sogar der raue Wüstenjunge ein wenig Gedanken. „Ich habe zwei Fragen.“, erklärte er und hielt dabei zur Verdeutlichung zwei Finger nach oben. „Wer oder was ist Olphard? Und wieso wartest du auf jemandes Anweisung um dir etwas zu leisten, was du gern haben möchtest?“ Das war etwas, was der Hüne rein gar nicht verstehen konnte. Er war es gewohnt, dass alles sich nach seinem Willen drehte. Die Welt, andere Menschen, einfach wirklich alles… Es war eigentlich egal wie ihre Antwort ausfiel. Ren hatte schon einige merkwürdige Gestalten getroffen. Er glaubte, dass ihn nichts mehr erschrecken konnte… Na wenn er sich da mal nicht irrte…

Der große Mann wollte die Flasche offenbar trotz der Fehlinformation von ihrer Seite nicht zurück haben, um genau zu sein sagte er ihr sogar, dass sie sie behalten solle. Natürlich würde sie das nun auch tun, immerhin hatte er es ihr befohlen. Er würde schon einen guten Grund dafür haben, hatte sie gelernt, sonst würde er das bestimmt nicht sagen. Menschen, die Befehle gaben, hatten meist auch etwas zu sagen, also sollten jene, die Befehlen gehorchten, besser genau nach ihnen handeln. Kindern brachte man nun einmal bei, dass Erwachsene vieles besser wussten und aufgrund mangelnder Expertise nahm man dies so an. Madeleine war noch ein Kind und im Geiste sogar noch viel weniger als das. Selbst wenn es um so etwas kleines ging, war sie nicht in der Lage, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und nahm daher die anderer gerne an, weil es sie nicht nur von Verantwortung, sondern auch von schmerzhaftem Nachdenken entband. Madeleine nickte also, öffnete die Flasche und nahm einen Schluck süßer Flüssigkeit. Das hier musste ganz furchtbar schlecht für die Zähne sein, hatte man ihr doch früher erklärt, dass man von Zucker Karies bekommen konnte. Da sie aber wie angewiesen jeden Abend um halb sieben ihre Zähne geputzt hatte, war ihr das natürlich nie passiert! Süßes war so schön angenehm und schmeckte toll, also aß sie es generell gerne - oder trank es, wie in diesem Falle die nach Zitrone schmeckende Limonade. Hach, war die toll! Der große Mann erklärte, dass er Ren heiße, wodurch er das kleine Mädchen dazu brachte, mit dem trinken aufzuhören und stattdessen zu ihm aufzusehen. Das war ein ganz schön kurzer Name, fand sie, ganz anders als der ihre. Beinahe wirkte es, als sei es eine Art Ritualname, ebenso wie man sie in ihrem Kult Phi nannte. Dann bin ich Phi., schrieb sie auf den Zettel und zeigte auf ihre Stirn, auf der das Zeichen zu sehen war, das ihre Funktion angab. Es war zwar sehr unwahrscheinlich, dass er mit dem Schicksalskult bekannt war, aber es würde zumindest den reichlich seltsamen Namen erklären, mit dem er sie anreden konnte, wenn ihm Madeleine zu kompliziert war. Er hatte ja selbst einen eher simplen Namen, vielleicht waren ihm solche dann auch lieber?
Als nächstes fragte er zwei Dinge, die sich das kleine Mädchen geduldig anhörte und danach den Kopf schief legte, wie um nachzudenken. Tatsächlich tat sie allerdings nichts dergleichen, sondern lauschte nur nach der Stimme in ihrem Kopf, in der wagen Hoffnung, dass diese sich dazu melden würde. Antwortete Olphard nicht, war es auch in Ordnung, denn dann würde sie Ren einfach die Wahrheit schreiben. Es gab nur wenige, die in das Schicksal eingreifen durften und Olphard gehörte eben dazu, immerhin war er das Schicksal höchst persönlich! Einige Sekunden der Stille verstrichen, ehe sie erneut zu schreiben begann, dieses Mal allerdings ein wenig zögerlicher als zuvor. Während die Sache mit der Flasche einfach zu erklären gewesen war, konnte man meinen, dass dies hier deutlich komplizierter war, doch auch das stellte für sie kein Problem da: Für sie waren beide Antworten sonnenklar - sie war sich nur nicht sicher, ob Ren sie verstehen würde. Na ja, probieren musste man es... Das Schicksal hat sich im Gespräch mit mir als Olphard vorgestellt. Ich weiß nicht, ob das sein richtiger Name ist. Ich weiß nicht, ob er vielleicht weiblich ist, aber er heißt Olphard. Olphard weiß alles und sieht alles, aber er erzählt mir nur einen Bruchteil davon. Sie hielt den Block dem Blauhaarigen hin, damit dieser lesen konnte, was sie geschrieben hatte und wartete die Zeit, die er brauchen würde, um ihre Schrift zu entziffern. Freilich hängte sie noch ein paar Sekunden zusätzlich dran, weil sie ja nicht wusste, wie schnell genau er wohl lesen würde. Danach machte sie sich an die zweite Antwort, die um einiges kürzer wurde: Es ist nicht meine Aufgabe, etwas zu wollen. Ich bin nur ein Medium. Als Sprachrohr war sie es nicht, die ihre Handlungen leitete - oder zumindest nicht diejenige, die sie leiten sollte. Das war bei ihr manchmal komplizierter, als es sein sollte, aber der Theorie nach war sie nicht mehr als eine Puppe. Das passende Aussehen hatte sie sowieso.

In Hosenka waren wirklich nur verrückte Menschen. Ren war noch nicht allzu oft in dieser Stadt gewesen, aber wenn er sich einmal hier hin verirrte, lernte er sehr spezielle Persönlichkeiten kennen. Man erinnere nur an die junge Dame, die ihn zu sich nach Hause einlud und ihm ihre Waffensammlung an der Wand zeigte, von denen einige Exemplare sogar die Größe und sicher auch das Gewicht des Hünen überschritten. Ohne Frage war das furchteinflößend… und hatte auch ganz indirekt sein Bild von Frauen ein wenig verändert, aber egal. Jedenfalls wurde dem Riesen so langsam auch klar, dass dieses Mädchen vor ihm nicht unbedingt weniger besonders war, als die andere Dame, die er hatte kennenlernen dürfen. Zum einen war sie winzig und zum anderen waren ihr komisches Aussehen, beispielsweise das Tattoo auf der Stirn, und ihr komischer Ausdruck doch sehr speziell. Dass sie nicht sprechen konnte oder wollte, machte sie irgendwie interessant und ihr besonderes Erscheinungsbild unterstützte das auch, aber je mehr sie von sich preisgab, desto mehr dämmerte Ren allmählich was er hier vor sich hatte…
Sie musste irre sein. Daran gab es so gut wie keinen Zweifel. Der Hüne sah das Mädchen zwar mit genau derselben Miene an wie zuvor, aber in seinem Kopf ploppten große Fragezeichen und eine unüberwindbare Verwirrung auf. Was war das denn für ein Kind? Das mit dem Namen war ja alles noch in Ordnung. Die Person, die sich vor allen anderen als Akuma vorstellte, hatte wohl das geringste Recht zu mäkeln, wenn es um Namensgebungen ging, aber… Wieso hatte er nur gefragt wer oder was Olphard ist? Nun war er wirklich sicher, dass dieses Mädchen nicht ganz normal war. Dennoch las er aufmerksam was sie schrieb. Ihre Schrift war irgendwie fesselnd… Sie hielt sich also für ein Medium, welches die Stimme des Schicksals wahrnahm, welches sich offenbar als weiblich herausstellte und Olphard nannte… Es dauerte selbst für den weltfremden Hünen nicht lang um von dieser Erzählung auf eine Art Sekte zu schließen. Nur irgendwelche Glaubensanhänger befassten sich mit einem Medium, welches zu ihrem obersten Herrscher sprach. Daher sicher auch dieser Name und das Tattoo… Ren hatte einiges über Sekten gelesen, da es gerade beim Thema Dämonen öfter dahin ausuferte… Wie reagierte man darauf? Ren war raffiniert genug, um zu kombinieren, dass ein Mensch, der in diesem Glauben aufgezogen wurde, einfach dichtmachen würde, wenn er tatsächlich seine eigene Meinung kundtat. Also doch lieber das Thema in eine weniger wertende Richtung lenken… „Verstehe. Und Olphard spricht also regelmäßig mit dir? Ist er nett zu dir?“ Ren war ja nicht auf den Kopf gefallen. Wenn sie diese Stimme in ihrem Kopf hörte, interessierte es ihn natürlich sofort brennend, ob diese nur Dinge von ihr abverlangte, die sie auch gut hieß, oder auch anderes? Da sie noch etwas kindlicher wirkte, sprach er automatisch ein wenig angepasst mit ihr. Eigentlich hasste er ja Kinder, aber das lag daran, dass sie laut und nervig waren. Das war dieses hier nicht wirklich. Vor allem nicht laut. Aber zurück zum ominösen Olphard. Der, die oder das? Doch vielleicht war es ihr ja nicht allzu angenehm davon zu erzählen. In einer Sekte konnte es durchaus üblich sein, dass man eigentlich zum Schweigen verpflichtet war, wobei ihre vorherigen Aussagen nicht wirklich darauf schließen ließen, dass sie etwas zu verheimlichen hatte. Aber egal. Sie hatte so schon eine sehr detaillierte Antwort gegeben, also sollte er nicht noch ewig bohren. Stattdessen blickte er auf die Limonade in ihren Händen. Wie kam sie denn hier zurecht, wenn sie bei jeder Tat auf eine Anweisung warten musste? Wer weiß wie lange sie hier stand … „Sag mal Phi, was machst du denn in Hosenka? Wenn du ein Medium bist, gehörst du sicher einer…“ Nein, sag nicht Sekte. Das wäre unhöflich. „…einer Gruppierung an. Wie eine Glaubensgemeinschaft? Oder liege ich da falsch?“ Ren konnte sich nicht wirklich vorstellen dem Willen anderer Menschen so unterworfen zu sein. Allerdings sah Madeleine recht makellos und fein aus, sodass man nicht davon ausgehen konnte, dass sie missbraucht oder schlecht behandelt wurde… Sie sprach nicht, aber womit das zusammenhing, wusste er ja nicht. Warum er sich überhaupt mit diesem Mädchen befasste, wäre wohl eine Frage, auf die er selbst keine Antwort wüsste. Dennoch hatte der Hüne entschlossen sie hier nicht stehen zu lassen. Wenn schon jemand wie er sich hier herumtrieb, würden andere sicher nicht lang auf sich warten lassen…

Als ob Madeleine jemals auf die Idee gekommen wäre, dass Ren sie nicht ernst nehmen könnte... das Mädchen verstand nicht einmal Sarkasmus, geschweige denn merkte sie, wenn sie jemand anschummelte! Deswegen nahm sie seine Worte auch sehr ernst und für bare Münze und freute sich ein wenig darüber, dass er sie nicht für verrückt erklärte. Sie war so etwas nämlich gewohnt und wusste, dass es einem ziemlich im Weg stehen konnte, wenn man einem deswegen nichts zutraute. Madeleine war zwar allein eine vollkommene Katastrophe, aber sobald sie jemanden hatte, der ihr sagte, was zu tun war, konnte man durchaus mit ihr rechnen. Auch lief sie nicht plötzlich Amok oder so, denn auf so eine Idee würde sie nie kommen, ebenso wenig verletzte sie sich oder andere oder brabbelte albernes Zeug. Das Mädchen war in keinem Falle irre, sie hatte nur sehr seltsame Vorstellungen antrainiert bekommen, wofür sie selbst auch eher wenig konnte. Da Ren dies allerdings nicht direkt sagte, sondern es nur implizierte, bekam sie nichts dergleichen mit und blickte ihn nur kurz ohne zu blinzeln, bevor sie wieder zu schreiben begann. Natürlich war Olphard nett zu ihr, das war allerdings auch sicher nichts, was sie jemals anders interpretiert hätte. Er war ein Gott, egal was er tat, es war gut und sollte so sein, wer war sie also, dass sie ihn anzweifelte? Allerdings hatte sie sich auch noch nie unwohl gefühlt, als er mit ihr geredet hatte, sodass die Wahrheit nicht einmal etwas mit seinem Status zu tun hatte, sondern einfach die volle Wahrheit war: Olphard ist mein Lehrmeister und hat mir vieles beigebracht. Ich kenne das Leben nicht so gut, wie er, aber er hat mir vieles davon erzählt. Er hat mir auch erklärt, was es mit Magie auf sich hat. Ich denke, dass ich ohne ihn ziemlich verloren wäre. Das stimmte wohl, denn hätte Madeleine nicht diese Stimme im Kopf, dann wäre sie geistig allem anderen so weit unterlegen, dass sie wahrscheinlich sogar am Alltag scheitern würde, noch mehr, als sie das sowieso schon tat. Solche Aussetzer hatte sie nämlich nur, wenn Olphard sich kurzzeitig nicht blicken ließ und das war zum Glück relativ selten der Fall.
Auch Rens weitere Vermutungen waren zutreffend, sodass Madeleine auch nicht lange zögerte und ihm per Stift und Papier erklärte: Der Kult des Schicksals sitzt in Oak Town, aber hier sitzt die Gilde Lamia Scale. Nachdem sie ihm die Schrift gezeigt hatte, klemmte sie sich den Block unter den einen Arm und zog sich den Handschuh aus, sodass sie ihm die Lamia auf ihrem Handrücken zeigen konnte. Wahrscheinlich kannte er dieses Zeichen, denn die Magiergilde, zu der es gehörte, war ja relativ bekannt, hatte sie sich sagen lassen. Zwar hatte sie erst vor relativ kurzer Zeit von ihr erfahren, aber das war noch lange kein Grund, warum es allen anderen so gehen sollte. Ich bin nämlich eine Magierin! Es war ein wenig schade, dass Geschriebenes in dieser Kürze selten einen Unterton haben konnte, wäre das der Fall, so würde dieser Satz unheimlich stolz klingen. Eigentlich sollte sie dabei nichts fühlen, aber es gefiel ihr wirklich gut, dass sie Magie anwenden konnte, gerade weil so wenige Mitglieder des Kultes dies konnten. Sie wusste wirklich nur von Mü und Theta und Mü war wirklich, wirklich schlecht darin, gab sich allerdings auch keine Mühe, da sie Magie nach wie vor für etwas schlimmes hielt. Madeleine dagegen mochte ihre Masken und solange sie niemanden umbrachte - wofür sie überhaupt keinen Zauber hatte - gab es für sie auch keinen Grund, schlechtes anzunehmen.

Wäre Ren nicht selbst die Art Mensch, die von anderen mit überwiegend merkwürdigen Blicken getroffen würde, hätte er vermutlich weniger empathisch auf Madeleine reagiert. Überhaupt war das hier gerade das Höchstmaß der Gefühle, wenn man von der stupiden Empathiefähigkeit des Hünen ausging. Doch er selbst bemerkte gar nicht, dass er da gerade ein Verhalten an den Tag legte, welches doch sehr untypisch für ihn war. Sicher hielt er das winzige Mädchen vor sich für äußerst merkwürdig, aber er schätzte sie noch lang nicht so ein, als hätte sie ihren Verstand verloren. Die meisten Menschen hatten einen funktionierenden Verstand. Sie war vermutlich nur ein Opfer ihrer Umstände und wenn er mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen hatte, sollte man ein Auge auf sie haben, damit sie nicht blind jedem Messer entgegen läuft.
Auf seine Frage hin, ob dieser ominöse Olphard denn nun nett zu ihr war, reagierte sie auch recht ähnlich, wie er es erwartet hatte. Sie waren hier allein, zu zweit. Niemand war weit und breit zu sehen oder zu hören. Das musste etwas nicht Existentes sein. Dementsprechend hatte es ihn interessiert wie weit dieser Begriff „Olphard“ für sie gefasst war. Erstaunlicherweise handelte es sich dabei um eine nahezu realistisch beschriebene Persönlichkeit… Nicht nur eine Stimme im Kopf… Sie konnte diesem Ding ja offenbar sogar fast ein Geschlecht zuweisen. Er hatte einige Male geguckt, ob sie vielleicht irgendwas im Ohr hatte, was sie beeinflussen könnte, aber da war nichts. Das musste nur in ihrem Kopf stattfinden. Ren wusste selbst, wie es sich mit Stimmen im Kopf verhielt. Während seiner düsteren Kindheitstage hatte er sich oft in fesselnde Tagträume mit Dämonen hinein fantasiert. Das konnte erschreckend real werden… Aber aus dieser falschen Welt wurde der Hüne immer mit Füßen getreten. Im Gegensatz zu Madeleine, bei der das ja offensichtlich gutgeheißen wurde. Was ihn jedoch stutzig machte, war die Tatsache, dass diese Stimme, die sie ja selbst in ihrem Kopf wachgerufen haben musste, ihr Informationen überbrachte, die sie offenbar nicht wusste. Entweder die Sache ging wirklich richtig tief oder er verstand weniger davon als er gedacht hatte… „Das ist gut zu hören.“, antwortete er relativ gelassen und blickte mit erhobenem Zeigefinger auf sie hinab. „Versteh mich nicht falsch, aber manchmal ist die Welt gefährlicher als du ahnst. Es ist wichtig jemanden zu haben, der auf einen Acht gibt.“ Nein, Ren glaubte nicht daran, dass diese Stimme im Kopf etwas mit einem Gott oder dem Schicksal zu tun hatte. Es war sicherlich ihre eigene Vernunft, die sie zügelte. Aber wenn es so war, dann war es doch wichtig daran zu appellieren und ihr zu verdeutlichen, dass nicht jeder sie nur für eine Irre hielt und es vielleicht nicht so schlecht war, dass sie auf diese Stimme hörte, wenn sie sonst niemanden hatte… Wieso interessierte ihn das überhaupt? Warum machte er sich so verworrene Gedanken darüber? Ren war nicht der Typ, der sich um andere Menschen sorgte und deren Schicksal ihn interessierte! Aber so kleine, augenscheinlich hilflose Mädchen gaben ihm ein schlechtes Gefühl, wenn er einfach darüber hinweg sah. Warum konnte er, trotz allem Wissen über Menschen und deren Emotionen, nicht begreifen. Was er am wenigsten verstehen konnte, war wohl einfach er selbst.
Und mit der Sektenvermutung hatte er wirklich direkt ins Schwarze getroffen. Schicksalskult… Wenn das nicht nach ein paar Irren klang, die Leuten so etwas einredeten. So klein wie das Mädchen vor ihm war, hatte sie möglicherweise schon ihr ganzes Leben mit diesem Unsinn zu tun gehabt. Jetzt zu behaupten, dass all das falsch war, wäre ein Schlag ins Gesicht, den sie nie akzeptieren würde. Lamia Scale? Selbsterklärend zeigte das Mädchen ihm ihren Handrücken mit der nackten Meerjungfrau, deren Bedeutung für die Gilde dieser Stadt sprach. Madeleine war also eine Magierin. Und deshalb hatte sie sich von diesem Kult abgewandt? Nein, dann würde sie nicht so von ihrem „Begleiter“ sprechen. „Soso, eine Magierin, hm? Ich hoffe du nutzt deine Fähigkeiten für „gute Dinge“.“, sagte er und zeigte sich tatsächlich ein wenig beeindruckt von dieser Tatsache. Nicht, weil ihn Magie so überraschte. Gerade ihn nicht… Aber, dass sich gerade hinter ihr eine solche Persönlichkeit verbarg, war doch wohl ein Zufall… Oder ein Wink des von ihr geliebten Schicksals? Was er mit der guten Sache meinte? Ey, dieses Mädchen stammte aus einer Sekte! Er hoffte schon irgendwie, dass man sie nicht zur Vernichtung der Welt losgeschickt hatte oder Ähnliches! Das war immerhin Job der Dämonen. „Ich bin auch Magier.“, erklärte er weniger stolz als sie, da es für ihn nicht unüblich war das Fremden zu erzählen. Das hatte er schon zu oft gemacht, als dass es ihn so freuen könnte. „Allerdings in der Gilde Blue Pegasus.“ Er verzichtete darauf ihr sein Gildenzeichen zu zeigen. Sich halb nackt abends in der Stadt auszuziehen, war dann doch etwas merkwürdig, vor einem so kleinen Mädchen … „Hast du lange Zeit bei diesem Kult verbracht? Dann ist es sicher schon etwas anderes in einer großen Stadt wie dieser, nicht?“ Ein wenig Smalltalk konnte ja nicht schaden, oder?

Es war wichtig, dass sie jemanden hatte, der auf sie aufpasste, erklärte der blauhaarige Mann. Madeleine war sich in dieser Hinsicht nicht recht sicher, denn eigentlich war sie diejenige, die auf die anderen aufpasste, weil sie diejenige mit der Schutzmagie war. Wenn sie in Gefahr geriet, gab es zwei mögliche Ausgänge: Entweder Olphard oder jemand anderes befahl ihr, sich zur Wehr zu setzen und der Gefahr entgegen zu treten, dann würde sie heil aus der Sache herauskommen, weil die wenigsten damit rechneten, dass sich so ein kleines, dürres Geschöpf wehren konnte. Oder niemand gab ihr eine solche Anweisung, in diesem Fall war es wohl Schicksal und dieses allein würde bestimmen, ob sie das überstand oder nicht. Es war also keine Sache, über die sie sich Sorgen machen musste, immerhin wusste sie genau, was passieren würde und in jedem Falle war es auch gut so. Die Welt ist interessant., stellte sie mit ein wenig Papiergeraschel fest und blickte dabei so apathisch, als habe sie diesen Satz auswendig gelernt. Er entsprach allerdings wirklich ihrer Meinung, auch wenn sie das nicht entsprechend nach außen kehren konnte. Da sie so lange hinter hohen Klostermauern gelebt hatte, war nicht nur ihre Haut schneeweiß, sie lernte auch jeden Tag ungeahntes Neues kennen, dessen sie sich vorher nicht bewusst gewesen war. Und sei es nur, dass es Süßigkeiten gab, die man nur kaute, um sie irgendwann wieder auszuspucken, das Prinzip verstand sie nach wie vor nicht. Man nannte es Kaugummi und sie hatte ein wenig das Gefühl, als diente es nur dazu, die Kaumuskulatur zu beschäftigen und einen vom Reden abzuhalten. Deswegen brauchte Madeleine so etwas nicht, hatte sie beschlossen, da sie immerhin überhaupt nicht redete. Ren fragte, ob sie ihre Fähigkeiten für gute Dinge nutzte und sie blickte ihn etwas verwundert an, bevor sie mit dem Ende des Stiftes nachdenklich auf ihre Unterlippe tippte. Das war schwer zu erklären... Nein. Aber auch nicht für böse., schrieb sie schließlich, auch wenn sie ahnte, dass das nicht ausreichen würde, um den Sachverhalt zu erklären. Ich greife damit nicht in das Schicksal ein., fügte sie schließlich hinzu, gefolgt von einem leicht stolzen: Ich kann damit aber sowieso niemandem weh tun. Das war eine Tatsache, die ihr wirklich gut gefiel, auch wenn es wohl Menschen geben würde, die das als eine Einschränkung sehen würden. Sie hatte keinen Grund, jemandem weh zu tun und es war sowieso falsch, weil sie damit in das Gefüge der Welt eingreifen würde als eine, die es nur zu beobachten und zu pflegen hatte. Wenn du Magier bist, was für eine Magie beherrschst du dann? Wie gesagt, war Madeleine ein sehr neugieriges kleines Mädchen. Oh ja, ich bin dort aufgewachsen., stellte sie auf seine Frage fest und nickte energisch auf die zweite Hälfte seines Satzes. Es war hier wirklich ganz anders als im Kloster aus dem sie kam. Beispielsweise trugen die Menschen hier ganz andere Klamotten, gebärdeten sich viel offener und auch viel extremer. Dort, wo sie herkam, gab es Einschränkungen, was man nicht tun durfte, viel mehr als die hier existenten. Auch hatte sie hier zu ersten Mal Musik gehört, was etwas war, was wirklich schön war. Im Kloster war es still gewesen, aber es hatte auch nicht gestört, weil man es nicht anders kannte. Die Welt da draußen war laut, voller Leben und Energie... im Grunde genommen musste sie sagen, dass sie das so viel schöner fand, auch wenn es manchmal ein wenig überfordernd wirkte.