Die Stille war etwas gewesen, was auch Ren als Kind nicht unbedingt unbekannt gewesen war. Er hatte immer das Gefühl gehabt, dass die riesige Wüste, in der er großgeworden war, alle Töne verschluckte. Selbst wenn der Nagel auf der Schallplatte entlang kratzte und noch so schöne Geräusche von sich gab, hatte er das Gefühl, dass alles um ihn herum stumm war. Als das Mädchen feststellte, dass diese Welt interessant war, musste Ren deutlich schmunzeln. Dieses Grinsen hatte er sich nicht verkneifen können. Für ihn waren die ersten Schritte in dieser Welt alles andere als angenehm und spannend gewesen. Direkt bei seiner Ankunft hatte es nur wenige Minuten gedauert, bis der Hüne in die Konfrontation mit dem langen Arm des Gesetzes gekommen war. Man hatte ihm aufgrund seiner Herkunft vieles vergeben, doch er konnte doch sehr genau nachempfinden wie es war in einer völlig anderen Welt aufzuwachen. Selbst heute gab es noch viele Geräusche und Gerüche, die den Hünen abschreckten, weil sie neuer oder extremer waren, als er es vorhersehen konnte. Dass ihr Gesicht dabei nicht sonderlich aussagekräftig war, änderte nichts daran, dass ihre Worte viel bedeuten. Ren nickte stumm als eine Art stiller Zustimmung. Sicher hatte er sie eben selbst darauf aufmerksam gemacht, dass es hier gefährlich sein konnte. Zwar barg dies hier eine ganz andere Gefahr als eine trockene Wüste oder die schaurige Unterkunft einer Sekte, von deren Gehirnwäsche man sich wohl nie befreien kann, aber es gab immer Dinge in der Welt, die einem das Leben schwer machen konnten. Diese Welt dennoch als etwas Besonderes und Spannendes zu betrachten, war doch ein sehr schöner Gedanke. Wenn er das Mädchen so sah, fragte er sich, ob er auch so weltfremd gewirkt hatte. Sie war winzig, stumm, starrte ewig in der Gegend herum ohne deutlichen Sinn und gerade durch ihre grazile Gestalt wirkte sie völlig fehl am Platz, wenn man den Bahnhof von Hosenka zu späterer Stunde mal genauer betrachtete…
Was auch eine recht interessante Ansicht der jungen Dame war, dass sie der Meinung war ihre Fähigkeiten weder für das Gute, noch für das Böse einzusetzen. Sie bezog ihre Handlungen lediglich auf das Schicksal. Bedeutete dies, dass sie nur dann etwas tat, wenn diese ominöse Stimme sie dazu aufrief? Das klang tatsächlich weder gut noch böse, sondern viel mehr willkürlich. Es würde ihn schon interessieren ab welchem Zeitpunkt und aus welchem Grund ein solches Mädchen in das Schicksal eingriff. Allerdings würde er das vielleicht irgendwann beobachten können. Das wäre ohnehin eine Frage, die sie selbst mit Sicherheit nicht beantworten konnte. Weniger spannend war die Erzählung von einer Magie, die niemandem wehtun konnte. Ren mochte keine Magien, die nicht offensiv waren. Sicher war es auch nützlich eine defensive Magie zu haben… oder gar Heilung… Er wusste, dass so oder so alles offensiv genutzt werden konnte, wenn man beispielsweise seine Karten richtig ausspielte. Niemandem wehtun zu wollen, war für Ren jedoch eine utopische Vorstellung. Selbst wenn es einen Moment gab, in dem ihn sonst niemand interessierte und er niemandem an den Kragen wollte, gab es da doch diesen Moment… Sich zu wehren, jemanden zurechtzuweisen oder Rache zu üben… All das waren Gedanken, die der Hüne niemals abwenden konnte. Deshalb fiel es ihm recht leicht sich seiner Magie sicher zu sein. Dämonenmagie hatte so viele nützliche Inhalte, auch wenn er noch nicht allzu viele davon beherrschte. Apropos. Genau danach fragte das Mädchen nämlich gerade. „Ich schätze, dass meine Magie weniger wertfrei ist, da ich mich an einer dunkleren Macht bediene. Dämonenmagie lässt sich nur schwer für Gutes nutzen, aber ich tue nichts ohne einen guten Grund.“ , erklärte er mit recht strengem Blick. Seine Magie war für ihn etwas sehr Wichtiges. Sie sicherte nicht nur seine Existenz, sondern gab ihm die nötige Macht, um sich in seinem Körper wohl zu fühlen. Dass man damit nichts Gutes anrichten konnte, hielt er für selbstverständlich. Ren hielt sich nicht für einen guten Menschen. Immerhin war er egozentrisch und teilweise auch recht sadistisch… Aber das ließ sich immer gar nicht mal so einfach einschätzen.
Madeleine schien jedenfalls eine ganze Weile in diesem Kult verbracht zu haben. Sehr komisch… Dann kannte sie sicher kaum etwas anderes, oder? Woher sollte sie dann auch wissen, dass es nicht unbedingt der sicherste Ort war um sich nach Anbruch der Dunkelheit hier aufzuhalten? Nur wohin konnte er sie bringen, ohne deutlich zu machen, dass er sie unbedingt nicht am Bahnhof stehen lassen wollte? Da kam ihm die Idee! „Sag mal, warst du schon mal im Gildenhaus von Lamia Scale? Um die Zeit sind vielleicht nicht mehr allzu viele Leute da, aber ich könnte dir den Weg zeigen. Man kennt immerhin oft auch mal einige Magier aus anderen Gilden.“ Nun ja, so viele kannte Ren nicht unbedingt, aber das musste er dem Mädchen ja nicht unter die Nase reiben. Es reichte ja, wenn sie dort ankam und erst einmal sicher war, bis die Sonne wieder aufging…

Dämonenmagie klang tatsächlich nicht wertefrei, sondern ziemlich schlimm. Madeleine wusste immerhin, was diese Wesen waren und man hatte ihr nicht nur erklärt, dass sie in jedem Menschen stecken konnten, sondern auch, dass man sich vor ihnen in Acht nehmen musste und sie am besten sogar bekämpfen sollte. Mit diesem Wissen im Hinterkopf war sie selbstverständlich verwirrt, weil der junge Mann vor ihr ihr eigentlich sehr nett schien, wenn auch sicherlich ein wenig furchterregend, schon allein wegen seiner Größe. Wenn er behauptete, dass er Dämonenmagie nutzte, machte ihn das dann zu einem Dämon, ein Wesen, dem man den Garaus machen musste? Aber sie durfte ihn nicht angreifen, weil das nicht ihre Aufgabe war, wie sollte sie sich also verhalten? Durfte sie Dämonen bekämpfen, weil man das musste, auch wenn man dadurch in das Schicksal eingriff? Sie konnte beinahe spüren, wie sich ihre Gehirnwindungen verknoteten und das war immer ein wenig schmerzhaft. Sie sollte wohl einfach akzeptieren, dass es Zusammenhänge gab, die sie nicht verstehen konnte und dass sie nicht zum Philosophen geboren worden war. *Man kann nichts dafür, als was man geboren wird, Phi. Es hängt am Ende daran, wie man mit seinen Gottgegebenen Kräften umgeht.* Und Ren hatte immerhin gesagt, dass er nichts ohne guten Grund tat, bedeutete das nicht, dass er nur tat, was er für richtig hielt? Man musste sich also nur noch fragen, ob er moralisch genug war, um auch das Richtige für richtig zu halten! Madeleine brauchte eine Weile, um das zu realisieren und begann erst danach zu schreiben, während Ren fragte, ob sie schon einmal im Gildenhaus gewesen sei. Natürlich war sie das gewesen, immerhin war es ihre Anweisung, sich so gut wie möglich in die Gilde zu integrieren und die Augen offen zu halten... oder machte er sich etwa Sorgen um sie? Er hatte sie immerhin schon mehrfach gefragt, was sie hier wollte und ob das denn der richtige Zeitpunkt für ein kleines Mädchen war, um alleine am Bahnhof zu stehen. Warum sagte er das dann denn nicht einfach? Sie würde es bestimmt tun, wenn sie sich in einer solchen Situation befände! Allerdings bedeutete es auch, dass er immerhin dazu fähig war, sich Gedanken über einen völlig Fremden zu machen und ihm zu helfen, was ja wohl eine gnerell gute Eigenschaft war. Vielleicht war er also doch in der Lage dazu, abzuwägen, wie er seine Magie zum Guten einsetzen konnte. Da war sie aber erleichtert.
So kam es also, dass auf dem Blatt, das sie ihm schließlich entgegen hielt, nur das Folgende stand: Ich glaube, dass du weißt, wann und wie du deine Magie einsetzen musst. Auch wenn es nicht allzu offensichtlich formuliert war, handelte es sich dabei doch um ein Kompliment. Sie ahnte, dass er damit nicht ganz zufriedengestellt sein würde, also kritzelte sie noch dazu, angeregt von Olphard: Ich war schon einmal dort. Aber wenn du dir Sorgen machst, kannst du mich doch bestimmt nach Hause begleiten. Den Weg würde sie zwar selbst finden, aber vielleicht ging es ihm dann auch besser, weil er nicht das Gefühl hatte, seine Pflichten zu vernachlässigen. Falls es sich denn wirklich um eine derartige Anwandlung handelte.

Selbst ein so weltfremder Mensch, der sich nur selten für die Schicksale anderer interessierte, konnte es nicht über das Herz bringen so ein kleines Ding mitten in der Nacht an einem Bahnhof stehen zu lassen. Vor allem nicht, nachdem er gesehen hatte, wie sie sich zuvor dem Automaten gegenüber verhalten hatte. Ren war nun nicht unbedingt der typische Gentleman oder gar Held, aber ein ganz kleines bisschen Gewissen hatte selbst der Hüne mit der Dämonenmagie… Was nun wirklich das Richtige für Ren war, war tatsächlich eine Sache die man gut und gern in Frage stellen konnte. Sicherlich gab er sich Madeleine gegenüber gerade erstaunlich freundlich, für seine Verhältnisse grenzte dies an ein Wunder, aber das bedeutete noch lang nicht, dass sein Kern mittlerweile um einiges freundlicher geworden war. Allerdings hing die Entscheidung darüber, ob etwas richtig oder falsch ist, bei Ren doch sehr von seinen egozentrischen Ansichten ab. Trotz allem war er laut seinen Ansichten noch immer der Mittelpunkt der Welt und daran würde sich so schnell nichts ändern. Genauso waren auch seine Moralvorstellungen überaus egoistisch eingestellt. Für ihn war das völlig natürlich und da gab es nichts, was man in Frage stellen müsste. Andere würden es in vielen Situationen sicherlich weniger moralisch betrachten als er…
Allerdings reagierte er auf die Antwort von Madeleine mit einem Schulterzucken. Sie ging davon aus, dass er wusste, wann er seine Magie einzusetzen hatte? Ein interessanter Gedanke… Prinzipiell konnte man nicht sagen, dass eine Magie gut oder schlecht war. Es war wohl immer die Intention die dahinter stand, die wirklich relevant war. „Das will ich doch hoffen.“, antwortete er nur grinsen darauf, da er ein Schulterzucken als Antwort irgendwie komisch empfunden hätte. Er war sich nicht sicher, ob andere Menschen das was er tat gut fanden, aber in der Regel war es ihm auch egal. Sie schien jedoch noch nicht ausgesprochen zu haben, denn kaum hatte er geantwortet, schon folgte wieder ein Schreiben des jungen Mädchens. Neugierig beobachtete er sie dabei und las dann ruhig das, was sie ihm mitteilen wollte. Doch lange war nicht mehr so entspannt. Ein wenig irritiert blickte er auf den Zettel, wobei er sich möglichst wenig anmerken ließ. Er? Sich Sorgen machen? Lächerlich! Sofort folgte innerlich eine Abwehrreaktion dieser Aussage gegenüber. Natürlich behielt er dies für sich. Er war ja keine Furie. Dennoch war es unangenehm… Er musste nun die Nerven behalten, um sich nichts davon anmerken zu lassen, dass ihm diese Aussage nicht gefallen hatte. Einem kleinen Mädchen wollte er nicht vor den Kopf stoßen, aber so etwas zu zugeben, war auch ausgeschlossen! Äußerlich gelassen blickte er nachdenklich gen Himmel. Dann nickte er und sah Madeleine an. „Wenn das so ist… Ich begleite dich natürlich auch gern auf deinem Weg nach Hause, wenn du das möchtest.“ Hah! Cool und lässig abgewehrt! Naja … Mehr oder weniger. Sicher wäre es reifer gewesen dazu zu stehen, dass er sich Sorgen machte, aber das war nicht sein Stil. Sich irgendwelche Gefühle einzugestehen, ging selbst im Kopf für Ren überhaupt nicht. Nun wartete er erneut auf die Reaktion des Mädchens. Wenn er sie irgendwo in einer sicheren Gegend zurücklassen konnte, ging es ihm sicher besser…

Nein, natürlich machte Ren sich keine Sorgen! Er war doch der knallharte, männliche, eiscoole Actionheld dieser ganzen Geschichte, der sicherlich auch ohne schlechtes Gewissen alles in seinem Weg zur Seite schieben oder um die Ecke bringen würde. Man durfte sich höchstens wundern, warum seine Haut nicht dunkel war und er mit einem Schwert des Nachts auf Vampirjagd ging. Sicherlich hätte er wahnsinnigen Spaß daran und an der Vorstellung, sich vor allem an den metrosexuell ausgerichteten, funkelnden Blutsaugern zu vergreifen. Ren war eher einer der Typen, die zu guter Letzt auch noch einen feschen Spruch auf den Lippen hatten, dessen Humor allein genug Kraft hatte, um zu töten. So jemand machte sich keine Gedanken über kleine Mädchen! Und dennoch bemerkte sogar Madeleine, dass er sich um sie sorgte, obwohl man ihr wohl ziemlich viel vormachen konnte, ohne dass sie Verdacht schöpfte. Man musste sich also fragen, ob Ren die Rolle, die er gerne erfüllen würde, wirklich so gut spielte... doch das kleine Mädchen war niemand, der sich darüber Gedanken machen würde. Sie lächelte einfach nur auf seine Zustimmung und überließ es Olphard, ein wenig über Ren zu spötteln, obgleich sie nicht alle Anspielungen, die er dabei benutzte, auch wirklich verstand. Sie war beispielsweise gar nicht damit vertraut, was Vampire überhaupt sein sollten, aber es musste schon irgendwie zusammen passen, was er da redete, auch wenn es irgendwie ein wenig fantastisch klang.
Madeleine packte ihren Koffer und zog ihn hinter sich her, während sie in Richtung des Ausganges tapste. Sie war nicht so besonders schnell, aber es ging ja auch nicht darum, durchs Leben zu rennen. Ganz im Gegensatz hatte man ihr immer gesagt, dass dem Leben besser eine gewisse Ruhe innewohnen sollte, man den Moment zu genießen hatte und auch langsam ans Ziel kam. verzögerungen waren hinzunehmen, denn der Weg war sowieso das Ziel. Auch davon hatte sie nicht alles verstanden, aber die Schlussfolgerung hatte sie sich zumindest eingeprägt, sodass sie ganz ruhig einen Fuß vor den anderen setzend aus dem Bahnhof herausging und in eine der Straßen eintauchte. Auf halbem Weg diese herunter fiel ihr jedoch eine Frage ein und sie begann darüber nachzudenken, ob sie diese auch stellen sollte. Ren hatte gesagt, dass er Dämonenmagie beherrsche, aber sie wusste gar nicht, was das überhaupt war! Das wäre eine interessante Frage, da sie zwar einen interessanten Namen hatte, aber vielleicht gar nicht so viel mit den bösen Kreaturen gemein hatte, wie sie dachte... aber war diese Neugier eine Frage Wert? *Na los, schaden wird es wohl kaum.* Na gut. Sie zog ihren Block heraus und schrieb drauf los, mitten auf der Straße stehend, ehe sie das Blatt Papier Ren entgegen streckte. Was ist Dämonenmagie eigentlich?

Irgendwo war Ren eben doch noch ein wenig ein Kind. Vermutlich war das auch einer der Gründe dafür, dass er sie nicht ausstehen konnte. Das war ähnlich mit seinem Bruder, von dem alle behaupteten er wäre genau wie der Akuma. Lächerlich! Dieser nervige, penetrante und plumpe Spinner war im Leben nicht so wie er! Menschen die so egozentrisch waren wie Ren konnten einfach absolut gar nicht damit umgehen, wenn sich jemand ähnlich verhielt und gerade verzogene Gören wie sein Bruder oder kleine Kinder hatten oft ein egozentrisches Weltbild…
Aber was noch größer war als seine Gedanken an sich selbst, war sein Stolz. Wo auch immer er diesen herhatte, er war groß gewachsen. Ren würde sich niemals eine Schwäche eingestehen und das nicht nur, weil er gelernt hatte, dass Schwäche gefährlich oder gar tödlich sein könnten. Er war auch richtig stur, wenn es um seinen eigenen Stolz ging. Sich da zu überwinden, war nahezu unmöglich… Aber so lange er noch glaubte, dass er cool und lässig wirkte, war die Welt auch in Ordnung. Immerhin konnte er ja nicht hören, wie die Halluzinationen von Madeleine über ihn spotteten. Mit jeglicher Kritik konnte der Hüne nämlich auch nicht umgehen. Egal ob sie gut oder böse gemeint war. Der Magier konnte weder auf ein paar freundliche Worte gut reagieren, weil er glaubte, dass man ihm zu nahe treten könnte, und genauso wenig auf einige weniger nette. Und da dachte man ein stummes Mädchen mit einer Stimme im Kopf war merkwürdig. Aber für kleine Mädchen schien Ren doch eine gewisse Schwäche zu haben. Eigentlich hasste er Frauen. Diese unterstellten ihm oft falsche Gedanken, betrachteten ihn mit einem abwertenden Blick und verurteilten ihn noch direkter, als jede andere Person auf diesem Planeten. Männer hingegen waren da schon angenehmer, denn die interessierten sich meist einen feuchten Dreck dafür wie man aussah und woher man kam. Diese Menschen waren auch nicht der Meinung, dass man überall irgendwelche zweideutigen Andeutungen verpackte, welche der Hüne zum Großteil nicht einmal bemerkte… Frauen fühlten sich immer gleich so, als würde man ihnen nur an die Wäsche wollen. Vermutlich irgendeine Art verdecktes Bedürfnis mit diesen Blicken angesehen zu werden. Einige Frauen hielten ihn, aufgrund seines Aussehens, für einen Triebtäter… Wie albern zu glauben, dass er es nötig hätte über eine wildfremde Frau herzufallen. Auch das war sicher nur eine Hoffnung darauf von jemandem begehrt zu werden. Kleine Mädchen waren da anders. Die waren meist unvoreingenommen und im Höchstfall fanden sie ihn gruselig, aber das war umso besser, denn dann traten sie ihm nicht zu nahe. So wie Madeleine waren sie am angenehmsten. Betrachteten ihn als völlig normalen Menschen und stellten keine unnötigen, viel zu persönlichen Fragen… Wenn nur alle Menschen so wären!
Okay, das klingt nun ein wenig gruselig. Nein, Ren war nicht unbedingt furchteinflößend, obwohl einige Menschen ihn so betrachteten. Er hatte ja auch keine falschen Gedanken oder sowas! Falsch wirkte das trotzdem irgendwie, wenn man davon ausging, dass kleine Mädchen die angenehmsten Menschen auf dem Planeten sind… Egal! Madeleine stellte dem Hünen auf ihrem Weg eine Frage. Was Dämonenmagie war… Da ließ sich gar nicht so einfach beschreiben. Nachdenklich kratzte Ren sich am Kinn. Am einfachsten hätte er sagen können, dass es Take Over Magie war, aber er bezweifelte, dass sie das kannte. Da wo sie herkam, gab es bestimmt nur eine Hand voll unterschiedlicher Magien. Wie wahrscheinlich war das schon ein Take Over Magier… „Man nennt sie Take Over Magien… Davon gibt es mehrere. Sie geben einem die Möglichkeit bestimmte Fähigkeiten eines Dämons zu übernehmen… Zum Beispiel könnte ich mir damit Hörner oder Flügel von Dämonen wachsen lassen.“, erklärte er immer noch ein wenig nachdenklich. Darunter konnte man sich doch etwas vorstellen, oder? Nun hatte er einiges erzählt… Da wäre es doch nur fair, wenn sie dasselbe tat, oder? „Unter deiner Magie kann ich mir auch wenig vorstellen. Erklärst du sie mir?“, fragte er deshalb ziemlich entspannt und sah sich in den Straßen um. Man, es war unglaublich leer in Hosenka…

Sich Flügel wachsen lassen zu können klang extrem toll. Madeleine hatte dich durchaus schon einmal gefragt, wie es wohl wäre, wenn man sich in die Lüfte schwingen könnte. Die Mauern des Klosters, in dem sie aufgewachsen war, waren hoch gewesen und der Blick nach unten war sowohl schwindelerregend, als auch bemerkenswert gewesen. Sie hatte gerne dort gestanden und ein Vogel musste ja eigentlich eine ähnliche Perspektive besitzen, nicht wahr? Allerdings fiel es ihr einfacher, sich Ren mit Hörnern vorzustellen, als mit Flügeln. Zwar passten diese auch besser zu ihm, aber das war nicht der Grund für diesen Vorzug: Primär waren Hörner einfach keine so große Veränderung wie ledrige, feurige Schwingen und leider war Madeleine ein nicht besonders fantasievoller Mensch. Es war nicht so einfach für sie, sich Dinge anders vorzustellen, als sie waren, zumindest nicht optisch betrachtet. Sie hatte durch ein paar interessante Bücher gelernt, Schlüsse zu ziehen, aber sich einen Hünen mit Flügeln vorzustellen, war eine ganz andere Kiste. Was sie allerdings etwas verwirrte, war die Tatsache, dass man doch in solch einer Verwandlung ein halber Dämon war und dass Dämonen böse waren... bedeutete das, dass man sich noch mehr Mühe geben musste, um nichts Mieses zu tun? Hoffentlich konnte Ren das! Sie jedenfalls konnte mit ihrer Magie recht gut herum spielen. Sie war in der Hinsicht auch deutlich besser als ihre Schwester My... es wäre ihr auch nicht in den Sinn gekommen, mit ihrer Magie irgendwie hinter dem Haus zu halten, obgleich Ren von einer anderen Gilde war. Sie war sowieso primär Mitglied im Kult des Schicksals und dann in Lamia Scale - und außerdem würde sie sowieso niemals jemanden angreifen, wenn sie nicht absolut musste, da brauchte man ganz eindeutig kein Konkurrenzdenken!
Madeleine nickte also auf seine Frage und fasste sich mit zwei Fingern an die Nasenwurzel. Geräuschlos und vollkommen ohne Rauchwolke tauchte auf einmal eine durchgehend schwarze Masken über ihren Augen auf. Sie schien aus Samt zu bestehen, hatte leicht gezackte Augenlöcher und lange Verzierungen zu beiden Seiten, die mit ein bisschen Fantasie wie Spinnenbeine aussahen. Ihre dunklen Augen blinzelten einmal ausdruckslos, ehe sie den Koffer stehen ließ und direkt auf die nächste Wand zuging - und als sie diese erreicht hatte, hielt sie nicht an, sondern ging einfach weiter, die Wand hinauf. Das war immer ein wenig schwerer als auf dem Boden zu laufen, weil sie nicht gerade muskulös war, aber es war ihr mit dieser Maske eben möglich..., doch nach ein paar Metern sprang sie wieder herunter, glättete die Falten ihres Kleides und konzentrierte sich erneut. Die Maske, die die Spinnenmaske ersetzte, schien leicht zu schillern. Bei jeder Bewegung zerfloss die silberne Farbe in anderen, wellenartigen Mustern, sodass es schwer war, ihr auf lange Zeit mit den Augen zu folgen. Noch schwerer war es allerdings, Madeleine auszumachen, als diese stillhielt und einen Augenblick wartete, denn auch ihre Konturen schienen zu verschwimmen, sie nahm andere Farben an und sah schon nach wenigen Sekunden aus wie die Wand hinter ihr. Hätte sie ihm nur eine Maske gezeigt, dann hätte er ja wahrscheinlich gedacht, dass die Magie mit Schwerkraft zu tun hatte oder so - doch auf diese Weise sollte der Fokus ganz klar auf Masken gelegt sein. Ihre andere Magie war allerdings schwerer zu erklären... Ich beherrsche auch noch eine andere Magie, aber diese ist schwer zu demonstrieren., schrieb sie deswegen, nachdem sie die Chamäleonmaske hatte verschwinden lassen. Denn diese Magie ist nur auf andere anwendbar. Ein bisschen farbiges Licht war eben nicht so spektakulär.

Ren fiel es stets schwer zwischen dem tatsächlichen Gut und Böse zu unterscheiden. Er hatte in seinem Leben viel gesehen und war in Situationen dabei, die manch ein anderer wohl nie sehen würde und doch konnte er kaum für sich selbst wirklich definieren wann man gut oder böse war. All das war so subjektiv und stets anders beschrieben… Selbst als er seine Magie noch nicht richtig kannte und von den Dämonen in Büchern las, wurde ihm zwar deutlich was die Sünden bedeuteten, welche diese Wesen begangen, doch fragte er sich stets ob es möglich war sündenfrei zu leben… Ob es überhaupt nötig war? So schwammig… Die Menschen gingen immer vom Bösen aus, wenn der Hüne von seiner Magie berichtete. Sicher hatte er so manche Sünde damit begangen, doch für ihn war es der Schlüssel zu seiner Freiheit… Menschen waren merkwürdig. Ren war überzeugt davon, dass niemand ohne Sünde lebte. Es war unmenschlich nicht zu lügen, wie wollte man sich daran halten? In einer Welt, in der jeder ein Sünder war, war es da noch etwas wert danach zu bewerten? Immer wenn er darüber nachdachte, hatte er das Gefühl, dass sich das jemand nicht wirklich genau überlegt hatte… Wie eine Welt voll Anarchie aussah, wusste Ren zu genüge… Also gab es wohl so oder so keinen richtigen Weg für die Menschen. Als wären sie eine Rasse, die nichts dort verloren hatte, wo sie sich befand. Ein wenig wie Aliens, die einen fremden Planeten zerstörten, allein mit ihrer Anwesenheit…
Doch das war nicht der richtige Zeitpunkt für solche Gedanken. Der Hüne hatte Madeleine darum gebeten ihm ihre Magie näherzubringen, was das Mädchen zunächst nur mit einem Nicken anerkannt hatte. Kurz darauf hatte sie sich, schweigsam wie sie war, an ihre Nase gefasst und offenbar etwas in ihr Gesicht gezaubert. Es war eine dunkle Maske, die mysteriös wirkte, was Ren natürlich wiederum ziemlich neugierig machte. Kaum hatte sie dies getan, stellte sie ihren Koffer ab und ging schnurstracks und augenscheinlich völlig unbeschwert die Wand hinauf. Ren blinzelte einige Male, da es ihn doch ein wenig verwundert hatte. Doch schon war sie wieder hinab gesprungen und tauschte die Maske gegen eine andere aus. Diese sah ein wenig merkwürdig aus und ließ das Mädchen innerhalb kürzester Zeit an Ort und Stelle verschwinden. Die Hand des jungen Mannes rieb nachdenklich sein Kinn. Das Gesehene wurde schnell eingeordnet und mit einem Nicken bestätigte er, dass er verstanden hatte, was es damit auf sich hatte… Interessant… Eine ziemlich allgemeinnützige Magie, mit der man bei Quests einige Aufgaben sicher leichter lösen könnte. Nur wehrlos schien sie damit trotzdem zu sein… Vermutlich war Madeleine eine Art Teammensch, was ihr wenig soziales Verhalten noch nicht ganz leicht machte, aber nützlich waren diese Tricks allemal. Ren war es natürlich lieber etwas mehr Macht zu erlangen, doch so etwas würde er auch nicht ablehnen. Diese unscheinbaren Masken schienen die absoluten Naturgesetze aushebeln zu können. Als sie wieder erschien, teilte sie ihm mit, dass sie noch eine zweite Magie beherrschte, die allerdings weniger leicht zu zeigen war, da sie nur auf andere anwendbar war. Ren nickte verständnisvoll und beobachtete sie. „Das sind ziemlich nützliche Fähigkeiten… Ich bin sicher, dass du dich als Magierin gut schlagen wirst.“ Dass er das ernst meinte, ließ sich recht einfach daran erkennen, dass Ren dabei nicht eine Sekunde lang das Gesicht in irgendeine Richtung verzog. Normalerweise wäre es ihm sicher unangenehm so etwas Löbliches zu sagen, aber dies war eine recht objektive Einschätzung des jungen Mannes. Ihre Fähigkeiten waren tatsächlich echt gut für die Aufgaben eines Magiers, wenn er seine Quests betrachtete und da sie recht simpel und umgänglich war, würde das sicher gut klappen… Ganz egal wie weltfremd sie war… Da konnte man für sie nur hoffen, dass sie an die richtigen Leute geriet, denn Selbstverteidigung schien kein Extra bei dieser Magie zu sein… Aber man konnte sich ja gut aus der Affäre ziehen.

So nützlich Madeleines Fähigkeiten auch schienen, in Aktion waren sie oft sehr wenig hilfreich. Was nützte eine noch so starke Waffe in den Händen eines erklärten Pazifisten? Sicherlich könnte das kleine Mädchen wunderbar Parcours laufen, doch sie war langsam und schwach. Sie könnte Angriffe ihrer Verbündeten verstärken, aber darauf kommen würde sie nie. Selbst wenn man sie darum bitten würde, gab es keine Garantie, dass sie sich einmischen würde: Wenn das Schicksal wollte, dass ihr Team scheiterte, dann sollte das wohl so sein. Deswegen hatte Ren mit seiner Vermutung vollkommen Recht: Auch Selbstverteidigung war keineswegs impliziert, weder in ihrer Magie, noch in ihrem Köpfchen. Sie hatte den Vorteil, dass sie klein und süß war, sodass sich bei vielen Menschen wahrscheinlich das schlechte Gewissen durchsetzen würde - doch gerade dies konnte auch ein Nachteil sein. Ein Spaziergang durch die Straßen der Stadt war für sie bei Nacht eine Gratwanderung, selbst wenn sie sich selbst vollkommen sicher fühlte. Das lag erstens daran, dass sie gar nicht auf die Idee kam, dass ihr jemand etwas antun könnte und zweitens, dass ein Überfall für sie weniger schlimm wäre, als gegen die Weisung des Schicksals zu agieren. Man könnte wohl ohne Übertreibung behaupten, dass Madeleines Erziehung ihr in der Hinsicht ihres Überlebens keinen großen Gefallen getan hatte.
*Meinst du, dass er fliegen kann?* Madeleine dachte nicht gerne in komplexen Zusammenhängen, denn jeder geistige Ruf schien in ihrem Kopf widerzuhallen, wie in einer leeren Kathedrale. Ab und zu beschimpften sich Menschen gegenseitig als Hohlköpfe und sie hatte die Vorahnung, dass ihr Schädel bei einer Autopsie tatsächlich ein ungewöhnliches Erlebnis darstellen würde, sollte man ihn auf sägen. Denken sollte einen eigentlich nicht vor größere Herausforderungen stellen... da gefiel ihr das Warten auf eine Antwort von Olphard deutlich besser, denn das sogar für sie sehr einfach. Doch die Stimme in ihrem Kopf ließ sich Zeit. Sie hatte gelernt, niemals an Olphard zu zweifeln, gerade, wenn sie mit anderen über ihn redete. Ren hatte sich sehr vorbildlich verhalten, als sie ihm das mit Olphard geschrieben hatte, aber der Hohepriester hatte sie gewarnt, dass es auch Zweifler geben würde. Es gab Doktoren, die Menschen, welche Stimmen hörten, unter Medikamente setzten, weil dies nicht der Norm entsprach. Wie viele potentielle Propheten man damit wohl schon gelähmt hatte? Glaubst du an Gott? Die Worte standen mit einem Mal auf dem Block, der sich wieder in ihre Hände verirrt hatte und sich wieder in Richtung Ren gedreht hatte. Das war etwas, das sie ganz abgesehen von ihrer Frage an Olphard wirklich beschäftigte und wenn sie sowieso damit beschäftigt war, auf den Herrn des Schicksals zu warten, dann konnte sie in der Zwischenzeit doch noch ein wenig Konversation betreiben. Kam ja selten genug vor.

Glaubst du an Gott … Diese Worte erblickten die silbernen Augen des riesigen Magiers soeben. An einem etwas irritierten Blick und einem dazugehörigen Ausdruck der Überraschung erkannte man wohl gut, dass der Hüne mit einer solchen Frage nicht gerechnet hatte. Zu seinem eigenen Erstaunen nahm er die Worte der jungen Magierin jedoch sehr ernst. Man konnte mit ein wenig Menschenkenntnis an seinem Gesicht sicher erkennen, dass er sich Gedanken darüber machte, denn diese Frage zu beantworten, würde selbst dem Akuma nicht leicht fallen…
Ren hatte schon seit seiner Kindheit stets an Übernatürliches geglaubt. Er konnte kaum lesen, als er begann sich mit den Sagen und Mythen zu befassen, die er in der persönlichen Bücherei seines Vaters hatte finden können. Die wenigen Nachbarn, die man in der Wüste finden und kennenlernen konnte, hatten dem kleinen Kerl auch stets Bücher mit gegeben, wobei nicht alle wirklich nach seinem Geschmack waren. Dennoch hatte er Literatur nahezu verschlungen und hatte sich ein Bild von vielen Dingen gemacht, die nicht existierten. Daher kannte er auch neben den verschiedenen Mythologien unterschiedliche Glaubensrichtungen und er hatte sich lang mit den Gedanken und Hoffnungen der Menschen auseinandergesetzt. So wusste er auch, dass einige an einen einzig wahren Herrscher und Gott glaubten, wobei wiederum andere davon überzeugt waren, dass es für die verschiedensten Lebensbereiche eine Obrigkeit gab. Es gab viele Geschichten in dieser Welt… Dämonen, Außerirdische, Monster, Götter… Ren glaubte ganz tief drinnen an all diese Dinge, vor allem weil er wusste, dass es die Energie der Dämonen wirklich gab. Aber was war „Gott“ für eine Person? War es überhaupt eine einzige Person?
Jemand mit Rens Hintergrund würde wohl, wäre er nicht Ren, niemals auch nur einen Gedanken an einen Gott verschwenden. Er hatte in seinem jungen Leben nichts falsch gemacht und trotzdem hatte er es fast verloren, bevor es überhaupt losging. All die Zeit in der Wüste musste er doch das Gefühl gewonnen haben, dass er seine Augen vor dem Leid der Menschen verschloss. Würde ein Gott so etwas tun? War es wirklich so, dass er die Menschen mit ihrem Leid allein ließ? War es da nicht besser nicht an einen Gott zu glauben? Wenn er an den Moment dachte, an dem er im Sand, mitten im Nichts gelegen hatte und eine halbe Ewigkeit lang niemand seine Schreie erhört hatte… Würde ein Gott das zulassen? Doch dann wurde er gerettet… um nur noch länger gequält zu werden. Er hatte Gott nichts zu verdanken. Selbst wenn er jemandem davon berichten würde, würde er vermutlich die Person umbringen, die behauptete, dass ihn dieses übermächtige Wesen auf den rechten Pfad geführt hatte.
So antwortete er auf Madeleines Frage mit: „Ja, ich glaube an Gott. Aber ich würde lieber meine eigene Seele aufgeben und Höllenqualen leiden, als zu behaupten, dass dieses willkürliche und erbarmungslose Wesen eine schützende Hand über die Menschheit hält.“ Sein Gesichtsausdruck dabei war verachtend, während man in seiner Stimme eine Menge Zorn hören konnte. Wenn er nicht wüsste, dass es keine Personifizierung Gottes gäbe, würde er vermutlich auch nach dessen Leben trachten… So ähnlich, wie bei seinem Vater. Allerdings hielt Ren Gott für einen selbstsüchtigen, ignoranten und willkürlichen Bastard. So oft las und hörte er die Geschichten davon, wie dieser allmächtige Herrscher die Gebete armer, leidender Seelen erhörte. Und ihn? Nicht einmal seine Rettung die auf seine Hilfeschreie in der Wüste erfolgt war, würde er einem Gott zuschreiben, da dieses Wesen ihn stets weiterleiden ließ, bis ER und niemand anderes sich selbst aus dieser Situation befreite. Da waren ihm Dämonen wirklich lieber… Sie waren böse und taten dabei nicht einmal so als wäre es anders.

Interessanterweise teilten Ren und Madeleine eine sehr ähnliche Meinung über ein göttliches Wesen, der Faulheit wegen abgekürzt als Gott. Der Riese hatte selbstverständlich guten Grund, anzunehmen, dass niemand eine schützende Hand über ihn hielt, da er kein schönes Leben gehabt hatte. Viele derjenigen, die Religion von Anfang an eingeimpft bekamen, waren jedoch dieser Meinung, bis hin zu der Annahme, dass Gott sie für irgendeinen Teil ihres Sündenlebens bestrafte, wenn sie krank wurden oder ihnen sonstige Schicksalsschläge widerfuhren. Madeleine hatte tatsächlich einen noch ein wenig anderen Ansatz, denn tatsächlich war ihr Gott zwar allwissend und omnipotent, aber nicht barmherzig. Viele Menschen, die jemanden anbeteten, erhofften sich damit Güte, Vorzüge und ein gutes Leben, Madeleine wusste, dass das die falsche Motivation war. Das Schicksal kümmerte es nicht, ob man es anerkannte, es war ein ehrlicher, gerechter Richter, der manchmal ein wenig länger für Entscheidungen brauchte, andere schnell und hart traf. Für einen Menschen waren seine Gründe oft nicht ersichtlich, aber deswegen war man ja auch nur menschlich. Madeleine und ihr Kult beteten den Schicksalsgott an, weil dieser ein höheres Wesen war. Sie wollten dadurch nichts erlangen, da ihnen schon durch das Wissen um ihn viel mehr bekannt war, als den meisten anderen; es war ihr ehrliches Verlangen, ihm zu dienen, nicht mehr. Das war es zumindest, was Madeleine verinnerlicht hatte und das war es, was man ihr beigebracht hatte. Die traurige Wahrheit klang wohl ein wenig anders, denn das Oberhaupt des Schicksalskultes war aller Wahrscheinlichkeit nicht einmal gläubig, sondern nutzte nur die Naivität seiner Untergebenen aus, um sonst etwas zu tun. Theta ließ sich nicht in die Karten blicken und selbst wenn er das täte, wäre Madeleines Blick zu verschleiert, um darin vernünftig lesen zu können. Sie zog ihren Block wieder zu sich und begann zu schreiben, sodass sich Ren wenige Minuten später offenbarte: Das ist okay. Gott ist auch nicht dafür da, einzelnen Menschen zu helfen. Das wäre ungerecht. Die Menschen müssen sich selbst helfen und indem sie das tun, erfüllen sie ihr Schicksal, ohne es zu wissen. Madeleine wusste ihr Schicksal oder zumindest war sie davon überzeugt, also konnte sie sich nicht unvoreingenommen selbst helfen. Unwissen konnte ein großer Segen sein, aber mit Glück war das wenig anders, es war einfach nicht für alle zugänglich… doch wenn wenige Menschen diese Bürde zu tragen hatten, war das vollkommen in Ordnung. Dieses Schicksal ist das Konzept, das wir als Gott definieren. Jedes Wesen hatte so gesehen also einen ganz persönlichen Gott oder Gott hatte für jeden eine andere Persönlichkeit, eben eine, die auf ihn zugeschnitten war. Die Gesamtheit dieser Gedankenwesen war letzten Endes das Göttliche, das entsprechend allem innewohnte – und interessanterweise wohnte es gerade in ihrem Kopf. Auf den ersten, vielleicht auch zweiten Blick, machte das alles überhaupt keinen Sinn, doch durch Madeleines Ohren gab es wenig, das klarer oder gar logischer war.
Das kleine Mädchen setzte sich wieder in Bewegung, die Rollen ihres Koffers schepperten über das raue Pflaster, als sie sich stetig ihrer Wohnung näherten. Doch nicht nur ihre Füße bewegten sich, auch ihr Geist war aktiv und wälzte die Worte des Blauhaarigen in der Leere herum. Es dauerte knappe eine Minute, bevor sie den Koffer erneut losließ und Ren kurz darauf erneut einen Satz entgegen hielt: Du hattest kein besonders schönes Leben, nicht wahr? Olphard hatte ihr mal erzählt, dass gerade diejenigen, denen es nicht gutging, Probleme mit dem Glauben an einen guten Gott hatten. Vielleicht hatte er ja auch dieses Mal recht gehabt – nein, ganz bestimmt hatte er das!