Naomi nahm im Zug neben ihrem Vater Platz. Sie glaubte nicht, dass einer ihrer neuen Bekannten neben dem Rollstuhlfahrer sitzen wollte. Nachdem Rio erwähnt hatte, dass sie einiges an Büchern zu Hause hatte, meldete sich Emaru zu Wort. Eine Weile redete er und Naomi, die etwas erschöpft war, kam mit dem Denken nicht ganz hinterher, aber es war regelrecht klar. Irgendwas an dieser Art zu fragen war schrecklich niedlich. Eigentlich waren Jungen immer so selbstbewusst und auch er hatte eigentlich den Anschein gemacht. Zumindest als er mit der deutlich schöneren und älteren Lia geredet hatte. Vielleicht hatte er auch eine Abneigung gegen Kinder wie ihr letzter Questpartner. Allerdings war es nützlich, dass er es am Ende noch einmal konkreter fasste. Besuchen, er wollte sie besuchen kommen. Dass Naomi dies schrecklich freute, musste nicht erwähnt werden. Nachdem sie eben fast geglaubt hatte, dass er sie gar nicht leiden konnte, war nun scheinbar das Gegenteil der Fall. Es wäre der erste ihrer Gilde, der sie besuchen würde und deshalb sah sie fast bittend zu ihrem Vater. Dieser nickte leicht und lehnte sich zurück. "Ja, natürlich komm mich einfach besuchen, wann du willst", in ihrer Tasche kramten sie einen Stift und ein Zettelchen heraus. So ordentlich wie es eben ging notierte sie dort: Nanao-chan und ihre Adresse. Dann reichte sie den Zettel an Emaru weiter und lächelte. Ihr Blick wanderte hinüber zu Tascha. Diese war eingeschlafen, schaffte es aber trotzdem noch ihr Essen zu vertilgen. Schlafessen, fast wie Schlafwandeln nur ungesünder für die Figur. Allerdings hatte sie damit scheinbar keine Probleme. Einige Mädchen würden dies sicher beneidenswert finden, aber Naomi war noch zu jung um sich darum, Sorgen zu machen. Die Landschaft glitt am Fenster vorbei und sie sah zu, wie sie vorbeizog. Ab und an warf sie Emaru einen Blick zu, der mit einem Lächeln verbunden war. Dies wurde leicht amüsiert von ihrem Vater zur Kenntnis genommen, der die Zeit im Zug eher damit verbrachte die Zeitung zu lesen. Ab und an warf er einen Blick auf die Schlafende, um zu prüfen, dass sie noch da und noch nicht von ihrem Sitz gerutscht war. Außerdem weckte er sie, als sie fast wieder in Oshibana angekommen waren. Auch an diesem Bahnhof fanden sich helfende Hände, die dem ehemaligen Gildenmagier aus dem Zug halfen. Naomi war voller Energie bei der Aussicht endlich ein paar Freunde, gefunden zu haben. Nun war es ihr egal, was die anderen von ihr dachten. Zum Abschied drückte sie Tascha herzlich und knuddelte sie kurz. Eigentlich nur aus eiskalter Berechnung, denn so würde es nicht auffallen, wenn sie Emaru ebenso herzlich knuddelte. Wozu sie gleich überging, nachdem sie Tascha ein paar verabschiedende Worte gesagt hatte. Nachdem sie dies dann auch mit dem Finsternismagier vollzogen hatte, verabschiedete sich auch ihr Vater und sie traten den Heimweg an.

Noch ehe er seine Frage gestellt hatte, war Natascha bereits eingeschlafen, und nein, es überraschte ihn kein bisschen, dass sie im Schlaf aß. Er hatte sie zwar bereits schlafend gesehen, aber da war kein Essen greifbar gewesen, dennoch war es nichts, das er nicht hätte ahnen können. So konnte er Nanao fragen, ob er sie besuchen konnte, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was Natascha denken würde, dennoch war er etwas unsicher. Es war nicht unbedingt seine Art, jemanden ohne Hintergedanken nach etwas zu fragen, und tatsächlich war ihm dieses Mädchen einfach sympathisch, was für ihn auch nicht wirklich üblich war. Für gewöhnlich war er eher oberflächlich, beurteilte die Leute zuallererst nach ihrem Aussehen und wertete dieses mindestens ebenso wichtig wie die Persönlichkeit. Viel Platz für tatsächliche Sympathie war da nicht, zumindest nicht, wenn man nicht so viel Zeit miteinander verbrachte, wie er und Natascha es aufgrund ihrer Quest getan hatten. Er kannte Nanao jetzt vielleicht zwei Stunden, wenn es hochkam, und auch, wenn sie durchaus sehr gut aussah – trotz ihres noch jungen Alters eine Zierde für Blue Pegasus –, war es bisher eigentlich eher ihre Art gewesen, die ihm imponiert hatte. Wenn er sich recht erinnerte, dann hatte sie gesagt, sie sei fünfzehn, also nicht viel mehr als ein Jahr jünger als er, auch wenn er in wenigen Tagen schon siebzehn sein würde. Das blonde Mädchen schien übrigens recht erfreut zu sein über seine Bitte, stimmte sogleich zu und holte einen Zettel hervor, um ihm ihre Adresse aufzuschreiben. Als er diesen entgegennahm und einmal darüber las, konnte man recht deutlich erkennen, wie sich auf seiner bleichen Gesichtshaut eine gewisse Röte ausbreitete. Nanao-chan. Auf der Notiz stand Nanao-chan! Damit hatte sie ihm wohl offiziell nicht nur den Spitznamen, sondern auch das chan zugestanden. Es war offensichtlich, dass nicht nur er sie mochte, sondern es andersherum ebenso war, ein Umstand der ihn ziemlich glücklich machte. Ein paar Mal erhaschte er einen ihrer Blicke und lächelte fröhlich zurück, irgendwie war ihre schüchterne Art richtig niedlich. Er beobachtete auch ihren rothaarigen Vater ein wenig, sah ihm dabei zu, wie er Zeitung las und ab und an nach den Mitreisenden guckte. Hin und wieder ließ der Dargin auch einen Blick auf die neben ihm schlafende Natascha gleiten, um sicher zu stellen, dass es ihr noch gut ging. Die meiste Zeit jedoch blickte er durch das Fenster in den nächtlichen Himmel oder tat so, als täte er dies, um einen verstohlenen Blick auf die junge Schattenmagierin zu werfen. Er war gerade ganz schön müde, nickte aber nicht weg, ohne sich anzustrengen blieb er wach und sein Kopf mehr oder minder klar. Die Rückreise war doch sehr angenehm.
In Oshibana Town angekommen, stieg die Vierergruppe aus dem Zug und es war Zeit, sich zu verabschieden. Schon schade, er hätte gerne mehr Zeit verbracht mit Nanao, und auch die Gesellschaft Nataschas war immer recht nett. Doch er würde beide sicher noch in der Gilde sehen, außerdem konnte er die Jüngere ja auch bald schon besuchen, wenn er wollte. Und er wollte, soviel stand schonmal fest. Das Mädchen verabschiedete sich erst bei Natascha, dann bei ihm mit einem kurzen knuddeln, und er war sich fast sicher, dass sie es bei ihm irgendwie herzlicher machte, weshalb er seine Arme auf ihren Rücken legte und sie kurz an sich drückte, ehe er losließ. „Auf Wiedersehen… bis bald, Nanao-chan“, sagte er freundlich, ehe sie sich mit ihrem Vater auf den Heimweg machte. Er blickte ihr noch ein wenig hinterher, dann winkte er Natascha noch zum Abschied mit den Worten: „Ciao, Natascha-san, wir sehen uns sicher bald nochmal.“ Damit verließ auch er den Bahnhof und machte sich auf, um möglichst bald wieder im kleinen Anwesen der Dargin zu sein. So würde er noch etwas Zeit haben, ehe Jin zurückkehrte. Dann konnte er noch ein paar Bücher heraussuchen, die Nanao vielleicht gefallen würden…