Cf: Blue Pegasus Gildenhaus

Irgendwann, es kam dem Dargin vor wie eine Ewigkeit, erreichten sie die richtige Haltestelle. Wie viele Stationen dazwischen gewesen waren, das wusste er nicht, er hatte nur den Namen erkannt, ein „Hier sind wir richtig“ gemurmelt und war aus dem Zug gewankt. Eigentlich war es noch nicht lang her, dass er geschlafen hatte, erst etwa 32 Stunden, doch die Zugfahrt hatte ihm den Rest gegeben. Anstatt wie zuvor von der Hitze wach gehalten zu werden, hätte er sich in dem angenehm kühlen Abteil schön ausruhen können, hatte sich aber gezwungen, wach zu bleiben, einfach um seiner Verantwortung gerecht zu werden. Um ein guter Leiter zu sein opferte er sogar seinen geliebten Schlaf, und dieses Opfer zog deutliche Spuren mit sich. Emaru war sichtbar übermüdet, sein übliches, höfliches Lächeln war einem Ausdruck vollkommener Gleichgültigkeit gewichen und seine Augen bekam er nicht mehr richtig auf, und als wäre das nicht genug, wollten sie auch noch immer wieder zufallen. Nach dem Verlassen des Zuges stützte er sich erst einmal an einen Pfeiler auf dem Bahnhof, an dem sie gerade waren, und wartete, bis seine Sicht von verschwommen wieder zu scharf wechselte, ehe er sich wieder an Noah wandte. „Von hier aus müssen wir in Richtung Südwesten laufen, dann sollten wir bald ankommen...“ Nur ein kurzer Satz, in dem alle nötigen Informationen steckten, der aber halb in einem Gähnen unterging; hoffentlich störte sich der Junge nicht zu sehr daran. Jetzt führte ihn Emaru erst einmal durch das Dorf, wankte öfter mal ein bisschen und stolperte auch ab und an, auch wenn er es jedes Mal mit herzlich wenig Eleganz schaffte, einem richtigen Fall zu entgehen. Der Unterschied zwischen dem wachen Emaru und diesem hier war sehr deutlich, man könnte meinen, er hätte sich ein, zwei Flaschen Sake gegönnt, doch nein; das war nichts als Schlafmangel.

Überraschend zielstrebig führte der müde Dargin Noah zum richtigen Ausgang des Dorfes. Obwohl er noch nie hier gewesen war und sich gerade sichtlich nicht auf der geistigen Höhe befand, schaffte er es, sich nicht einmal zu verlaufen, obwohl die Beschilderung dürftig war. Wie er das machte? War es Intuition oder der Geist seines Bruders, der ihn führte, oder war er einfach ein gigantisches Genie? Ehrlich gesagt, nein. Er mobilisierte einfach nur alles an Konzentration, das er gerade aufbringen konnte. Wie sooft, wenn er sich konzentrierte, hatten seine Hände eine altbekannte Stellung aufgenommen: Die Spitzen von Daumen, Zeigefinger und der kleinen Finger lagen aneinander, während Mittel- und Ringfinger eingeklappt waren. Diese Stellung wirkte wirklich Wunder... Und die Sicht, die sich hier gab, war wirklich wunderschön. Man konnte kilometerweit sehen, erkannte sogar entfernt das Dorf Mirobi, während sich durch die für West-Fiore üblichen üppigen Wiesen ein einzelner Pfad aus Asphalt schlängelte. Emaru war allerdings nicht in dem Zustand, die Aussicht zu genießen, alles, was er wahrnahm, war der Weg zu seinen Füßen und das Schild, das besagte, dass er nach Mirobi führen würde... Sie waren also bald da.

Emaru sollte die Veränderung an Noah gemerkt haben, alles andere wäre unlogisch. Er schien in nichts vertieft zu sein, was ihn daran hindern würde, den Kontrollwechsel zu verpassen und da die Veränderungen an dem Jungen offensichtlich war, konnte es wahrscheinlich jeder bemerken, selbst ein Blinder mit Krückstock, da sich ebenfalls die Art und Weise zu sprechen sich bei dem Espérance veränderte. Die Frage, die Noah seinem heutigen Missionsleiter stellte, schien so gut gewählt zu sein, dass dieser nicht wusste, was er antworten sollte. Nach reichlichem Wiederholen der Frage, kam endlich eine Information über die Lippen des Dargin: Er selbst hatte noch keine Ahnung, wie die Gegend aussah. Warum Emaru nicht sofort gesagt hat, dass er die Frage nicht beantworten konnte? Die Antwort darauf besaß nur der Weißhaarige. Noah wäre aber gewiss nicht enttäuscht gewesen, was hätte er auch machen sollen? Emaru den Kopf abreisen, weil keine brauchbare Information kam? Dass dies für den Stellarmagier unmöglich war, sollte offensichtlich sein- andersherum wäre es schon realistischer. Von der Müdigkeit, die sich in dem Dargin ausbreitete, merkte der Espérance zu Beginn nichts. Vielleicht lag es am der Geste, die Emaru durchführte, vielleicht lag es daran, dass Noah noch Probleme im Umgang mit Menschen hatte, vielleicht lag es auch einfach nur daran, dass er geistig ein wenig abwesend war. In den letzten Minuten der Zugfahrt driftete er wieder einmal in seine Fantasiewelt ab, in welcher er träumte. Dort betrachtete er sich und Leyla als ungestört und solange sie noch genügend Zeit hatten, um in der gemeinsamen, ausgedachten Welt Zeit zu verbringen, wollte wenigstens er die verbliebenen Minuten genießen. Die beiden Magier wechselten sowieso kein Wort und der Missionsleiter kämpfte mit seiner Müdigkeit, also würde er so schnell nichts verpassen. Der Blick des Beschwörungsmagiers schweifte aus dem Fenster, doch war sein Blick leer und konnte daher nichts erfassen. Er befand sich in seiner ausgedachten Welt, welche heute die Form eines Seeufers hatte, welches geschützt in einem Wald lag. Es gab keine Anzeichen von Leben, außer die von Noah und Leyla, welche am Ufer saßen und die Füße im Wasser baumeln ließen. Der Traum konnte für den Geschmack des Jungen lange weitergehen, wenn er nicht aus diesem gerissen wurde. Nach einer Weile bemerkte Emaru, dass die Haltestelle näher rückte und teilte dies seinem Partner mit. Während der Körper dies nicht mitbekam, projizierte der Geist einen Hasen, welcher, im Traum, zum See lief und genau die gleichen Worte an die Jugendlichen richtete, die der Emaru sagte. Da Noah sich keinen sprechenden Hasen ausgedacht hatte, geschweige denn mit der Stimme Emarus, wusste er, dass nun die Station zum Fußmarsch näher rückte…

Noah folgte dem anderen Magier aus Blue Pegasus, schaute sich aber auch ein wenig selbst um. Wenn der Braunhaarige dies richtig beobachtete, waren die beiden Magier die einzigen, die diesen Zug verlassen hatten. Vielleicht konnte es auch sein, dass jemand vor ihnen das Gefährt verlassen hatte und schnell außerhalb der Sichtweite des Jungen war, aber dies bezweifelte er eher. Vielleicht war es nur purer Zufall, aber möglicherweise war die Gegend auch nicht beliebt. Was stimmte, sollte sich noch in der Mission herausstellen. Doch während er jetzt seine Aufmerksamkeit mehr auf den Finsternismagier richtete, merkte er, wie dieser übermüdet war. Zwar versuchte er, möglichst wach zu bleiben, aber dies schien ihm nicht leicht zu fallen. Wäre es vielleicht nicht doch das Beste, wenn der Dargin etwas Schlafen würde? Immerhin hatten sie noch eine lange Reise vor sich, von der Arbeit einmal abgesehen. Jetzt war er bestimmt auch nicht auf geistiger Höhe, was die Arbeit weiter erschweren würde. Aber er schaffte es, den Weg zu finden- beziehungsweise das Schild, welches den Weg nach Mirobi deutete. „An mir soll es nicht scheitern.“, gab der Braunhaarige von sich, während sich beide noch vor dem Wegweiser befanden. Er konnte noch laufen, doch wie es bei Emaru aussah, konnte nicht einschätzen. Irgendwie schaffte er es, seinen Partner zielstrebig zum richtigen Ausgang des Dorfes zu bringen. Wie auch immer das der Dargin schaffte, Noah hatte keine Ahnung. Vielleicht machte ihm der Schlafmangel ja nicht so sehr zu schaffen, wie der Stellarmagier erwartet hat. Am Dorfausgang angekommen, konnte man einen wunderschönen Blick über die Wiesen West-Fiores erhaschen, der bis zu dem Zielort reichte. Wie eine Schlange aus Asphalt existierte eine Straße, die sich bis zu dem Dorf schlängelte. Man konnte wirklich in dem Blick versinken, doch Noah konzentrierte sich momentan eher auf seinen Partner. Schaffte dieser den Weg? „Bist du sicher, dass du den Weg schaffst? Meinetwegen können wir eine Pause einlegen und schläfst einen Moment, bevor du mir zusammenklappst. Die Arbeit wird uns schon nicht wegrennen…“ Im Großen und Ganzen war die Stimme emotionslos, doch konnte man eine Spur von Sorge erahnen.

Noah machte sich also Sorgen um ihn... das war wirklich nett. Er als Leiter würde diese Quest aber sicher nicht zeitlich zurückfallen lassen, nur weil er nicht so ganz auf dem Damm war. Er war ein erfahrener Magier von Blue Pegasus, außerdem eine Zierde für ganz Oshibana Town – so sah er sich auf jeden Fall –, da konnte er sich so einen Fehltritt nicht leisten. Außerdem musste er den weniger erfahrenen Magiern wie Noah ein gutes Vorbild sein, immerhin waren sie die Zukunft seiner Gilde... Ja, es war wichtig, dass er jetzt durchhielt. Also lächelte er nur müde und winkte ab. „Vielen Dank, das ist sehr rücksichtsvoll von dir. Aber du musst dir deswegen keine Sorgen machen... Ich bin meistens müde, das ist in der Gilde auch ziemlich bekannt. Das macht nicht mehr viel aus.“ Hoffentlich konnte er seinem Partner damit etwas Sicherheit vermitteln... Er hatte ihn ja auch schon in einem Wolfskäfig schlafen gesehen, da sollte es keine zu große Überraschung sein. Und wenn er wusste, dass Emaru damit umgehen konnte, so müde zu sein, sollte doch eigentlich alles in Ordnung sein. Zufrieden mit dieser Erkenntnis, machte sich der Dargin also bereit, dem Weg zu folgen, nahm die ersten Schritte auf der asphaltierten Strecke auf und blickte in Richtung des verschwommen erscheinenden Dorfes. Nun, es wäre wahrscheinlich deutlich zu erkennen, wenn er nicht so müde wäre, aber er wusste auch so, wo er lang musste, da klappte es auch so. Die Struktur der Straße missfiel ihm allerdings deutlich; anstatt einfach stur geradeaus zu gehen und so nach Mirobi zu führen, war sie schlangenlinienförmig angelegt. Schlangenlinien! Nichts gegen Schlangen, aber für einen Weg war das nun wirklich nicht die richtige Form...
Nun konnte man aber nicht mit dem Weg darüber streiten, wie er verlaufen sollte, also warf Emaru ein paar seiner Kaugummis ein und folgte einfach brav den Vorgaben. Während die Zeit verging und die Strecke zurückgelegt wurde, konnte man ein paar Veränderungen bemerken: Zuerst ging Emaru einfach, machte die Linien nach, die der Asphalt ihm vorschrieb, und schaffte es sogar, relativ aufrecht zu stehen, auch wenn man sehen konnte, dass sein Kopf ab und an das typische Nicken einer Person nachmachte, die kurz davor war, einzuschlafen. Irgendwann begann das Wanken, sein Körper fing an, ein wenig zu hängen, seine Schritte wurden langsamer, träger, während sein Oberkörper sich immer stärker nach links oder rechts kippte, je nachdem, welchen Fuß er gerade aufsetzte. Die Kurven wurden auch immer enger, bis seine Augen als nichts anderes gewertet konnten als geschlossen, und seine Atmung sich herabsenkte, zu diesem Zeitpunkt lief er einfach nur noch geradeaus. Folgte nicht mehr der Strecke unter sich, sondern einfach der direktesten Linie zum Ziel, und das minder freiwillig. Jedes Mal, wenn seine Füße vom Asphalt auf die Wiese kamen, sackte er kurz zusammen, ehe er weiterging, und sobald er wieder auf den Weg kam, strauchelte er kurz, blieb aber völlig unbeirrt. Ja, Emaru Dargin hatte es tatsächlich geschafft, im Laufen einzuschlafen, und weiterhin zu laufen. Nicht stehen zu bleiben oder gar umzukippen, nein, er ging einfach weiter. Sackte zusammen, ging weiter, strauchelte, ging weiter, sackte zusammen... Bis es nicht mehr ging. An einer Stelle schaffte er den Übergang zwischen Gras und Weg nicht so reibungslos, strauchelte stärker, verlor das Gleichgewicht und kippte um, einfach gerade nach vorne, auf das harte Gestein; und machte keine Anstalten, wieder aufzustehen. Seine Atmung blieb unbeirrt ruhig, seine Augen blieben geschlossen, er schlief weiter. Keine Reaktion auf den Sturz... aber vielleicht sollte er sich doch ein wenig ausruhen.

„Dann wollen wir einmal hoffen, dass du das Ganze auch wirklich durchhältst. Beschwer dich später aber nicht, wenn du doch Schlaf gebraucht hättest.“ Wenn Emaru wirklich problemlos wach bleiben konnte und gleichzeitig noch fähig wäre, zu arbeiten, sollte Noah mit dem Zustand seines Kameraden überhaupt kein Problem haben. Wenn er jedoch zusammenbrechen würde, was durchaus passieren konnte und würde, würde er sich wahrscheinlich doch nur bestätigt fühlen. Emaru war in der Gilde die erste Person, Leyla außen vor, zu der der Espérance langsam vertrauen aufbaute- und wenn da Emaru einfach auf der Straße einschlief, würde dies gegebenenfalls nicht sonderlich gut ankommen. Aber darüber konnte man sich immer noch Gedanken machen, wenn es soweit war. Immerhin hatte der Spross aus reichen Verhältnissen gesehen, wie Emaru in einem Wolfskäfig geschlafen hatte, da konnte man dem Dargin so einiges zutrauen, wenn es ums Thema Schlafen ging. Außerdem wollte er eine Vorbildfunktion einnehmen, wodurch er die Zähne zusammenbeißen musste und die Augenlieder am besten an den Augenbrauen festgeklebte, damit er auch schön brav wach blieb. Doch anscheinend schien der Magier Übung im wachbleiben zu haben. Während andere Menschen schon längst an Ort und Stelle eingeschlafen wären, konnte der Dargin verhältnismäßig problemlos laufen. Zwar lief er keineswegs gerade, sah eher so aus, als hätte er einen über den Durst getrunken, doch fand er noch seinen Weg… irgendwie. Vielleicht schlafwandelte er ja auch schon und sammelte Energien, um im Dorf endlich wieder volle Kräfte zu haben? Aber garantiert war er zu keinem Zombie mutiert, wenigstens erinnerte er Noah ein wenig daran…
Mit der Zeit verschlechterte sich sein Laufen immer mehr. Erst konnte er normal laufen, doch dann bekam er immer mehr Probleme mit der schlangenähnlichen Straße, nickte regelmäßig (ohne etwas bejahen zu können), kippte nach rechts und links und konnte nur noch geradeaus laufen. Zwar war der Weg so etwas schwerer, doch schafften sie es so wenigstens, mehr Strecke in kürzerer Zeit zu schaffen. Aber dann passierte, was irgendwann unausweichlich war und Emaru bestimmt nicht gewollt hatte: Er fiel hin. Jeder normale Mensch würde wieder aufstehen und seinen Weg fortsetzen, doch war dies für einen Magier viel zu gewöhnlich. Lieber blieb er liegen und könnte sich eine Mütze Schlaf. Noah stand da und starrte seinen Teamkollegen an. Was sollte er jetzt machen? „Das wurde aber auch endlich Zeit.“ Das Schweigen wurde durch Leyla durchbrochen- naja, wohl eher das Schweigen für Noah. Emaru konnte nichts mitbekommen, da Leyla gedanklich mit ihrem männlichen Part sprach, auch wenn zu bezweifeln war, dass der Weißhaarige durch diese Worte wach werden würde. So müde wie er war, müsste man wahrscheinlich einiges aufbringen und nicht nur ein paar Worte in normaler Lautstärke. Aber was sollte der Stellarmagier jetzt machen? Seinen Kameraden konnte er eigentlich nicht auf der Straße liegen lassen, doch andererseits brauchte er Schlaf- wenigstens ein wenig. Nach einem Moment überlegen hatte der Junge einen Entschluss gefasst. Momentan würde er dem Finsternismagier etwas Schlaf gönnen, ob sie nun eine halbe Stunde früher oder später ankommen würden, würde bestimmt keine tragischen Folgen haben- und Emaru konnte besser seine Kräfte wiedergewinnen. Um sich selbst die Zeit zu vertreiben, lehnte sich der Espérance an einen Baum mit Blick auf Emaru. Dieser schlief auf offener Straße und so sollte niemand auf die Idee kommen, dass man ihn einfach bestehlen konnte. Immerhin gab es noch die tödliche Waffe Noah, die Diebe zerfleischen würde, sollten sie den Kameraden bestehlen wollen. Auch wenn dies völlig übertrieben war, konnte er so wenigstens abschreckend wirken- immerhin gab es einen Zeugen, der bei einer Straftat nie gut für den Täter war. Auf einen Notizblock schrieb er einige Eindrücke von der Natur und dem bisher gesehen auf, natürlich auch von seinem Mitmagier. Daheim würde er daraus bestimmt eine interessante Geschichte schreiben können. „Das Schlafwandeln nach Mirobi“ klang bereits vielversprechend. Nach etwa einer halben Stunde, so genau nahm es der junge Magier in diesem Fall nicht, weckte er seinen Teamkollegen, doch war dessen Zustand alles andere als normal. Im Vergleich zu vorhin gab es keine sonderlich große Änderung- er schwankte leicht, fand aber nun zielsicherer seinen Weg. „Hoffen wir, dass es jetzt erst einmal gut läuft und er sich noch ein wenig erholt.“, murmelte er vor sich hin.

Alles in Allem kamen die beiden Magier gut voran. Emaru lief einigermaßen sicher, falls man davon in seinem Zustand sprechen konnte, und Noah musste nicht viel auf seinen Kameraden aufpassen. Die Reise konnte so gut verlaufen, wenn nicht plötzlich, auf den letzten sechs Kilometern vor Mirobi, ein Irrer auftauchte und die Magier davor abhalten wollte, in das Dorf zu geraten. Wäre er normal aufgetaucht, wäre es vielleicht noch ertragbar gewesen, doch dieser Wahnsinnige musste ausgerechnet aus einem Busch kommen und sich die Seele aus dem Laib schreien… „HAAAAAAAAALLLT!“, war alles, was er im ersten Moment von sich gab. Während er es durch den plötzlichen Auftritt schaffte, dass wenigstens Noah stehen blieb, zeigte sich Emaru unbeeindruckt und torkelte weiter. „Seid ihr wahnsinnig?“, polterte der Fremde los, während er vor Emaru rannte und diesen aufhalten wollte, doch dieser sich immer noch unbeeindruckt zeigte und einfach weiterlief. „Ihr wisst, dass ihr euch nach Mirobi begebt? Die Leute dort sind irre, gaga, plemplem. Glaubt dem Weisen Heiner und dreht um, solange ihr noch könnt!“ Was sollte Noah von diesem Paradiesvogel halten? Das weiße T-Shirt, welches mindestens zwei Nummern zu klein war und den halben Bierbauch offenbarte, der irre Ausdruck in den Augen oder die unterschiedlichen Schuhe an den Füßen sorgten generell nicht dazu, dass dieser Mann besonders vertrauenswürdig aussah- geschweige denn wie ein Weiser, als welchen er sich ausgab. Während Emaru einfach weiterlief entschloss sich Noah, seinem Kameraden zu folgen. Ihn durfte man momentan nicht allein lassen. „Seid ihr taub oder noch schwerer vom Begriff als die Mirobianer? Glaubt mir und dreht lieber um! Langsam glaube ich ihr wisst nicht, wohin ihr geht, obwohl ihr mir recht intelligent erscheint- wenn auch nicht so sehr wie ich es bin, natürlich.“ Besaß Mirobi vielleicht eine Irrenanstalt, welche einen Patienten vermisste? Wenn ja würde dies das Erscheinen dieses Irren erklären. Aber aufhalten durften sich die Magier nicht lassen. „Danke für die Sorge, doch wir werden schon zurechtkommen. Wir sind Magier von Blue Pegasus und haben in dem Dorf Arbeit zu erledigen.“ Mehr sagte Noah nicht mehr und schloss schnell mit Emaru auf. Das mit dem Zurechtkommen war in Anbetracht der Tatsache, dass der Dargin einem schlafwandelnden Zombie glich, doch fragwürdig. Doch dem Weisen Heiner war diese Aussage nicht genug. Wild gestikulierend folgte er seinen „Schützlingen“ und wollte sie von ihrem Pfad abringen. Allerdings versuchte Noah nach Möglichkeiten, diesen dahergelaufenen Trottel möglichst wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Vielleicht klappte ja wenigstens das?

Eine halbe Stunde Schlaf konnte erfrischend sein wie eine schöne, kalte Dusche. Als Noah Emaru weckte, dröhnte dessen Schädel, hämmerte ein bisschen und schmerzte ganz schön, aber immerhin fühlte er sich jetzt wacher. Ein wenig schwindlig war ihm noch, das merkte er, während er aufstand, und seine Glieder waren irgendwie schwer, aber ein wenig schleppend und taumelnd konnte er seinen Weg wieder fortsetzen. Es war ja nichts Schlimmes und auch nichts, das besser wurde, wenn man auf der Straße sitzen blieb und wartete, also war es wohl klüger, einfach weiter zu laufen. Die frische Luft, die hier draußen auf dem Land herrschte, fühlte sich beim Atmen angenehm an, und langsam merkte der Dargin, wie seine Kopfschmerzen sich aufzulösen begannen. Diese wunderschöne Ruhe, diese friedliche Atmosphäre und die weiten Wiesen mit ihrem Duft nach gut gewachsenem Gras, all das war Balsam für den gepeinigten Zustand des jungen Mannes, der sich seinen Weg in Richtung Mirobi bahnte. Vor allem half es, dass außer den Schritten der beiden und dem sachten Wind kein einziges Geräusch zu hören war, es gab nichts, das störte oder ihn aus seiner Konzentration reißen konnte oder... „HAAAAAAAAALLLT!“ ….. Nervensäge. Der Warnende hatte sich einen denkbar schlechten Zeitpunkt ausgesucht, Emaru zu stören. Mit einem Schlag begann sein Kopf wieder zu dröhnen, sodass er eine Hand daran legte und einfach weiter ging. Mit diesen Kopfschmerzen verstand er eh nicht, was ihm gesagt wurde, und von seinem Ziel ließ er sich nicht abbringen, immerhin hatte er eine Aufgabe zu erledigen. Er schritt an dem Fremden vorbei, ignorierte ihn völlig, während er seine Augen nicht von seinem Ziel ließ und einfach hoffte, dass Noah sich nicht weiter mit ihm aufhielt. Müde nach vorne starrend, versuchte er, sich wieder etwas zu beruhigen, seinen Kopf klar zu bekommen, ohne auf das Gezeter des Fremden zu achten. Eine Weile funktionierte das auch ganz gut, doch leider entschied sich dieser weise Heiner dafür, den beiden Magiern auch noch zu folgen auf ihrem Weg. Und dabei beließ er es nicht, nein, er sprach noch weiter und klopfte mit seinem Hammer aus Worten ganz schön fest auf Emarus Dach, was für dessen Kopfschmerzen war wie alte Lebensmittel für Schimmelpilze. Langsam aber sicher wurde der Weißhaarige wirklich sauer, um nicht zu sagen wütend. Hinter seinem müden, teilnahmslosen Gesichtsausdruck brodelte es, während natürlich auch Shi seinen Senf dazu beitragen musste: Na komm schon, bereite diesem armen Mann sein wohl verdientes Ende. Er hat es doch wahrlich lange genug mit seinem minder gesegneten Verstand aushalten müssen, da wäre er sicherlich froh, wenn jemand seine Zeit hier verkürzen würde. Du könntest ihn zu einem kleinen Häufchen prügeln, oder ihm einen Stachel durch die Brust jagen. Oh, oder mit deinen Klingen... Ja, es ging noch weiter. Von innen und außen wurde der Dargin bearbeitet, wurde gedrängt, seine ruhige Art auszuklammern und sich abzureagieren an der Person, die seinen Kopf gerade so zum Pochen brachte. Während sich sein Zustand verschlechterte, bemerkte Emaru, wie etwas Schwarzes vor ihm aufstieg. Seltsam. Dann noch etwas, und noch etwas, es sah aus wie Schneeflocken mit dem Unterschied, dass sie komplett schwarz waren... und nach oben fielen, anstatt nach unten. Er blickte hinab und sah, woher das stammte: Aus seinen Armen und Händen lösten sich diese Flocken, und auch am Rest seines Körpers drangen sie durch die Kleidung hinaus in die Luft. Das war pure Finsternis, oder besser gesagt, pures Finsternismana. Seine Konzentration war so weit gesunken und sein Zorn so weit gestiegen, dass Teile davon einfach aus seinen Poren drangen, und da Mana leichter als Luft war und Finsternis kein Eigengewicht hatte, stiegen sie natürlich nach oben. Die Zähne zusammen beißend, zwang er seine Konzentration wieder zurück, unterdrückte Shi, blendete Heiner aus und blickte auf; da war es, das große Tor von Mirobi! Moment... Ein großes Tor? Davon hatte James gar nichts erzählt, dabei war das doch sehr auffällig. Schon nach den ersten Schritten in das Dorf hinein merkte Emaru, dass es hier nicht so baufällig aussah wie erwartet, und als er sich genauer umsah, erkannte er auch, warum: An vielen Häusern standen noch immer Gerüste, die auf eine komplette Restaurierung schließen ließen. Dieses Dorf wurde zurzeit überarbeitet, und das Tor war wohl auch eine Neuerung gewesen. An einer Mauer arbeiteten diese Leute wohl auch schon...
Wo genau sie sich jetzt nach ihrer Ankunft melden sollten, wusste der Weißschopf aber nicht, da würde man einen Einheimischen brauchen. Es dauerte einige Momente, bis Emaru jemanden entdecken konnte. Hier war es wie leer gefegt, und die Person, die da war, stand auch nicht offen auf dem Platz. Er konnte sie gerade so erkennen, eine Silhouette, die hinter der nächsten Ecke lauerte und die Fremden scheinbar genau im Visier hatte. Langsam schritt er auf diese Person zu, bis er nah genug bei ihr stand, um sich einen Überblick zu erschaffen. Vor ihm stand eine junge Frau, etwa in seinem Alter, mit sehr engen Klamotten, zerzaustem braunen Haar, einer Zigarette im linken Mundwinkel und einem Blick, der vermuten ließ, dass sie ihn am liebsten getötet hätte. Er lächelte sie höflich an. „Was wollt ihr, Fremde?“, fragte sie harsch, ehe er eine Chance hatte, den Mund aufzumachen. Er lächelte weiter. „Mein Name ist Emaru Dargin, und ich bin Magier aus Blue Pegasus. Ich wollte sie fragen, ob...“ „Klappe“, unterbrach sie ihn, zog an ihrer Zigarette und blies Rauch in die Luft, wobei sie Emaru einen Blick schenkte, als wäre er ein Hundehäufchen, das man auf der Straße hatte liegen lassen. „Wir wollen euch hier nicht, also verschwindet gefälligst!“ Das Lächeln wurde leicht bitter, doch noch immer wahrte Emaru die Fassung – eine erstaunliche Leistung, wie jeder wüsste, der ihm in den Kopf hätte sehen können. „Wir wurden beauftragt, hierher zu kommen, um eurem Dorf bei einem Problem zu helfen. Wenn sie also bitte...“ Weiter kam er nicht. Just in diesem Moment blies diese junge Frau, die ihrem Aussehen nach wohl nicht zum ersten Mal rauchte, ihm nämlich eine gehörige Portion verbrannten Sauerstoffes mitten ins Gesicht. „Sprech ich undeutlich? Ich sagte, verschwindet gefälligst!“ Laut wurde sie also auch noch... die Hand des Dargin zuckte. Er würde sich nicht mehr lange zurückhalten können...

Es war wirklich erstaunlich, wie erfolgreich der Dargin diesen Weisen Irren ignorieren konnte. Ohne Probleme lief er an Heiner vorbei und würdigte ihn keinen Moment. Von dem Zorn, den Shi versuchte, in Emaru zu schüren, bemerkte Noah natürlich nicht- Gedankenlesen befand sich leider nicht auf der Liste seiner Talente. Aber der Espérance versuchte weiterhin, den Fremden nach Möglichkeiten zu ignorieren. Aber Noah hatte es nicht wirklich schwer, diese Aufgabe zu erfüllen: Das Hauptinteresse unseres Gelehrten lag auf Emaru. Doch jedes Rad, welches er schlug, jeder Purzelbaum oder Versuch, Interesse zu bekommen, wurden von dem Finsternismagier erfolgreich ignoriert. Selbst als sich Heiner zum letzten Idioten machte (falls dies überhaupt jemand toppen kann), indem er einen Baum hochkletterte, von einem Ast vor die Magier springen wollte um diese zu erschrecken, küsste er mit der Grazie eines fallenden Steines den Boden, schaffte er es nicht, bei den Magiern eine ernsthafte Reaktion auszulösen. Im Inneren von Noah herrschte hingegen ein Orchester aus Gelächter, da Leyla die Show genoss und seit etwa der letzten Viertelstunde ununterbrochen lachte. Bei Noah zuckte nur eine Augenbraue hoch. Während es von Heiner noch die ein oder andere gut gemeinte Showeinlage gab, veränderte sich wieder einmal das Auftreten von Noah in einem altbekannten Weg: kurzum, alles verbesserte sich. Noch bevor der Junge nun auch nach außen zu lachen beginnen konnte, da Leyla die Kontrolle bekam, begann Emaru, den Vorhang fallen zu lassen. Unbewusst entließ er Finsternismana, welches entgegengesetzt wie Schneeflocken gen Himmel schwebten. Wenn dieser es nur zur Show machen würde, wäre es wirklich schön anzusehen, doch etwas lag näher. Womöglich würde er einen weißgekleideten Witzbold angreifen, wenn er sich nicht wieder beruhigte. Leyla versuchte etwas mehr aufzuschließen, bevor sie das Wort erhob. „Emaru, glaubst du nicht…“, weiterkam die Gute nicht, da ein plötzlich auftretender, schriller und hoher Schrei dafür sorgte, dass sich Leyla umdrehte. Heiner riss die Arme nach oben und rannte hysterisch schreiend davon. Zwar nicht außer Sichtweite, aber weit entfernt und versteckt. Was dieser Irre nicht das Idealbild eines Mannes? Leyla begann jetzt nicht zu lachen, doch ungewollt zuckte ein Mundwinkel mehrmals nach oben. Vielleicht sollte Heiner als Comedian arbeiten, dann würde er bestimmt gutes Geld verdienen.
Die restliche Strecke bis nach Mirobi verlief erstaunlich gut und besonders ruhig. Heiner versuchte nicht mehr ernsthaft, die Magier an ihrem Weg zu hindern und etwa einen Kilometer vor der Ortschaft war er komplett in einem Busch verschwunden- seinen letzten Außenposten, in dem er Fremde retten würde, falls diese doch schnell vor den Mirobianern fliehen wollten. Schließlich wollte er niemanden zurücklassen. Besonders da er so eine große Hilfe war ein verlockendes Angebot. Emaru gelang es, bis zu dem Dorf wieder einen Teil seiner Stärke zurückzugewinnen und wirkte wieder recht normal, als er die Ortschaft betrat. Was die Stellarmagierin an dem Ort allerdings erstaunte war, dass dieser stellenweise neugebaut wurde und sogar eine Mauer errichtet wurde. Was hatte sich hier ereignet? Wurde die Ortschaft angegriffen oder wollten sie sich nur von Fremden isolieren? Wenn ja, hatte Emaru doch die Wahrheit erzählt. Die außergewöhnliche Gastfreundschaft der Einheimischen sollte sich zeigen, sobald die Magier das Dorf betreten würden. In manchen Ortschaften würde sich sofort eine Menschentraube auf die Ankommenden stürzen, um sie mit Informationen zu überhäufen. Doch hier war der Ansturm erstaunlich und nicht messbar. Weshalb? Keine Menschenseele erschien und wahrscheinlich wollte jeder Einheimische schnell das Weite suchen, bevor er angesprochen werden konnte- doch Emaru konnte noch eine Silhouette verfolgen. Die Magier begaben sich dorthin, doch beobachtete Leyla zu Beginn eher die Umgebung und eher weniger die Szene, die sich vor ihr abspielte. Während sie nichts finden konnte, entbrach fasst eine Auseinandersetzung vor ihren Augen. Die Einheimischen hier waren schon komisch… Irgendetwas musste die Cope sagen, damit sich die Spannung legte. Auch mit dem Risiko, dass sich nichts ändern wurde, sprach sie. Mehr als schief gehen konnte es nicht… „Du willst, dass wir schnell verschwinden? Dann behindere nicht unsere Arbeit und gib uns gefälligst die Informationen, die wir wollen. Wir gehen erst, wenn wir mit unserer Arbeit fertig sind. Außer du schaffst es natürlich, uns zum Gehen zu bewegen.“ Das Gesicht besaß ein Lächeln, welches doch recht konträr wirkte. Anfangs sprach sie noch freundlich, doch gegen Ende bekam sie einen leicht schneidenden Unterton. Sie waren hier zum Helfen, nicht um Probleme zu stiften, also konnte man doch wenigstens etwas Kooperation erwarten, trotz jedem Fremdenhass. Vielleicht würde die Tatsache, dass sie zwei Magier vor sich hatte, die Fremde dazu bewegen, mitzuarbeiten. Als normaler Mensch würde sie wahrscheinlich weniger gegen Magier ausrichten könnten- zu mindestens gegen Emaru, Noah war nicht viel gefährlicher als ein normaler Bürger. Aber das mussten die Fremden ja nicht wissen…

Tik, tik, tik... Die Sekunden, die Emaru noch blieben, ehe sein Zorn sich nicht mehr in seinem Inneren versteckt halten konnte, verstrichen, eine nach der anderen, es war bloß noch eine Frage der Zeit. Sein Lächeln war in der Rauchwolke verschwunden, seine Augen, zusammengekniffen wie die einer Schlange, fixierten sein Gegenüber. Man sah der Frau an, dass sie etwas verunsichert war, das hinderte sie allerdings nicht daran, weiterhin herabwürdigend zu gucken. Sollte das hier etwa ein Wettkampf werden, wer länger starren konnte?
Nun mischte sich auch Noah noch in diesen Konflikt ein. Wie er sprach, klang gar nicht nach diesem schüchternen Jungen ohne Elan, also brauchte der Dargin ihn nicht einmal ansehen, um sicher zu sein, dass er wieder zu Leyla geworden war.
Nicht schlecht, sie versuchte also, zu verhandeln, die Dorfbewohnerin unter Druck zu setzen. Diese wäre sicher froh, den gruseligen Weißschopf mit dem gemeinen Starren los zu sein, und sie zeigte das auch recht deutlich, mit einem unentschlossenen Blick zu ihm und einem Schlucken. „V-Vergiss es!“, antwortete sie schließlich, auch wenn sie nicht sehr überzeugt klang. Emarus Mundwinkel gingen leicht nach unten. „Ich... also, ich werde ganz sicher keinen Fremden helfen! Niemals!“ Jetzt schrie sie schon fast. Sie klang wütend, doch geübten Schauspielern wie Emaru und sicherlich auch Leyla konnte sie nicht vormachen, dass sie keine Angst hätte. Vor irgendetwas fürchtete sie sich, vor etwas anderem als den Zauberern. Ihre Augen flitzten einmal kurz über die Umgebung, um sicher zu gehen, dass kein anderer Dorfbewohner da war. Sie räusperte sich und sprach noch wütender weiter: „Lasst mich jetzt in Ruhe... Ich will nicht mit euch gesehen werden!“
Tik, tik, tik...
Das Lächeln kehrte auf Emarus Züge zurück, hatte etwas Bedrohliches. Seine Haare fielen ihm ins Gesicht... und mit einer fließenden Bewegung wischte er sie wieder weg. „Bitte, junge Lady... Ich weiß nicht, wovor sie sich fürchten, aber sie wollen nicht erleben, wie ich sauer werde. Glauben sie mir.“ Eiskalt sprach er diese Worte aus, hörte mit seinem Starren nicht auf. Dieses Starren, das selbst Felsen zum Erzittern bringen konnte... Es musste etwas wirklich Schlimmes sein, wegen dem diese Frau nichts sagen wollte. Schlimm genug, um sich mit einem Magier anzulegen. Sie zitterte leicht, schüttelte aber den Kopf: „N-Nein! Ich werde euch nichts sagen! Ich kann nicht!“ Langsam näherte sich Emarus rechte Hand, legte sich mit sanftem Druck auf ihre Schulter, doch sein Starren ließ nicht nach. Viel Zeit blieb ihr nicht mehr, sie musste etwas sagen. „.....“ Angsterfülltes Schweigen.
Tik, tik, tik, tik... Ding!
In einem Moment wurde aus dem Lächeln ein Grinsen, die Hand auf ihrer Schulter legte sich schnell um ihren Hals, drückte nicht gerade locker darauf ein und presste sie an die Wand. In den Augen Emarus stand der Wahnsinn geschrieben, doch mit einem kurzen Nicken ließen sich ein paar Strähnen der weißen Pracht darüber fallen. „Hehehe...“, lachte er bitter, seine Stimme wieder mal ein wenig nach unten verschoben. Dann wurde das Lachen lauter, und der weißhaarige Körper begann, sehr laut zu sprechen: „Vielen Dank, Maru-chan! Vielen Dank! Ich durfte seit fast zwei Jahren niemanden mehr so schlimm verletzen, wie ich es mit ihr machen werde... Noch ein paar letzte Worte, Milady?“ „W-was...?“, stammelte die Fremde schockiert, doch Shi, der sie ja noch immer am Hals gepackt hatte, zog sie einfach etwas näher zu sich und stieß sie noch einmal hart gegen die Wand. „W... Was wollt ihr denn wissen?“ Verweiflung. In ihrer Stimme lag Verzweiflung! Shi leckte sich über die Lippen; Verzweiflung war eine Delikatesse. „Wir suchen den Mann, der uns angeheuert hat... Wie hieß der noch gleich, Noah?“ Auf dem Zettel hatte der Name gestanden, doch Emarus berühmtes Namensgedächtnis hatte es sich natürlich nicht eingeprägt. „D-Das war Richard“, keuchte die Frau, die offenbar kaum Luft bekam. „Jeder im Dorf weiß, dass das Richard war! Er wohnt am anderen Ende von Mirobi, ihr müsst einfach nur der Hauptstraße folgen, bis ihr zu dem anderen Ausgang kommt. Da steht nur ein Haus, weil keiner mit Richard zu tun haben will!“ Kalt sah das Alter Ego sie an, seufzte. Menschen waren so einfach zu knacken, er hätte gedacht, dass sie hier anders war. Sie hatte gewirkt, als hätte sie Mumm, oder zumindest zu viel Angst, um einfach so los zu plappern. So machte das keinen Spaß. „Che!“, antwortete er abfällig, zog sie von der Wand weg und warf sie einfach auf den Boden wie ein langweilig gewordenes Spielzeug. Dann drehte er sich um, sah Noah an, und lächelte freundlich. „Siehst du, das ging doch ganz leicht. Jetzt sollten wir aber los zum Klienten, nicht wahr?“ Mit diesen Worten machte er sich auch schon auf den Weg, zurück zur Hauptstraße. Dass sie so etwas Straße nannten war irgendwie lächerlich, für ihn war es nicht mehr als ein asphaltierter Weg, aber das war ja auch egal. Auf dem Weg nutzte er die Gelegenheit, um 'zufällig' noch einmal auf die Hand der Dorfbewohnerin zu treten, während er in den Himmel sah. „Ist heute nicht ein schöner Tag...?“

Die Bewohner von Mirobi waren schon komisch. Normalerweise hatten viele Menschen die Angewohnheit, nachzugeben, sobald man ihnen drohte oder spätestens nachzugeben, wenn man das Gedrohte durchführte. Beide Magier versuchten, die junge Frau unter Druck zu setzen und sie dadurch zum Reden zu bringen. Doch sie erreichten so erst nichts, außer, dass die Einheimische immer ängstlicher wurde und sogar verunsichert wirkte. Von der einst taffen Frau war wenig übrig. Wie viele Bewohner wohl das Schauspiel beobachten würden? So wie es sich entwickeln würde, könnten es die Fremden schwer haben, an brauchbare Informationen zu gelangen. Die Bewohner mieden die Magier schon jetzt, sollten sie bemerken, wie die eigentlichen Helfer die Bewohner behandelten, würden sie sich erst recht verstecken und die Kinder in ihren Zimmern einsperren. Aber so komisch wie die Erzählungen über die Bewohner Mirobis waren, konnten sie gerade dieses Verhalten möglicherweise toll finden, und die Gesandten aus Blue Pegasus willkommen heißen und sie mit Informationen und Gerüchten überschütten. Was passieren würde, konnte nur die Zukunft zeigen.
Während der Versuch von Leyla schnell von wenig Erfolg gekrönt wurde, entwickelte Emaru eine erstaunliche Dominanz. Bisher hatten Noah und Leyla ihn nur als höflichen, sehr verschlafenen Menschen kennengelernt, doch jetzt zeigte Shi einmal, zu was er in der Lage war- und von dem bisherigen Bild hatte das wenig zu tun. Anfangs, während Emaru noch die Kontrolle hatte, versuchte dieser noch höflich an Informationen zu kommen. Doch Leyla konnte beobachten, wie er sich veränderte. Er wurde kälter und vor allem gewaltbereiter. Allein mit seinen Blicken hatte er es geschafft, die junge Frau so sehr zu verunsichern, dass sie kein Wort mehr über die Lippen brachte. Als sich dann seine Hand auf ihre Schulter legte, schien die Bombe bereit zu explodieren. Nachdem sich die zweite Hand um den Hals schloss, gab es die Explosion. Wie ein Wahnsinniger, dem es gefiel, anderen Leid zuzufügen, presste Shi die Informantin an die Wand und würgte sie. Entsetzt beobachtete Leyla das Spiel ihres Kollegen, doch legte sie eine Maske voller Gleichgültigkeit auf. Während Shi dabei war, Informationen aus der Frau zu pressen, reagierte die Cope nicht auf die Worte des Finsternismagiers. Als er sie nach dem Auftragsgeber fragte, reagierte sie nicht auf die Worte ihres Partners. Zwar hatte sie diese klar und deutlich verstanden, doch ignorierte sie diese bewusst. Sie hätte auch nicht reagieren können, da die Frau selbst die geforderten Informationen preisgab. Vielleicht hatte Leyla die Gefolterte auch nur intuitiv durch ihr Schweigen zum sprechen gebracht, da sie der Tortur ein Ende bereiten wollte. Irgendein Richard hatte die Magier beauftragt, wahrscheinlich war er Fremden gegenüber offener als der Rest des Dorfes. Vielleicht befand sich deshalb ja auch niemand in seiner Nähe, weil er selbst als Fremder in der Ortschaft angesehen wurde? Ein Besuch würde Klarheit schaffen. Nachdem Shi das Interesse an der Frau verloren hatte, warf er sie einfach auf den Boden und trat natürlich zufällig auf ihre Hand, als sich die Magier wieder in Bewegung setzten. Für einen Moment ignorierte sie wieder die Worte ihres Partners und schaute sich flüchtig um, ob sie irgendeine Menschenseele finden konnte, doch konnte sie auf niemanden einen Blick werfen. Vielleicht hatten sie sich ja durch das Verhalten des Alter Egos erst recht versteckt. Meister Ryce würde das Verhalten seines Magiers bestimmt auch interessant finden, falls er es je erfahren würde. Und ob sich die noch eben gefolterte Frau im schweigen übte, wäre vielleicht fraglich- oder auch logisch, da sie keinen Kontakt zu Fremden wollte. Nachdem sich die Magier auf der Hauptstraße befanden, erhob Leyla nach einer Weile doch das Wort. „Findest du nicht, dass du übertrieben hast?“

Hach, es war entspannend, endlich mal sein wahres Selbst herauslassen zu können. Nicht dauern eingesperrt zu sein in diesem Dummkopf Emaru, sondern frei zu sein, ohne Restriktionen, mit der Fähigkeit, jedem Menschen Schaden zuzufügen, bei dem er es wollte. Einen Körper zu besitzen war so ein Segen... Ein breites Grinsen zierte Emarus Gesicht, während Shi es unter Kontrolle hatte. Auf den Kommentar Leylas hin senkte sich dieser Ausdruck jedoch zu einem fröhlichen, unschuldigen Lächeln, er drehte den Kopf zu ihr und sah sie an, durch die weißen Haare, die seinen Blick verdeckten: „Findest du? Sie hätte doch nur den Mund aufmachen müssen... Genügend Chancen habt ihr zwei ihr doch gegeben.“ Damit bezog er sich natürlich auf Leyla und Emaru, nicht Leyla und Noah. Dass es irgendetwas geben musste, das diese Frau davon abgehalten hatte, zu den sogenannten Fremden zu sprechen, war ihm natürlich ebenfalls aufgefallen, doch das interessierte die finstere Seele nicht, im Gegenteil. Genau das machte diesen Triumph um so schöner. Dass er gerade eine halbwegs Unschuldige attackiert hatte, eine Frau, die sich in der Zwickmühle zwischen zwei sie bedrohenden Parteien befand, wobei die lokale Partei wahrscheinlich wesentlich mehr Macht auf die Dorfbewohner ausüben konnte, als die beiden Magier. Anders gesagt hatte er dem Leben einer gequälten Person noch einiges an zusätzlichen Qualen bereitet; das schmeckte besser als jedes Steak. Als körperloses Etwas brauchte Shi selbst natürlich keine Nahrung, also nährte er sich einfach an den schlechten Gefühlen Emarus oder anderer Menschen, denn daran ließ es sich so gut laben. Zorn, Trauer, Verzweiflung, Qual, Angst, und natürlich die größte aller Delikatessen: Ein verlorener Lebenswillen, vollkommene Selbstaufgabe. Das war es, was für das Alter Ego ein wahres Festmahl darstellte, und einer der Punkte, in denen er und sein Wirt eine große Meinungsverschiedenheit auszugleichen hatten. Aus irgendeinem Grund war Emaru nämlich der Meinung, dass man schwächeren Menschen helfen sollte... was für ein Dummkopf.
Die Beschreibung, die ihnen die Raucherin gegeben hatte, war Recht akkurat und überraschend eindeutig, denn an einer Stelle der Hauptstraße riss die Häuserkette tatsächlich abrupt ab, und etwas weiter stand noch ein letztes, einzelnes. Dieses Haus passte auch sehr gut in die Beschreibung, die James Emaru damals gegeben hatte; es sah extrem baufällig aus, aber hieran baute niemand. Keine Restaurierung, keine Nachbesserung, wenn man es nicht besser wusste, würde man es für unbewohnt halten. Langsam schritt Shi an die Tür, klopfte leicht, zögerlich, aus Angst, damit das Haus zum Einbrechen zu bewegen. Glücklicherweise blieb es stehen, doch es dauerte ein bisschen, ehe sich die Tür öffnete. Fast eine ganze Minute stand Shi davor, klopfte erneut, ehe er Schritte wahrnahm, und nach noch einmal etwa einer halben Minute öffnete sich der Eingang auch vor den Magiern und ein alter, sehr alter Mann stand vor ihnen. Einen Moment überlegte Shi, was gebrechlicher aussah, er oder das Gebäude, dann verbeugte er sich jedoch höflich und lächelte den Alten an. „Guten Tag, sie müssen Richard sein. Wir sind die Magier, die sie angeheuert haben. Mein Name ist Emaru, und das ist mein Partner Noah.“ Mein Name ist Shi... wäre wohl ein Satz, den der echte Emaru nie über die Lippen bringen könnte. Der Dargin mochte ein guter Schauspieler sein, als Lügner war er jedoch total unfähig, es machte ihn zu nervös. Shi war eher soziopathisch angehaucht, er hätte auch behaupten können, der Himmel sei grün mit lila Streifen, ohne auch nur die geringste verräterische Zuckung. Er hätte das sogar so lange mit solcher Überzeugung ausstoßen können, bis man es ihm trotz offensichtlicher Gegenargumente – dem blauen Himmel nämlich – geglaubt hätte! Neben seinem problemlosen Umgang mit Grausamkeiten aller Art war das die spezielle Fähigkeit von Shi Dargin, und die stellte er immer gern zur Schau. Dem Klienten hörte er, trotz aufmerksamer Miene, eher halbherzig zu. Er hieß offenbar wirklich Richard, war tatsächlich ihr Klient, und hatte bereits ein Gästezimmer für sie eingerichtet... Bei der Führung in besagtes Zimmer stellte es sich als kleine Kammer heraus, direkt unter dem Dach, weswegen sich der Dargin deutlich bücken musste, um sich auch nur ansatzweise bewegen zu können. Auf dem Boden lagen drei Schlafsäcke, also hatte der Mann wohl mit drei Personen gerechnet. Zu dritt wäre es in diesem kleinen Raum aber reichlich eng geworden, da war diese Wendung wohl das Beste, so hatten Noah und, sofern er lag, auch Emaru noch genug Platz, um sich diese Unterkunft zu teilen. Während Richard die beiden allein ließ, setzte sich Shi, einfach, um nicht Gefahr zu laufen, sich den Kopf an der Decke anzuhauen. „Ich bin nicht unbedingt fit... wir haben insgesamt drei Tage Zeit, das heißt, wir müssen heute nicht zwingend etwas machen. Ich überlasse dir die Wahl, ob wir uns heute nach einer kleinen Pause noch im Dorf umhören oder ausruhen und morgen anfangen sollen... Will ja, dass es für dich angenehm ist.“ Mit einem Gähnen lehnte er sich zurück und betrachtete den Balken über ihm, der die Decke stützen sollte... hoffentlich brach der nicht.

Offensichtlich hatten sie sich in Shi getäuscht. Zwar hatten sie ihn bisher nur einmal erlebt, doch wirkte das Alter Ego von Emaru damals völlig anders- und viel freundlicher. Hätte man Noah oder Leyla nach dem letzten gemeinsamen Auftrag mit Emaru danach gefragt, ob dessen zweite Persönlichkeit gewalttätig war, hätten beide dies verneint, doch jetzt hätten sie ihre Meinung sofort revidiert. Das Verhalten, welches Shi an den Tag legte, war in keinster Weise pazifistisch. Als Magier durfte man dies strenggenommen sowieso nicht sein, aber übertriebene Gewalt passte selten zu einem Magier, sofern er keiner illegalen Gilde angehörte. Shi dachte da wohl aber anders, es schien ihm im Gegensatz sogar zu gefallen. Auf Leylas Frage antwortete er nur, indem er lächelte und sagte, die Frau hätte nur antworten müssen. Von Noahs weiblichem Part gab es keine Reaktion darauf, sie nahm es einfach hin. Sie war sich sicher, dass die Frau auch gesprochen hätte, wenn die Magier sie einfach nur unter etwas weiteren Druck gesetzt hätten, die Methode von Shi war aber wesentlich zeitsparender- und welche richtig war, sollte jeder für sich selbst entscheiden. Wenn Shi weiterhin sein wahres Ich ausleben würde, konnte Leyla diesen analysieren. Sollte das Alter Ego aber wieder einen Gewaltausbruch bekommen, würde sie diesen bestimmt nicht aufhalten können- körperlich war Noah zu schwach, offensive Magie besaß er nicht und auf Worte würde das Alter Ego bestimmt nicht reagieren, wenn es ihm gefiel, sich an Emotionen wie Angst oder Ähnlichem zu laben, woran gequälte Menschen bestimmt leiden würden. Aber beide Magier waren ein Beispiel dafür, dass eine zweite Persönlichkeit meistens konträr zur ersten war: Noah war ein psychisches Wrack und Leyla das genaue Gegenteil, Shi war gewalttätig, während Emaru Gewalt im ersten Moment vielleicht vermeiden würde.
Nun befand sich die kleine Gruppe auf der Hauptstraße des Dorfes auf direktem Weg zu dem Auftragsgeber. Es dauerte nicht lange, bis die beiden die Bestätigung bekamen, dass die Wegbeschreibung korrekt war: abrupt gab es links und rechts entlang der Straße keine Häuser mehr und die Straße endete vor einem einzelnen Gebäude. Hier würde wohl Richard wohnen… wenn er mit seinem Leben abgeschlossen hätte. Das Gebäude sah, nett ausgedrückt, baufällig aus. Ein passendes Synonym wäre Ruine, da das Haus so aussah, als würde es jeden Moment einstürzen, wenn es nur einen zu starken Windhauch geben würde. Leyla bezweifelte, dass an diesem Gebäude irgendwie gearbeitet wurde. Wenn man sein Handwerk verstand, konnte man das Gebäude sicherlich noch retten, aber man konnte auch Angst bekommen, dass eine Wand einstürzen würde, wenn man in diese einen Nagel schlagen wollte. Wenn Leyla bereits gewusst hätte, dass sie einige Zeit in diesem Gebäude wohnen würde, wäre sie bestimmt nicht mehr so ruhig wie sie jetzt war- auch wenn man es ihr nicht ansehen könnte. Ihr Partner klopfte gegen die Tür und zufrieden konnte man feststellen, dass das Gebäude noch nicht einstürzte. Vielleicht wirkte es auch nur baufällig? Es dauerte einen Moment, bis ein gebrechlicher alter Mann die Tür öffnete- dies sollte wohl Richard sein, auch wenn sich Leyla diesen wesentlich jünger vorgestellt hätte. Shi begann, die Magier vorzustellen und Leyla legte ein Lächeln auf, bevor sie sich ebenfalls kurz verbeugte. Der Alte schilderte, dass er wirklich Richard sei und die Gilde beauftragt hätte. Glücklicherweise hatte er auch ein Zimmer für die Magier übrig, wobei die Beschreibung „Abstellkammer“ wohl besser passen würde. Ohne den Magiern mehr Informationen zu geben, lies er sie in der Kammer allein, welche sich direkt unter dem Dach befand und es Shi erschwerte, gerade zu stehen- Leyla hat dank Noahs Größe keine Probleme damit. Nachdem sich Shi hingesetzt hatte, machte dies die Cope ebenfalls, damit sich beide besser beraten konnten. „Glaubst du bist fit genug, um noch eine Weile wach zu bleiben? Ich würde gerne noch irgendjemanden zum Problem befragen, auch wenn es nur Richard ist. Meinetwegen könnten wir danach für heute Schluss machen, wenn du es aber nicht schaffen solltest, können wir auch erst morgen weiter machen.“