Taya hatte einen Fehler gemacht. Für Emaru kein Problem. Was für ihn allerdings nicht gerade angenehm war, war ihre Art, ihre Fehler wieder auszubügeln. Dank ihr huschten die beiden schnell durch die Stadt, zurück zum Imbissstand, sie ging hin, kam zurück, erzählte etwas und lief weiter. Alles sehr komisch. Und dann blieb sie an einer Wand stehen, an der sich ein Graffiti befand, hockte sich hin und zeichnete es ab. Nicht, dass er nichts für Derartiges übrig hätte, das hatte er sehr wohl. Sowohl Zeichnungen als auch große Bilder an Hauswänden mochte er sehr, besonders wenn sie so gut waren wie dieses hier. Ganz so begeistert wie Taya war er allerdings nicht, der Abstand zwischen seiner Begeisterung und ihrer war vergleichbar mit dem von dem Ende Kuchikis, von dem sie kamen, und diesem Punkt - nicht gerade wenig. Sie sah darin das Werk eines Gottes, er eine wirklich hübsche Malerei. Er sah in Krähen die wundervollsten Geschöpfe der Natur, sie sah schöne Vögel. So unterschieden sich eben ihre Geschmäcker. Nach ein paar Minuten trat der Magier näher an seine Begleiterin heran, möglichst ruhig, um sie nicht zu stören. Er kniete sich neben sie und sah auf den Block. Soweit es fertig war, sah es beinahe genau so aus wie die Originalversion auf der Wand, sie war wirklich eine begabte Zeichnerin. Mit einem kleinen Lächeln und sanften, freundlichen Worten bekundete er, dass ihm ihre Zeichnung gefiel, erntete aber nicht die geringste Reaktion. Etwas gelangweilt zog sich Emaru wieder ein Stück zurück, bis er plötzlich bemerkte, dass Taya weg war. "Ta... Taya?", fragte er verwirrt, ehe er die spöttische Stimme Shis in seinem Kopf hörte: Typisch, du vergraulst alle Mädchen... Wahrscheinlich ist sie weiter gegangen. Los, los, mach dich auf den Weg! Kurz überlegte Emaru, in welche Richtung sie vorhin unterwegs gewesen waren, und folgte dem Weg, den er dadurch erkannt hatte. Bald kam auch er an dem Brunnen an, den sie gesucht hatten, und da saß sie auch schon, direkt neben Kairo, dem Zielobjekt seiner geplanten Aktion. "Na super...", murmelte der Junge kaum hörbar, in dem Wissen, dass ihre Annäherung seinen ursprünglichen Plan über den Haufen warf. Aber das war nicht ihr Fehler, sondern seiner, schließlich hätte er sie vielleicht einweihen sollen in sein Vorhaben, schließlich hatte sie ihm ihre Silberkette gegeben, und mit ihm in einem Bett geschlafen... Wenn er darüber nachdachte, hatte sie ihm stets gezeigt, wie sehr sie ihm vertraute... Er dagegen hatte nichts getan als nett zu sein, ihr Dinge anzubieten, sie um einen Gefallen zu bitten und seine wahre Persönlichkeit zu verschleiern. Ärgerlich, aber so war es nun einmal. Kaito schien keinerlei Anstalten zu machen, sich ihr zu nähern, sie saßen einfach da und redeten auch nicht. Dann war es wohl Zeit, dass er sich bemerkbar machte, schließlich konnte er nicht einfach die ganze Zeit hinter dem Rücken der beiden herumstehen. Auf den Rand eines Brunnen wollte er sich nun jedoch nicht setzen, also lief er auf seine übliche, grazile weise ein Stück um den Brunnen herum, damit er sich gerade so noch vollständig in Kaitos Blickfeld befand. Dieser wandte ihm nur kurz den Blick zu, ehe er sich wieder ganz dem Inneren des Brunnens widmete. Nein, man konnte dort nichts sehen, aber der Wunsch, niemanden zu bemerken, ließ sich so am besten stillen, wenn einem Leute hinterher liefen. "So, endlich treffen wir uns mal persönlich, Kaito...", meinte Emaru, ohne den 15-Jährigen anzusehen. "Ich verstehe nicht, wie dich Leute für einen Dieb halten können... aber das sind auch nur Menschen, nicht wahr? Ich meine, man sieht dir doch an, dass du nicht stehlen kannst..." Ein kurzes Glucksen war zu hören, und Kaito wandte dem Magier das Gesicht zu, mit einer Mischung aus leichtem Unverständnis und Wut. Scheinbar war er verärgert, was sein Gegenüber nur noch mehr amüsierte. Jawohl, der junge Dargin fand das alles sehr witzig, immerhin redete er mit einem angeblichen Rebellen, der als harte Person und Dieb galt und sich einsam und trauernd auf einen Platz begab, auf dem es nichts gab bis auf einen Brunnen, der nicht gerade als schönster Teil der Landschaft beschrieben werden konnte. Und neckte man ihn ein wenig, dann wurde er sauer, wie ein kleines Kind. "Unsere Aufgabe hier ist es, den Täter zu finden. Und solange die Leute glauben, dass du das bist, wird es uns bloß unnötig erschwert. Das bedeutet, ich wollte dich nicht sehen, um dir zu sagen, dass ich an dich glaube, auch nicht, um dir zu helfen… Ich tue, wofür ich bezahlt werde. Weißt du, in einer Gilde wird man bezahlt, wenn man Menschen hilft. Menschen helfen können und dafür bezahlt werden, das ist einfach wundervoll, und deshalb ist es mir wichtig, dass ich das hier gut hinbekomme." Dann wandte er seinen Blick Kaito zu, direkt in das Gesicht, dass inzwischen leicht dem Magier zugedreht worden war. Kaito wirkte noch immer sehr skeptisch, aber er schien darauf zu warten, worauf Emaru hinaus wollte. Dieser sah ihm nun direkt in die Augen und fuhr fort: "Jetzt kennst du meine Beweggründe und weißt, was mir wichtig ist. Jetzt interessiert mich eines… Was ist dir wichtig?" Dabei hielt er streng Augenkontakt, bis der Rebell sich abwand und vom Brunnen aufstand. Nach ein paar Schritten blieb er stehen. „Was mir wichtig ist, willst du wissen? ...Die Wahrheit! Mir ist wichtig, dass die Leute die Wahrheit verstehen! Aber das scheint ja keiner zu kapieren!“ Wutentbrannt drehte er sich wieder um, nur um zu sehen, dass der Weißhaarige ihn angrinste. "Die Wahrheit, huh? Ich schätze, ich weiß genau, wie du dich fühlst. Ist ein mieses Gefühl, wenn man anderen nicht klarmachen kann, was man für wahr hält…" Leichtes Gelächter erschallte, dann wurde der Junge wieder ernst. "Wenn du willst, dass die Wahrheit ans Licht kommt, rate ich dir, mit uns zu kooperieren!" Entrüstet starrte der Durchtrainierte den Schlanken an, ehe er einknickte. “In Ordnung. Wenn ihr mit zu mir kommt, erzähle ich euch mal meinen Standpunkt der Geschichte. Einverstanden?“ Emaru nickte nur kurz und wandte sich dann Taya zu. "Kommst du?"

Müde trat Emaru einen Stein vor sich weg. Inzwischen hatte er sich auf den Weg zurück zu John gemacht, um sich einen neuen Plan zu überlegen, nachdem der alte schief gelaufen war. Kaito hatte ihn tatsächlich ausgetrickst; nachdem er sich in sein Haus verzogen hatte, hatte er schnell die Tür zugeschlagen und verriegelt, um den Magier auszusperren. Gewalttätiges Eindringen war wirklich nicht Emarus Stil, daher hatte er sich dafür entschieden, zu verschwinden, um sich etwas anderes zu überlegen. Taya hatte gar nicht erst zu ihm mitkommen wollen, warum auch immer, und was sie jetzt tat, wusste er nicht. Er war von so einem Rowdy reingelegt worden, er! Das konnte nicht wahr sein, doch da es stimmte, musste eine neue Idee her, und zwar zügig. Unglücklicherweise hatte er momentan keine, da der Rebell der einzige Anhaltspunkt war, den der Magier bekommen hatte. Ob er etwa doch schuldig war? Nein, nein, nein. Solche Gedanken sind unangebracht! Konzentrier dich!, rückte er sich selbst zurecht, während er den Weg nach vorn weiter beschritt, ohne von dem Steinchen aufzublicken. Die Müdigkeit wallte wieder in ihm auf, daher geriet der Weißhaarige etwas ins Taumeln. Man merkte, dass es am vorherigen Tag geregnet hatte, die Luft war noch etwas feucht, trotz der Hitze, die die Sonne inzwischen wieder ausstrahlte. Das alles unterstützte bloß das Gefühl, gleich einfach schlafend umzukippen, und als er gähnen musste, lehnte er sich gegen das schwarze Holz rechts von ihm. Schwarzes Holz? Ach ja, richtig, der große Baum, den er zuvor schon gesehen hatte. Dann befand er sich also im Zentrum des Dorfes, sehr interessant. Ein Gähner entwich ihm und sein Mund stand weit offen, als er etwas hinein fallen spürte, woraufhin er zu husten anfing. Als das kleine Etwas wieder los war und es leise klirrend auf dem Boden aufschlug, blickte er es an und erstarrte, ehe er nach oben starrte. Ein kleiner, glänzender Perlohrring war herunter gefallen, offensichtlich von einer Krähe fallen gelassen. Also waren es diese wundervollen Wesen gewesen, die all den Ärger gemacht hatten? Der hässliche Rabe war nicht etwa ein Mensch, sondern die Gruppe der schönen Krähen... Während er den Ohrring aufhob, spürte er irgendein Gefühl, ob das wohl Trauer war? Irgendwie seltsam... Aber das war jetzt nicht wichtig, viel wichtiger war, dass er es geschafft hatte. Die Diebstähle waren aufgeflogen, er wusste, wer sich dahinter verbarg, also hatte er die Quest erfolgreich abgeschlossen. Jetzt musste er eigentlich nur noch den Auftraggeber informieren, und dann musste auch Taya gefunden werden.
Eineinhalb Stunden später hatte Emaru herausgefunden, dass die Magierin sich bereits per Zug auf den Weg zurück gemacht hatte. Wieso, konnte man ihm auch nicht sagen, auf jeden Fall war es ziemlich seltsam. Inzwischen hatte man sämtliche Schmuckstücke aus dem Baum geborgen und die einzelnen Bewohner suchten sich heraus, was ihnen gehörte. Ein junges Pärchen hatte ein paar Schlüssel in der Hand und wirkten ziemlich glücklich, scheinbar hatten sie bereits seit ein paar Wochen bei Freunden schlafen müssen, wegen dem Verlust ebenjener Schlüssel. Eine alte Dame dagegen wirkte alles andere als glücklich, sie durchwühlte bereits zum dritten Mal den inzwischen sehr kleinen Haufen und fand offenbar nicht, was sie suchte. Emaru scherte sich nicht darum, er hatte seine Aufgabe erfüllt und drehte sich nun um, um sich zum Bahnhof zu begeben. Während er langsam in die richtige Richtung ging, die Hände in den Jackentaschen vergraben, hörte er die Stimme einer, wahrscheinlich der, älteren Frau: "Wo ist er? Der Ohrring ist weg! Der Ohrring ist weg!" Der Ohrring? Wahrscheinlich der, der sich in Emarus Tasche befand. Tja, das war dann wohl Pech. Die Bezahlung eines Magiers war nicht so gut, dass er seine Beute einfach so zurückgeben würde, wenn eh nicht die Chance bestand, erwischt zu werden. Unglücklicherweise ließ die Frau damit nicht locker und schrie mit schriller Stimme weiter: "Bitte! Mein Mann hat ihn mir auf seinem Sterbebett geschenkt! Er darf nicht verschwunden sein!" Emaru blieb stehen, ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Zum zweiten Mal an diesem Tag erinnerte er sich daran, wie er den Handschuh seines Vaters verloren hatte. Wieso war er in letzter Zeit so emotional geworden? Gefühle waren Schwäche, deswegen hatte er keine mehr! Wieso kamen sie also wieder? Mit zusammengebissenen Zähnen drehte er sich verlegen lächelnd um und ging zu der Dame hinüber. "Ups, tut mir sehr leid, meine Dame. Mir ist dieses Stück vorhin auf den Kopf gefallen, ich habe es total vergessen. Könnte das der verschollene Ohrring sein?", fragte er und zog ihn aus seiner Tasche. Einige Leute sahen ihn an, als wussten sie, dass er es hatte mitnehmen wollen, andere schienen ihm zu glauben. Die Frau vor ihm war zu glücklich, um sich Gedanken zu machen, und nahm sich, was ihr gehörte. Der Magier verzog sich in Richtung Bahnhof und hörte sich Shi an, wie er ihm Vorwürfe machte, weil er "Pures Geld in Form eines Ohrrings" weggegeben hatte. Zu diesem Zeitpunkt wussten die beiden noch nicht, dass sie Taya nicht in der Gilde antreffen würden, genauso wenig wie sie wussten, dass sie die Silberkette behalten können würden. Auf jeden Fall war die Quest nun vorbei, das traute Heim wartete, und die Belohnung hatte er ungeteilt in der Tasche. Alles in allem, ein gutes Ende.