Als die Wissenschaftlerin, die sie nun ein Mal war, schaffte es Yureiko nur bei den wenigsten Dingen ihren Kopf bewusst außen vor zu lassen und sich ganz auf ihr Gefühl zu verlassen. Da gab es zum Beispiel ihren über alles geliebten Garten, der ganz ihrer Seele gehörte. Auch wenn es um Magie ging, verhielt die Blondine sich kaum anders, sondern ließ ihre Sinne genauso schweifen, obwohl das normalerweise zum absoluten Kontrollverlust führte. Zumindest für eine kurze Weile. Die dritte Sache, das war ganz einfach die Musik. Nicht beim selbst Spielen, dafür war sie einfach nicht begabt genug, dafür aber beim Zuhören. Dabei schaffte sie es loszulassen, ihren kalten, aber gut arbeitenden Verstand für kurze Zeit einfach abzuschalten. Schlicht: Sich zu entspannen. Und das war nichts, das nur ein Mal passierte, sondern jedes Mal, wenn sie es zuließ. Das kam zwar nicht allzu oft vor, aber da es gerade bei ihrer Persönlichkeit schlicht und ergreifend so war, dass man sich öfter aufregte, wusste sie immerhin, dass es eben nötig war. Und an diesem Ort und diesem Tag war es nötig gewesen. Harte Arbeit, sowohl an ihrem Körper als auch an einigen toten, hatten sie auf Dauer doch sehr viel Substanz gekostet. Deswegen war sie hergekommen und es hatte sich auf jeden Fall gelohnt. Der Abend hatte mit einem guten Drink begonnen, war dann mit einem außergewöhnlich angenehmen und - in vielerlei Hinsicht - überraschend interessanten Gesprächspartner fortgefahren und mündete nun in einem großartigen Klavierkonzert, das der Zauberin zwar nicht die Sinne raubte, aber sie zumindest weit weg vom Hier und Jetzt trug. Ja, sie ging damit vielleicht ganz anders um als ihr Sitznachbar, der scheinbar analytischer an die Kunst heranging als sie selbst. Wusste sie war nicht, wäre ihr aber auch egal gewesen. Es wäre ihr im ersten Moment vielleicht etwas seltsam vorgekommen, im zweiten wäre diese Sache aber auch schon wieder komplett vergessen gewesen. Fakt war: Sie war entspannt, die Musik gefiel ihr und sie gab einen Dreck darauf, was da eigentlich gespielt wurde, Hauptsache es entsprach ihrem eigenen Geschmack, da könnte sich jeder andere mit einer anderen Meinung zum Teufel scheren.
Als der Pianist sein Konzert beendete und sich verbeugte blies die Kabane Luft aus dem Mund, ein wenig wie ein Raucher, nachdem er einen tiefen Zug von seinem Glimmstängel gemacht hatte - nur eben ohne Rauch und Zigarette. Um sowas anzufassen hatte Yureiko schon zu viele Lungen geöffnet, der Unterschied zwischen einem gesunden und einem kranken Atmungsorgan war einfach zu offensichtlich. Während Seraphim sie danach fragte, ob ihr die Vorstellung gefallen hatte, öffnete die junge Dame langsam ihre Augen und wandte den Kopf zu ihm. Der entspannte Gesichtsausdruck begann langsam zu schwinden, wofür natürlich keiner was konnte. Die Musik war eben vorbei.
"Aber natürlich. Ich fand es großartig. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet, ich habe noch kaum ein schlechtes Wort über ihn gehört oder gelesen, zumindest was seine Musik angeht", antwortete die Magierin. Ein leises Gähnen verließ Mund der Formwandlerin hinter vorgehaltener Hand, während sie gleichzeitig ihre Schultern unter leisem knacken kreisen ließ. "Und selbst?", erwiderte sie die Frage ordnungsgemäß. Gesellschaftliche Verhaltensweisen waren zwar unheimlich anstrengend, aber auf ihre Weise auch unglaublich nützlich.

Zumindest was die Musik des langhaarigen Künstlers anging, gab es wirklich wenige ernst zu nehmende Kritiken, die einzigen, die sich beinahe spöttisch über ihn äußerten, waren tatsächlich nicht auf die bezaubernden Töne bezogen, die seine Finger den Tasten des Instruments entlocken konnten, sondern auf seine Frisur und seinen katastrophalen Kleidergeschmack. Aber das war auch ein Klatschmagazin mit Zielgruppe Frauen um die dreißig gewesen und wurde daher von Cyrus weder regelmäßig gelesen, noch ernst genommen. Wie er da dran gekommen war, wusste er auch nicht mehr genau, wahrscheinlich war ihm irgendwo viel zu langweilig geworden und es war nichts anderes in Reichweite gewesen. Normalerweise las Cyrus überhaupt keine Zeitschriften irgendwelcher Art, seine Lektüre bestand tatsächlich meistens aus veralteter Literatur, die man selten bei seiner Altersgruppe erwarten würde. Er hatte einfach Geschmack daran gefunden, zudem er ja auch keine literarische Vorbildung gehabt hatte. Grandine hatte ein paar Bücher für den kleinen Weißhaarigen organisiert, aber das waren eben absolut ausgelesene Exemplare alter Romane gewesen und nichts, was auch nur ansatzweise einen modernen Touch besessen hätte. Also hatte er diese Art von Sprache, die ja meistens doch etwas ausgereifter als die neuerer Literatur war, schätzen gelernt und war auch nur selten von ihr abgewichen. Zudem las er nicht, um es spannend zu finden, die Spannung und Abenteuer hatte er ja im wirklichen Leben. Das war auch der Grund, warum man bei ihm nicht die Art von Schmuddelheftchen finden würde, die man vielleicht erwarten würde, denn mal ehrlich, wer brauchte so etwas in Buchform, wenn er es auch real haben konnte? Auch Cyrus hatte noch nie mit dem Gedanken gespielt, zu rauchen, aus ähnlichem Grunde wie die Kabane. Zwar sezierte er nicht am laufenden Bande menschliche Leichen, von denen einige eben Raucher gewesen waren, aber dafür war Rauch nichts anderes, als ein Gemisch aus Festkörper und Luft. Letztere wiederum war, wenn sie denn bewegt war - was selten nicht der Fall war, das Element, mit dem der junge Mann mehr als jeder Andere verbunden war. Der Himmelsdragonslayer war tatsächlich sogar noch ein wenig mehr mit der Natur verbunden, als seine Brüder und Schwestern, denn tatsächlich konnte nicht nur er den Wind beeinflussen, umgekehrt funktionierte das auch ganz gut. Luftverschmutzungen - und Zigarettenqualm sei nun als solche eingestuft - machten es ihm deutlich schwerer, seine Kräfte einzusetzen, was bei allen anderen Dragonslayern nicht der Fall war. Lia beispielsweise konnte auch in eisiger Kälte Feuer erzeugen. Dafür spürte Cyrus aber auch deutlich präziser, wie der Wind um ihn strich und konnte sogar Wetterfee spielen und recht zuverlässig raten, wie sich der Himmel verändern würde.
Es war fast schon enttäuschend, wie die Entspannung, die ihrem Gesicht doch so gut gestanden hatte, wieder von ihr wich, sobald die Musik verstummt war. Offenbar funktionierte das bei ihr nur, wenn sie tatsächlich gerade zuhörte, Nachwirkungen schienen ja kaum zu spüren sein. Schade, das hätte alles deutlich vereinfacht. "Doch...", er verkniff sich kurz ein Schmunzeln, "Zumindest seine Musik ist geschmackvoll~" Seitenhieb auf das Äußere des Musikers? Aber natürlich, schließlich wäre er nicht er selbst, wenn er nicht jedes menschliche Wesen zumindest äußerlich beurteilen würde. Er hatte ja einen großen Toleranzbereich, aus dem er auswählen konnte, nur gehörte dieser Musiker... sicherlich nicht dazu. Egal, wofür gab es denn andere, wie zum Beispiel... Uhhhh, hatte das geknackt. Ach ja, und was taten die beiden nun? Cyrus hatte keine Lust, sie nun einfach von dannen ziehen zu lassen, dafür hatte sich das Gespräch noch viel zu wenig gelohnt. Was könnten sie… er könnte sie zum essen einladen, aber das war erstens irgendwie noch zu früh und zweitens war er sich nicht vollkommen sicher, dass sie dieses Angebot annehmen würde. Zwar hatte er sie schon so weit, dass sie in ihm keine absolute Bedrohung mehr sah, aber ob es dazu schon reichte? Er wusste es nicht und solange er sich nicht sicher war, würde er das Risiko auch nicht eingehen wollen, nicht bei einer Frau von der er den Eindruck hatte, dass sie durchaus "Nein" sagen konnte und das auf mehrere Arten und Weisen. Mit den Fäusten zum Beispiel. "Wie wäre es…", fragte er, während er sich wieder zu Kabane umdrehte, "…wenn wir uns etwas nettes zum reinsetzen suchen und du mir währenddessen zeigst, was genau deine Magie mit Leichen zu tun hat?~" Neugierig lächelnd blickte er sie auf violett schimmernden Augen an, die momentan sicherlich nicht einmal ein Pfützchen trüben könnten. Dabei glitt er vom Hocker auf den Boden, bis seine in schwarzen Schuhen steckenden Füße auf den Fliesen aufsetzten und er der Blondine zuvorkommend die Hand entgegenstreckte, um auch sie sicher zu Boden zu geleiten.

Einen Menschen nach seinem äußeren beurteilen? Nein, das tat man eigentlich nicht. Eigentlich! Darauf lag nämlich die Betonung, denn wenn man ganz ehrlich mit sich war, dann konnte das keiner abstellen. Natürlich war es nicht die "feine" Art, aber auf die hatte Yureiko sowieso noch nichts gegeben und würde auch nicht jetzt damit anfangen, wo es sich gegen jemanden richtete, den sie zumindest auf Grund seiner Kunstfertigkeit sehr mochte. Denn sie mochte viele Eigenschaften haben, aber eine Heuchlerin war sie nicht. Wer schlechten Geschmack bewies, der gehörte gescholten, egal wie positiv sie dieser Person gegenüber eingestellt war. Dabei gab es ja wirklich nicht viel, dass die Augen der Kabane ernsthaft zu beleidigen vermochte, aber so viel weiß und blond an einem einzelnen Menschen war schon beinahe ekelerregend, jetzt, wo sie genauer darüber nachdachte. "Ich verstehe, was du meinst. Es ist nicht... optimal", erwiderte die Wandlerin mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Aber wieso hatte sie gerade jetzt wieder darüber nachgedacht? Weil man sie daran erinnert hatte. Und wer genau war das gewesen? Ihr Sitznachbar, natürlich, wem hätte sie auch sonst zugehört? Er war wohl die einzige Person, die sich das Recht verdient hatte, länger als eine halbe Minute ihre ausgezeichnete und exquisite Gesellschaft genießen zu dürfen. Dieses Vertrauen war ja nun ein ganz kleines Bisschen missbraucht worden, wenn auch nicht ganz offen und wohl noch nicht ein Mal mit Absicht. Aber änderte das etwas? Durfte Unwissenheit vor Strafe schützen? Immerhin war die Magierin auf etwas hingewiesen worden, an das sie gar nicht mehr denken hatte wollen, man hatte ihr diesen Makel also aufgezeigt, sie quasi mit der Nase drauf gestoßen. Aber sollte sie nicht vielleicht darüber hinweg sehen? Immerhin war der weißhaarige Kerl ja ganz sympathisch. Andererseits war sie ja, wie oben erwähnt, keine Heuchlerin. Auch ein sogenannter Freund würde von ihr schonungslos jede Kritik annehmen müssen, die sie auszusprechen hatte - wenn man es in diesem Fall überhaupt noch Kritik nennen wollte. Eigentlich war die Zauberin sogar etwas wütend. Mit Kritik an sich selbst konnte sie umgehen, dafür hätte sie ihm schlicht die Zähne einschlagen können. Aber wenn es um diesen Musiker ging, den sie doch sehr bewunderte, dann war das was anderes. Dafür konnte sie nicht einfach zuschlagen, dafür bräuchte es einen triftigeren Grund. Sollte sie ihn zumindest darauf hinweisen, dass ihr eigentlich gar nicht gefiel, wie er ihr Idol schon beinahe beleidigt hatte? Ja, das würde sie tun. Nicht brutal, aber doch energisch. Vielleicht mit einem Hauch von Gefahr? Das wäre gut! Dann würde er sich merken müssen, dass er nicht alles zu ihr sagen konnte.
Während des Satzes, der zuvor schon gesagt worden war und dem, was sie danach gedacht hatte, hatte ihre Mimik sich deutlich verändert. Erst hatte sie nur etwas entrückt und nachdenklich gewirkt, dann beinahe etwas wütend und nun war es der Blick einer lauernden Schlange, der den Dragonslayer traf. Die Kabane hob die Stimme nur wenig, sie zischte ihn beinahe schon an: "Trotzdem... solltest du nicht alle deine Gedanken so offen aussprechen... ja?" Nachdem sie ihren Satz ausgesprochen hatte, wandelte sich das Gesicht der Magierin wieder. Es zeigte ihm nun ein weiteres Mal das leichte Lächeln, dass sie zuvor schon aufgesetzt hatte.
Aber was passierte nun? Der junge Mann wollte sie tatsächlich woanders hin mitnehmen um mehr über ihre Beziehung zu den Leichen im Keller zu erfahren? Yureiko war sich nicht sicher, ob er wusste, wie wenig er das eigentlich wollen sollte. Es keimte tatsächlich so etwas wie Angst in ihr auf. Nicht vor ihm oder davor, dass er etwas ahnen könnte, das war ihr ziemlich egal. Nein, wenn sie zaubern würde, dann wäre die Kontrolle wahrscheinlich wieder dahin. Allerdings würde sie früher oder später Verbündete brauchen und diese mussten sowieso wissen, wie ihre Magie funktionierte. Also wieso nicht Seraphim? Die blondine mochte ihn ja zumindest halbwegs gerne, wenn man mal von diesem einen Fehltritt absah, den er sich geleistet hatte und der auch schon wieder verziehen war. Ja, sie sollte zusagen und zeigen, was sie konnte. Was sollte schon passieren? Dass sie einfach so ausrastete würde schon nicht passieren, denn so dumm sie zu reizen würde er ja wohl doch nicht sein. Daher gab es nur eine richtige Antwort: "Von mir aus. Du kennst dich hier wahrscheinlich besser aus, schätze ich." Eine vage Aufforderung, dass er den Ort bestimmen durfte. Zu vage? Vielleicht. Auch nicht ungefährlich, wenn man es nüchtern betrachtete, aber zu viel Vorsicht war heute nicht gut. Ein letztes Mal griff Yureiko zu ihrem Glas und leerte es mit einem weiteren großen Schluck, ehe sie die ihr galant entgegen gestreckte Hand ergriff.

Auf die Schelte Kabanes über sein offensichtliches Denunzieren der Bekleidung des Künstlers reagierte Cyrus, wie man es von ihm gewöhnt sein könnte, wenn man ihn denn schon länger kennen würde; kannte man ihn aber nicht - und zu diesen Personen musste man die Magiern nun einmal zählen - dann würde sie einen vielleicht überraschen. Mit einem breiten Lächeln und einem leichten Zurücknehmen des Kinns, beinahe, als wolle er eine Verbeugung andeuten, nahm er die Hand der Dame entgegen, schlug die Lider eine Nuance nieder und schmunzelte schließlich. "Sei dir dessen gewiss, dass ich keinesfalls jeden meiner Gedanken ausspreche, Kabane-san~" Das wäre nicht nur in dieser Situation Selbstmord, sondern in vielen anderen der Faktor, der ihn zum scheitern verurteilen würde. Schließlich zog er dieses ganz Theater für gewöhnlich nur ab, um an etwas ganz anderes zu kommen. Er hatte sich nicht neben die Blondine gesetzt und ihr unverblümt ins Gesicht gesagt, dass sie die ansprechendste Person in diesem Raum war und dass er sie gerne flachlegen würde, so nach dem Konzert oder so, nein. Er hatte sich mit ihr über alles mögliche unterhalten und würde das auch weiterhin tun, ehe er auch nur Andeutungen in die Richtung machen würde. Das wäre gar nicht möglich gewesen, wenn ihm seine Gedanken auf der Stirn stehen würden... "Mitnichten wollte ich jedoch, dass du dich in deinen Interessen überfahren fühlst.", fuhr er fort und blickte ihr wieder aufmerksam in die Augen, auch wenn man keine Spur von Reue darin erkennen konnte, sodass klar sein sollte, dass er sich nur der Höflichkeit wegen, nicht aber aus ganzem Herzen entschuldigte. War ja letzten Endes auch wurscht, solange er es tat, nicht wahr? "Ich werde es also daran denken, sollte ich das nächste Mal eine solche Gelegenheit haben." Er lächelte und strich mit seinem Daumen leicht über die Außenseite ihres kleinen Fingers, ehe er sofort wieder davon abließ und stattdessen noch einmal einen kurzen Blick zum Flügel warf. Es gab recht selten Männer wie den Künstler, denen der schlechte Geschmack schon wieder zu den Ohren raus hing, aber wenn es sie störte... was genau dachte er eigentlich darüber, wie sie ihm das alles vermittelt hatte? Sie amüsierte ihn. Selbst, wenn es wohl eher Kabanes vornehmliches Ziel war, den Leuten Angst und Respekt vor der eigenen Person einzuflößen, so schaffte sie es bei dem Dragonslayer gerade einmal, dafür zu sorgen, dass es ihm Spaß machte, ihr Verhalten zu beobachten und daraus seine ganz persönlichen Schlüsse zu ziehen. Es war aber nicht einmal so, dass er das Gefühl bekam, sie wäre tatsächlich lächerlich, es war mehr... ein Spiel mit dem Feuer? Ja, dieser Vergleich passte doch recht gut, da er sich sicherlich die Finger verbrennen konnte, wenn er nicht aufpasste. Also war Vorsicht geboten... aber dennoch machte dieses Spiel unerwartet viel Spaß, sodass auch dieses Risiko ihn nicht abschrecken würde. Dabei war der junge Mann kaum risikobereit und tat eigentlich nichts, was wirklich gefährlich werden konnte... nur war die Gefahr, die von Kabane ausging seiner Meinung nach nicht lebensbedrohlich, schließlich hielten sie sich erst einmal noch unter Menschen auf, bevor sie dann auf deren Gesellschaft verzichten konnten. Vielleicht. Die Haut der jungen Frau war weich und warm, irgendwie hatte Mutter Natur es so eingerichtet, dass die Haut von Frauen im Allgemeinen nicht so grob wie die von Männern war. Beides war recht angenehm unter seinen Fingerspitzen, beides hatte seinen Reiz, das wusste er am allermeisten. Mit einem schnellen Blick registrierte er die schwarzen Fingernägel und musste sich ein Grinsen verkneifen. Das passte besser zu ihr, als ihr wahrscheinlich bewusst war... ob er sich hier auskannte? Ja, ein wenig, war er doch schon öfter hier gewesen und hatte sich einen ungefähren Plan der Stadt zurechtlegen können. "Ein wenig, ja.~", murmelte er und machte ein paar Schritte auf den Ausgang zu, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Kabane denselben Weg einschlagen würde. Zudem war es doch gar nicht mal schlecht, wenn sie vor ihm laufen würde, dann hätte er mehr Möglichkeiten, sie zu beobachten, als wenn er fürchten musste, dass sie ihn dabei ertappte... zudem er bereits eine Idee hatte, wohin die beiden ihre Schritte wenden würden, es sollte natürlich nicht allzu weit weg sein und nicht allzu öffentlich, sodass man mehr oder minder Privatsphäre haben könnte, wenn man sie denn bräuchte. Dennoch konnte man an dem Ort, welchen er anpeilte, auch Gesellschaft finden, beispielsweise um Karten zu spielen… An der Garderobe angekommen, schnipste er dem armen Angestellten die Plakette mit der Nummer seiner Jacke zu, die er zuvor aus seiner Gesäßtasche gezogen hatte und wartete darauf, dass dieser sich in Bewegung setzte. Schließlich brachte er sie ihm und er zog sie sich mit einem gewisperten "Danke~", natürlich nicht ernst gemeint, war sein Job…, über. Auch wenn er den Reißverschluss nicht komplett schloss, denn das stand ihm einfach weniger gut, zudem der Kragen so deutlich besser aussah.

Respekt war ganz einfach wichtig. Er sorgte dafür, dass andere Leute freundlich grüßten, auf einen hörten und prinzipiell einfach das meiste von dem machten, was man ihnen sagte. Außerdem hielt es sie oft von Dummheiten ab. Daher war es unumstößlich, diesen Respekt zu erringen. Dafür gab es natürlich verschiedene Methoden. Einige Menschen setzten auf Freundlichkeit und Mitgefühl. Eine Methode, die in der Familie der Kabane sowas wie ein Kapitalverbrechen darstellte und beinahe immer mit Ausschluss aus dem Familienleben so wie Ächtung bestraft wurde - einige ansonsten zu fähige und daher unentbehrliche Ausnahmen vorausgelassen. Die zweite Methode schloss sich mehr oder weniger direkt an die Ausnahmen von der ersten an. Sie war zwar an sich recht verbreitet, vor allem in der Kabane-Familie, aber dort nicht als die Vollendung, wenn auch Voraussetzung für Nummer drei, angesehen: Wissen und Können. Viele Menschen achteten Menschen ganz einfach aus dem Grund, dass sie in Dingen besser waren als sie. Für Yureikos Familie zwar verständlich, aber dennoch nicht unbedingt wünschenswert, denn wer besser in etwas war, der wurde beneidet und früher oder später, wenn er nicht gut genug aufpasste ausgerottet, weil er in anderen, überlebenswichtigen Dingen scheinbar nicht so gut war. Natürliche Selektion nannte man das dann. Daher war Nummer drei auch bei der Blondine favorisiert, ganz einfach schon, weil man es ihr anerzogen hatte: Angst. Nichts verschaffte einem so viel Respekt wie nackte Angst. Andere Menschen widersprachen nicht, man bekam was man wollte und konnte sich dabei auch noch sicher sein, dass einem keiner an den Kragen wollte - oder es zumindest ernsthaft versuchen konnte. Außerdem machte es ganz einfach Spaß, das Spiel mit der Angst. Anderen die nackte Panik im Gesicht stehen zu sehen, dafür zu sorgen, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten oder ganz einfach Terror unter seinen Untergebenen zu verbreiten, das war einfach Amüsement pur. Das Problem an der Sache war aber nun folgendes: Der Respekt ihres Sitznachbarn schien nur begrenzt zu sein. Er war zwar höflich und nett, entschuldigte sich sogar für seine Verfehlungen, die zugegebenermaßen nur allzu vernachlässig waren, wirkte dabei aber nicht wirklich ehrlich. Woran das lag? Wahrscheinlich am mangelnden Respekt, genauer gesagt an der mangelnden Angst und der nicht vorhandenen Kenntnis ihrer mannigfaltigen Fähigkeiten. Mangelnde Angst konnte sie noch akzeptieren, nicht jeder ließ sich einfach einschüchtern. Aber dass man ihr Können ignorierte, das war quasi eine Straftat besonderen Ausmaßes. Das einzige, dass den Weißhaarigen hier rettete war die Tatsache, dass er schlicht keine Ahnung davon haben konnte und zumindest wissbegierig war. Also ließ man ihm das durchgehen.
Mittlerweile hatten die beiden sich von ihren Plätzen erhoben und waren zur Garderobe gegangen. Dort hatte Seraphim seine weiße Jacke zurückbekommen und sie selbst hatte sich ihren wundervollen schwarzen Mantel abgeholt. Ganz schwarz in schwarz, mit Ausnahme ihres blonden Haarschopfs, verließ sie die Lokalität. Es war noch etwas kühler geworden als zum Zeitpunkt ihrer Ankunft und es war auch etwas windiger. Nicht wirklich eisig, aber eben doch recht kalt. Als würde sie Rauch auspusten blies die Magierin einen kleinen Schwall Luft aus dem Mund, der dank der niedrigen Temperatur gut sichtbar war - knapp über null. "Wohin gehen wir nun? Mir ist zwar nicht kalt, aber gesund kann das Wetter auch nicht sein", fragte sie ungeduldig. In der Kälte rumstehen war verlorene Zeit und die wollte die Forscherin sich nicht leisten. Da hatte sie eindeutig besseres zu tun.

Ja, da hatte Kabane Yureiko den Nagel gedanklich vollkommen auf den Kopf getroffen: Cyrus mangelte es an Respekt vor allem, dem Leben, den Menschen und ihr natürlich auch. Er war zwar bereits darauf gekommen, dass sie eine harte Nuss war, aber dennoch sah er nicht viel mehr in ihr, als eine Möglichkeit, sich den Abend zu versüßen. Selbst wenn es nicht ganz so einfach war, dann war das eben als Herausforderung zu betrachten, nicht als Hindernis. Allerdings würde er den Teufel tun und vor einem bloßen Spielzeug Respekt zeigen, nein... denn um von ihm Respekt zu bekommen, musste man ihm Angst machen, wie Kabane es eigentlich zu tun pflegte, doch war es schwer, dem Weißhaar dieses Gefühl zu vermitteln. Beispielsweise fürchtete er sich vor seiner Ziehmutter und selbst wenn er gegenteiliges behauptete, so entsprach das nicht der Wahrheit. Er fürchtete ihren Zorn und ihre Strafe, tat dennoch vieles, von dem er sicher war, dass sie es nicht gutheißen würde und begab sich dennoch immer wieder zu ihr, um sie zu sehen. Albern, nicht wahr? Aber Grandine war auch ein Drache, während Kabane... nun ja... eine schöne Frau war, auf die er es abgesehen hatte. Das war ein Unterschied wie Himmel und Hölle. Welch ein Glück mal wieder, dass er eben nicht jeden seiner Gedanken aussprach, denn was die Blondine dann mit ihm angestellt hätte, wäre wahrscheinlich gewaltvoll, schmerzhaft und unschön gewesen. Aber selbst wenn sie ihm alle Knochen im Leib gebrochen hätte, ihren begehrten Respekt hätte sie nicht bekommen, denn es war nicht reine Stärke, die ihm Angst machte, auch nicht die Überlegenheit einer Person. Angst machten ihm Wesen, die ihn mit sich selbst ins Unreine bringen konnten. Die bei ihm Dinge auslösten, die er nicht verstand. Schmerzen verstand er, er hatte sie schon öfter in seinem Leben ertragen müssen, sie waren leicht zu erklären und nichts Neues mehr - und was anderes könnte Kabane ihm schon antun? Selbst wenn er in eine aussichtslose Situation geriet, hatte er keine Angst. Er wäre vielleicht ein wenig resigniert, aber irgendwie würde er wahrscheinlich immer noch lächeln. Wenn Grandine auf ihn wütend war, kamen die Schmerzen zwar auch immer, aber sie wurden oft von dem Gefühl begleitet, dass er jemanden, der ihm sehr wichtig war, enttäuscht hatte. Schlechtes Gewissen keinesfalls, da er sich nie für das schämte, was er unter den Menschen so anrichtete, aber gut fühlte es sich dennoch nicht an.
Dennoch interessierte ihn die Frau, die sich ihren schwarzen Mantel geholt hatte und in diesen gekleidet leider nun so gar nichts mehr von ihrem Körper sehen ließ, einfach aufgrund der Tatsache, dass sie sich so wahnsinnig gegen jegliche positiven Gefühle zu sträuben schien. Natürlich gab es auch solche Menschen, aber es wäre doch gelacht, wenn er das nicht irgendwie ändern könnte. Es sei denn natürlich sie wäre lesbisch oder so, aber selbst dann... "Keine Sorge, Kabane-san~ Fünf Minuten sollte jedes Immunsystem verkraften.", lächelte er und schlug den Weg zu ihrer Linken ein. Die Jacke, die er nun trug, war Übrigens nur auf der Innenseite weiß, die Außenseite war so dunkelgrau, dass man sie fast schon wieder schwarz nennen konnte, aber das war sowieso nur nebensächlich. Einen Moment gingen sie schweigend nebeneinander her, bis Cyrus lächelnd Luft holte und mit einem Schmunzeln den Kopf schief legte, während er sich ihr zuwandte. "Warst du schön öfter in der Stadt oder ist das dein erstes Mal, Kabane-san?" Dabei war seine Stimme so neutral, dass man wirklich nicht drauf kommen könnte, dass ihn die Formulierung innerlich zum Grinsen brachte. Marokkasu Town war zwar die Hauptstadt Fiores, aber dennoch war keine Gilde dort beheimatet, sodass es viele gab, die noch nie dort gewesen waren...

Yureiko konnte man vieles vorwerfen, vor allem schlechte Angewohnheiten. Zum Beispiel wäre da ihr Mangel an Selbstbeherrschung und -kontrolle, von dem sie selbst wusste, dass sie ihn loswerden musste und wie gefährlich er für ihre Umgebung, ihre Ziele und vor allem sie selbst war. Andere mochten dabei ihren mangelnden Willen nennen, sich auf andere Personen einzulassen und Gespräche nicht nur zu beginnen, sondern diese auch mit großer sozialer Kompetenz zu Ende zu bringen - obwohl sie ja eigentlich gerade dabei war genau dies zu vollbringen. Eine dritte Schwäche war ihr uneingeschränktes Vertrauen in ihre Fähigkeiten, das zugegebenermaßen manchmal gar in leichten Götterkomplexen mündete. Aber eine Sache konnte man ihr kaum vorwerfen: Die Negierung aller positiver Gefühle war schlicht nichts, dass zu ihr passte. Es mochte nach außen so wirken, vor allem wenn man die Magierin zum ersten Mal traf, aber insgesamt achtete sie darauf, den einen oder anderen Genuss in ihrem Leben zu erhalten. Einer davon hätte sogar Seraphim auffallen können : Die Musik! Er hatte nicht nur mit angesehen, wie die Kabane auf gute Musik reagierte, sondern auch von ihr selbst gehört, dass sie selbst gerne spielte. Wozu sollte sie das denn machen, wenn nicht zu dem einzigen Zweck, positive Gefühle zu erzeugen? Und das war ja nicht das einzige. Da gab es ja auch noch ihren Garten, der mit aller Liebe und Hingabe gehegt und gepflegt wurde, ganz einfach zu ihrem ganz persönlichen Vergnügen. Nicht für jemand anderen, sondern nur für sie selbst und ihrem ganz eigenen Wohlbefinden - und für gutes Gemüse. Auch wenn sie mal wieder die heißen Quellen ihrer Heimatstadt besuchte ging es um nichts anderes und manchmal, so ab und zu, da war sogar die Arbeit in ihrem Keller an ihren Leichen ein Genuss, nämlich genau dann, wenn sie mal wieder ein besonders schönes oder faszinierendes Exemplar vor sich liegen hatte. Nein, die Unterstellung, sie würde sich gegen Glücksgefühle sträuben, war einfach unwahr. Dafür war sie aber umso verständlicher, waren doch viele der Dinge, die sie bei der Forscherin auslösten, ganz einfach völlig untypisch.
Fünf Minuten? Wenn die junge Dame nicht gewusst hätte, wofür sie das Café eigentlich verlassen hatten, dann würde sie am Sinn dieser Aktion zweifeln. Die absurde Unterstellung des Dragonslayers, dass ihr Immunsystem unter Umständen schwach wäre, ignorierte sie gründlich. Immerhin hatte sie ja gelernt, dass man sich nicht auf jede mutmaßliche Provokation einlassen musste, schon gar nicht dann, wenn es genauso gut sein konnte, dass man sich täuschte und eigentlich niemand etwas böses gewollte hatte. Daher wandte die Zauberin sich einfach der Beantwortung der Frage zu, die vom Weißschopf gestellt worden war: "Nein, nicht das erste Mal. Ich war schon zwei, drei Mal im Bijou. Man trifft dort wirklich oft interessante Leute." War das zu zweideutig? Eigentlich schon, vor allem wenn man bedachte, neben wem sie gerade her spazierte. Zu dessen Glück konnte die Formwandlerin das aber nicht bedenken, da sie es ja nicht mal im Ansatz wusste. Eigentlich war es wahrscheinlich sogar für beide besser, denn Yureiko wäre wahrscheinlich der ganze Abend verdorben worden, wenn sie herausgefunden hätte, was die eigentlichen Absichten des jungen Mannes waren. Vorerst blieb nun also nur mehr eine Sache zu sagen offen: "Aber du warst wohl noch öfter hier, oder? Wie kommt das?"

Ja... wie kam das? Warum kannte Cyrus sich nur so gut in vielen der großen Städte Fiores aus...? Da musste er erst einmal nachdenken, nicht, weil er die Antwort nicht wusste, sondern weil er sich eine geeignete Lüge ausdenken musste. Die Wahrheit war nun einmal, dass er eine Menge flüchtiger Bekanntschaften hatte, die über ganz Fiore verteilt waren. "Flüchtig" traf wohl allerdings eher auf ihn zu - ebenso wie es Nesthocker und Nestflüchter im Tierreich gab, war er eben ein Bettflüchter - ums mal so zu umschreiben. Aber wie blöd wäre es denn, diese Tatsache einer Frau unter die hübsche Nase zu reiben, von der er etwas wollte, was sie ihm niemals geben würde, wenn sie wüsste, dass er sie danach schamlos im Stich lassen würde? Also musste er es eben beschneiden, bis nur noch übrig war, woraus sie keinen Verdacht schöpfen konnte. "Ich reise gerne und viel~", meinte er also lächelnd und verschwieg damit die Tatsache, dass er zum Beispiel wusste, dass die junge Frau, die im zweiten Stock des Hauses wohnte, an dem sie gerade vorbei gingen, ganz wunderbar Flöte spielen konnte. Genau... sie war total musikalisch... oder so. Na, in jedem Falle würde Yureiko hoffentlich nichts von alledem erfahren, da sein Vorhaben sonst wahrscheinlich jeglichen Erfolg einbüßen würde. Es war zwar schon eine Herausforderung, sie unter Idealbedingungen rumzukriegen, aber sollte sie von seiner wahren Natur auch nur Wind bekommen, wäre es ziemlich unmöglich. "Da ist natürlich die Hauptstadt Fiores ein wahrer Muss... zudem es einige renommierte Theater in dieser Stadt gibt~" Er lächelte und schritt weiter, in dem Wissen, dass sie gleich dort ankommen würden, wo er sie haben wollte. Tatsächlich tauchte nach der nächsten Biegung ein kleines Lokal auf, welches im Erdgeschoss eines der für diesen Teil der Stadt typischen Häuser lag. Die Libelle. Man sollte erst gar nicht fragen, wie dieses Lokal zu dem albernen Namen gekommen war, aber offenbar hatte der Wirt eine Schwäche für die schillernden Insekten, die in dieser Gegend eigentlich selten vorkamen. Da er allerdings nicht von hier stammte, sondern aus dem Süden Fiores gekommen war, um hier sein Geschäft aufzuschlagen, konnte man ihm das wohl nachsehen. Eine aus Metall gegossene, pechschwarze Libelle, die Flügel weit gespreizt, hing über dem Eingang, sodass wirklich jeder Analphabet den Namen hätte erraten können - dennoch gehörten diese nicht zur normalen Kundschaft. Egal, wie man es sah, die Dekoration war offen, hell und keinesfalls herunter gekommen; der Wirt achtete darauf, dass sein Lokal nicht zu einer Spelunke degradiert wurde. Insofern sollte es sogar den Ansprüchen der wahrscheinlich in dieser Hinsicht verwöhnten Kabane genügen, die Cyrus nun hierher gebracht hatte, um sein Spielchen zu einem krönenden Abschluss zu bringen. Mit einem Lächeln ließ er ihr den Vortritt.
Man sollte etwas über Cyrus wissen: Der Drachenjunge war ein wahres Chamäleon, was sein Auftreten und sein Verhalten anging. Wenn er wollte, dass man auf seiner Seite war und ihn sympathisch fand, dann schaffte er das meist irgendwie. Er hatte diesen Ort also nicht nur ausgesucht, weil er wusste, dass hier einigermaßen Niveau gesichert war, sondern auch, weil er den Wirt kannte und in ihm beinahe einen Verbündeten gefunden hatte. Er würde mit Sicherheit wissen, auf was Cyrus aus war, wenn er hier mit einer hübschen jungen Frau herein käme, aber er würde ihn nicht verraten. Und das war schließlich die Hauptsache. Deswegen war auch der Grund, warum Cyrus Kabane die Tür öffnete und ihr den Vortritt ließ, die Tatsache, dass er dem dicklichen Mann mit Schnauzbart, der hinter der Theke stand und kurz aus einem Gespräch mit einem anderen Gast aufblickte, kurz zuzwinkerte und den Finger an die Lippen legte, ehe auch er hineinging. "Such dir einen Tisch aus, Kabane-san~" Seine Stimme war wie gewohnt sanft und freundlich und ebenso war kein Funken seiner Absicht in den hellvioletten Augen zu sehen. War die Frage eigentlich, wie lange er brauchen würde, die herumzubekommen, oder doch eher, wie lange sie benötigen würde, um ihn zu durchschauen?

Ja, wie lange würde das dauern? Wenn man nur Yureiko kannte, war die Antwort klar: Nicht sehr lange. Dann wusste man auch, was die blonde Magierin mit ihrem Gegenüber anstellen würde. Wenn man aber beide kannte wurde die Sache komplizierter. Wer nur Seraphim kannte würde nämlich behaupten, dass sie es erst nach der Bettflucht bemerken könnte. Beide zusammen, das war dann schon eine ganz besondere Situation. Einen Vorteil hatte der Dragonslayer in diesem Spiel trotz allem: Die Kabane hatte gar keine große Lust, sich mit ihm anzulegen. Auch sonst war sie an diesem Abend einfach nicht auf Streit aus. Das würde vielleicht nicht helfen, die Blondine in ein gemeinsames Zimmer zu bekommen, aber zumindest würde er keines im Hospital buchen müssen. Das war immerhin ein Anfang. Aber wovon? Auf Liebe hatten es beide nicht abgesehen, so viel war klar. Während der Drachenzögling von Freundschaft oder zumindest Zusammenarbeit wohl nicht viel hielt, war es zumindest zweitgenannte Sache, auf die die Wissenschaftlerin abzielte. Sie wollte dafür nicht, was Cyrus anstrebte - dies muss wohl nicht näher erläutert werden. Was bleibt dann also übrig? Eigentlich nichts. Ein gutes Ende konnte man daher eigentlich schon jetzt vollends ausschließen.
Da aber keiner unserer Helden darüber Bescheid weiß, geht die Geschichte zum Glück noch ein kleines Stückchen weiter. Man hatte Yureiko nämlich nicht nur die Tür aufgehalten - was für ein Kavalier! - sondern auch noch angeboten, selbst den Platz zu wählen. Gut, vom Kavaliersstandpunkt aus war der Blondine herzlichst egal, wie ihr Begleiter sich verhielt. Dennoch zeugten beide Gesten von Respekt und der war ihr ja bekanntlich sehr wichtig. Sie glaubte zwar selbst nur sehr begrenzt, dass es dabei um eine ehrliche Respektsbekundung ging, aber manchmal musste man eben akzeptieren, was man bekam. Mehr war hier scheinbar nicht im Bereich des Möglichen. Also sah die Zauberin sich erst mal um. Die Platzwahl war ja eigentlich unwichtig, andererseits wollte sie ja etwas vorzeigen, dass nicht für die Augen aller bestimmt war. Sich vollends zurückziehen hätte ihr eigentlich auch gefallen, der große Gesellschaftsmensch war in ihr noch nicht zum Vorschein gekommen. Dennoch war die sich Formwandlerin nicht im Klaren, ob das günstig war. Immerhin wollte sie ja nicht allzu verschroben wirken. Dennoch entschied die Kabane sich für einen eher weiter hinten liegenden Tisch, sofern man "hinten" in dem kleinen Lokal überhaupt sagen konnte. Nicht, dass sie das störte, sie mochte diesen Ort sogar ganz gut leiden. Ihr weißhaariger Begleiter hatte dabei wieder ein Mal seinen Geschmack bewiesen. So stellte sich die Magierin also neben den ausgewählten Tisch und wartete darauf, dass man ihr folgte.

Ja, das hier würde gutes Ende nehmen, aber diese waren ja generell den Märchen und ähnlich unglaubwürdigen Geschichten vorbehalten, nicht der Realität. Zudem konnten Menschen wie Cyrus keine guten Enden erwarten, da alles, was sie anstellten, nichts Gutes bedeutete und sie sich generell auf der falschen Seite des Rechts bewegten, ob nun als Institution oder als moralische Größe. Er würde sicherlich irgendwann alleine und in Missgunst gefallen sterben, das war eigentlich schon vorprogrammiert, sollte er seinen Kurs so halten - und auch auf diesen Abend war es zu beziehen. Immerhin verfolgten beide Gesprächspartner unterschiedliche Ziele, die aber schlecht ohne den jeweils zu erreichen waren, sich aber vollkommen widersprachen. Kabane versuchte sich wahrscheinlich zum ersten Mal an etwas, das man "Kontakte knüpfen" nannte, eine Tätigkeit, die einen sozial absicherte und nützliche Verbindungen zu Menschen hinterließ, die einem vielleicht mal einen Gefallen tun konnten. Was für einen Glückstreffer sie da eigentlich mit ihm gelandet hatte, war der jungen Frau dabei nicht einmal bewusst. Sie, als Sucherin nach der Unsterblichkeit, nach der Freiheit vom allgegenwärtigen Tod, der sie gleichsam faszinierte und abstieß, konnte doch eigentlich niemanden mehr brauchen als jemanden, der dazu befähigt war, diesen herauszuzögern, nicht wahr? Allerdings hätte er ihr, selbst wenn er von ihrer Einstellung zu diesem natürlichen Phänomen, sicherlich nicht auf die Nase gebunden, dass er Heilen konnte, nein. Dafür war er viel zu egoistisch und daran interessiert, dass er nicht von anderen deswegen belagert wurde, Menschen, die jegliche Hoffnung eigentlich schon aufgegeben hatten. Musste nicht sein, wirklich nicht. Selbst wenn das der einzige Weg gewesen wäre, die junge Frau für sich zu gewinnen, so hätte er ihn nicht eingeschlagen – und das wollte für jemanden, der eigentlich alles tat, um zu gewinnen, durchaus etwas heißen. Zudem sollte man erwähnen, dass Kabane nicht nur nicht angebaggert werden wollte, sondern auch dafür sorgen konnte, dass er nie wieder irgendetwas mit auch nur annähernd schmutzigen Hintergedanken ansehen konnte. Zwar wusste er das nicht so genau, aber es ließ sich nicht übersehen, dass eine gewisse Souveränität ihr Handeln prägte, das vor allem mit Kraft oder viel Macht einherging. Wahrscheinlich – so schätzte er das ein – handelte es sich dabei vor allem um erstes, zweites bezweifelte er und auch wenn er der festen Überzeugung war, dass er sich im Notfall vor ihr retten könnte, so musste er es ja nicht noch mehr riskieren, als er es überhaupt schon tat.
Kabane wählte einen Tisch, der sich dankenswerter Weise nicht in der Mitte des Lokals befand – für seine Zwecke war das auch viel günstiger so. Schließlich wollte er nicht die wenigen anderen Gäste (interessanterweise hauptsächlich männlichen Geschlechts) unterhalten, sondern ein wenig Privatsphäre mit der Blondine teilen, was wohl am besten funktionierte, wenn man sich nicht im tatsächlichen Zentrum des Raumes befand. Ob man dennoch zum Zentrum der Aufmerksamkeit werden würde, stand in den Sternen, möglich war es aber. Einige Köpfe drehten sich, als die junge Frau mit dem leicht mürrischen, in jedem Falle aber strengen, Gesichtsausdruck durch den Raum marschierte und auf ihren favorisierten Tisch zuhielt. Der Weißhaarige, der ihr mit entsprechendem Abstand folgte, schmunzelte und ließ den Blick kurz und voller Genugtuung über die Gesichter schweifen. *Hättet ihr wohl auch gerne, was?~* Aber da hatten sie sich geschnitten, wenn irgendjemand noch mehr von ihr sehen würde als das, was man unter ihrer, seinem Geschmack nach viel zu weiten, Kleidung sehen konnte, dann würde er das sein… nur er und kein anderer der Anwesenden. Diese wussten darum wohl Bescheid, weswegen es ihm solchen Spaß machte, sie dabei zu beobachten, wie sie irgendwann wieder wegblickten, einer von ihnen sogar mit deutlich frustriertem Blick. Mit einem galanten Lächeln zog er den Stuhl, auf den sich Kabane zubewegte, zurück und wartete darauf, dass sie sich setzen würde. Anschließend setzte er sich ihr gegenüber und hing seine Jacke über die Stuhllehne, stützte den Ellbogen auf die Tischplatte und bettete das Kinn hinein. Ja, diese Haltung würde man wohl schnell wiedererkennen, da er sie durchaus öfter zu nutzen pflegte. "Mhh~", kam es nachdenklich aus seiner Kehle, ein Geräusch, dem ein unterschwellig schnurrender Klang anhaftete, "Was tust du eigentlich so, wenn du nicht gerade Klavierkonzerte besuchst, Orgel spielst oder die Leichen in deinem Keller besuchst?~" Er wollte doch schließlich nicht, dass sich ihre doch recht interessante Konversation von vorhin im Sand verlief, also musste er immerhin versuchen, Konversation zu betreiben.