Natürlich dachte Souta nach. Über die merkwürdigsten Dinge. Meistes über essbare oder nicht-jugendfreie Dinge. Manchmal dachte er über weißhaarige Dinge nach, zu den unpassendsten Gelegenheiten. Er stand morgens unter der Dusche und war frei von allen Übeln, da traf es ihn, oder er joggte durch den Park oder er saß allein in seinem Sitzsack und fragte sich, was der Mieter über ihm wohl gerade trieb. In ihm quoll nicht die sehnsüchtige Art von Herzschmerz, die man des Öfteren bekam, wenn man verflossenen Liebschaften hinterhertrauerte ... Er vermisste seinen Freund. Souta hatte nur einen davon gehabt und der hatte sich als Fnte herausgestellt, die sich in ihn verliebt hatte. Das überforderte ihn maßlos, also lief er davon, wie das nun einmal seine Art war, da durfte man ihm wohl wirklich keine Vorwürfe machen. Seraphim tat das auch nicht – zumindest nicht direkt – aber der Rotschopf kam sich trotzdem irgendwie ertappt vor. Sie saßen hier wirklich wie Fremde, weil Souta ihre Freundschaft über Bord geschmissen hatte, statt sich mit eventuellen Lösungsmöglichkeiten zu beschäftigen, und das tat mehr weh als er gedacht hatte. Früher hätte er schon längst die dünnen Arme um Seraphim geschlungen und ihn über seine Übelkeit hinweggeholfen, aber gerade kam ihm das so falsch vor, dass er nichts Besseres zu bieten hatte, als ihn anzustarren und sich zu fragen, wie es nur soweit kommen konnte. Man durfte ihn nun nicht falsch verstehen und glauben, dass er reumütig wurde oder seine Entscheidung hinterfragte, nur weil der Ältere nun plötzlich vor ihm saß und miserabel aussah, soweit würde es nicht kommen. Aber er fühlte sich nicht ganz wohl mit dieser Distanz, die nicht nur nicht zu ihrer Vergangenheit zu passen schien, sondern auch nicht zu ihm als Person. Eigentlich ging er auf alle Menschen zu und versuche Lösungen zu finden, aber manchmal konnte er eben nichts Anderes tun als flüchten, weil er Angst hatte . Und es war nun einmal ein bekanntes Phännomen, dass dabei diejenigen litten, die ihm am nächsten standen. Er hatte es bis heute geschafft sämtlichen Kontakt zu seiner Mutter abzubrechen und das waren Jahre, da konnte er sicherlich auch dasselbe mit seinem ehemaligem besten Freund tun, egal wie er ihn anschaute und egal wieso er sich betrunken hatte. Er hatte also nachgedacht und keinen anderen Ausweg gesehen, als in ein Glas zu gucken, ja und? Was ging ihn das an? Er konnte nichts dafür, dass sich der Ältere in ihn verliebt hatte ... Wieso sich also schuldig fühlen oder mehr tun als einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht zu riskieren, bevor sich sein Auge auf seine ineinander verschlungenen Hände fxierte und er die Frage mehrere Sekunden lang eisern todschwieg, ehe er seufzte und mit den Fingerkuppen aneinanderrieb. „Klar.“ Er hob den Blick und schaute recht zerknirscht drein, weil es eben unangenehm war, soetwas auszuplaudern, vor einer Person, die er eigentlich abschreiben wollte. „Klar denke ich nach.“ Ein trockenes Schlucken. „Hauptsächlich über Lügen und Geheimnisse und den Fakt, dass man für vollständiges Vertrauen eigentlich immer enttäuscht wird. Worüber denkst du so nach?“ Ob man ihm wohl jemals erklären konnte, warum er dieses Gespräch nicht einfach abreißen ließ? War er wirklich dermaßen masochistisch oder einfach nur ein wenig zu einsam?

Seraphim fühlte sich ungerecht behandelt. Es war wahrscheinlich, dass er das schon seit längerem so empfand, aber es sich nie richtig deutlich gemacht hatte, weil er es lieber verdrängte. Schon vor Monaten war ihm klar geworden, dass er, wenn er Souta als Freund behalten wollte, gewisse Dinge unter der Hand behalten musste, weil sie den Rothaarigen wahrscheinlich in die Flucht jagen würden. Damals hatte Souta ihn aus Versehen geküsst und war danach zurück gewichen, angeekelt von seinem Handeln. Dass er dabei tief in das Herz des Weißhaarigen geschnitten hatte, ahnte er zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich gar nicht und Seraphim hatte ihm deswegen keinen Vorwurf gemacht, schließlich hatte er sich auch große Mühe gegeben, seine Gefühle nicht nach außen dringen zu lassen. Die Beziehung zu Souta hatte immer eine spielerische Komponente enthalten, einen Hauch von Nichtigkeit, der es dem Einäugigen sehr viel einfacher gemacht hatte, sich mit gewissen nicht der Norm entsprechenden Dingen abzufinden. Seraphim hatte sich angestrengt, diese Atmosphäre aufrecht zu erhalten, auch wenn sie ihm immer wieder aufs Neue wehgetan hatte. Er hatte sich bemüht, Souta alles recht zu machen, ihn zu umsorgen und dabei so zu tun, als sei er für ihn nur ein guter Freund. Die meisten Menschen würden wohl nicht verstehen, wie zwei Menschen nur miteinander befreundet sein konnten und dennoch so intime Momente wie die beiden miteinander teilen konnten, aber für Seraphim war das eigentlich normal. Er zog praktisch keine Barrieren zwischen Freundschaft und Beziehung, was vielleicht damit zu tun hatte, dass er kaum Freunde besaß, mit denen er nicht ab und zu ins Bett stieg. Das war für ihn vollkommen alltäglich – im Gegensatz zu all den anderen Dingen, die er für ihn getan hatte. Man konnte Seraphim schnell dazu bringen, mit einem zu schlafen, wenn man denn entsprechend aussah, das wohl… aber es war schwer, ihn dazu zu bewegen, seine Launen auszubaden, hinter einem herzuräumen, zu tolerieren, dass sein Kühlschrank leergefressen wurde oder eine Person einfach nur so in den Arm zu schließen. Das waren Dinge, die man von ihm im Allgemeinen nicht bekam, doch Souta hatte sie immer erhalten, diese und noch viele mehr. Seraphim hatte nur für ihn akzeptiert, dass er ihn nicht liebte und es akzeptiert, damit er bei ihm blieb.
Und nun machte er ihm deswegen Vorwürfe. Er hätte ihn belogen, hatte er gesagt, sein Vertrauen missbraucht und ihm vorgehalten, er habe Geheimnisse vor ihm. War es denn nicht verständlich, warum er so gehandelt hatte? „Ich frage mich manchmal, warum ich so ein Angsthase war…“, tröpfelte es langsam aus ihm heraus, ohne dass er es wirklich geplant hatte. Einen Moment schwieg er, um danach zu kichern, trocken und irgendwie nicht besonders angetan. „Aber dann fällt mir wieder ein, dass ich vollkommen Recht hatte.“ Oh ja, das hatte er tatsächlich, auch wenn er sich mit geradezu gruseliger Vehemenz das Gegenteil gewünscht hatte. Er hatte Angst davor gehabt, dass Souta die Flucht ergreifen würde, wenn er ihm gestand, dass er sich in ihn verliebt hatte, dass er ihn nicht ernst nehmen und ihn dafür auslachen würde. Er hatte geradezu erwartet, dass das passieren würde und kaum hatte dieser verdammte Dschinn seine tiefsten Herzenswünsche ausgeplaudert… war genau das geschehen, was er vorher gesagt hatte. „Und so…“ Ein trauriges Lächeln machte sich auf seinen Zügen breit, während er kurz zu Souta hinüber blickte und dann wieder den Fußboden anstarrte, „hatte ich wenigstens etwas mehr Zeit.“ Für jede Minute, die der Rothaarige bei ihm gewesen war, einfach nur so, war er dankbar gewesen, auch ohne, dass er seine Gefühle erwiderte. Es war ein Fehler gewesen, solche Emotionen zu hegen und das wusste er auch, also hatte er die Stiche, die er dabei fühlte, auf sich selbst geschoben und sie praktisch als Strafe für solch dummes Verhalten gewertet – er hatte ja nicht erwartet, dass Souta seine Meinung ändern würde. Zumindest nicht ins Positive. Er war vollkommen zufrieden gewesen mit dem, was er gehabt hatte… und nun hatte er gar nichts mehr.

Man mochte den Rothaarigen feige nennen, dafür, dass er einfach abgehauen war und Seraphim mit seinen Gefühlen im Regen stehen ließ. Objektiv betrachtet war er das ja auch, weil er schlichtweg nicht genug Mumm hatte, um sich dem Thema wie ein normaler Mensch anzunähern, der des rationalen Denkens fähig war. Das konnte er eben nicht so einfach. Es war einer seiner Schwachpunkte. Jeder hatte seine weniger glorreichen Seiten und Souta war da sicherlich keine Ausnahme. Aber im Gegensatz zu den meisten anderen kannte er seine Fehler. Er verleugnete sie nicht, er hatte sie verbarrikadiert. In emotionalen Augenblicken hat er mentalen Stacheldraht um die Erinnerungen an seine Schwester gezogen, um seine gescheiterte Lebensführung, um den Gedanken an die Menschen, die durch seine Hand gefallen sind, um das schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit, den ein Gedankenkontrollzauber in ihm gesäht hatte, um Seraphim, der am Boden lag, Seraphim, der seinetwegen blutete, Seraphim, der im Feuer eingeschlossen war, um eine verdammte chinesische Mauer an von ihm verursachte Enttäuschungen. Um schlaflose Nächte und dem bedrohlich über ihm schwebendem Selbsthass. Souta besaß und besitzt eine ganze Menge Trauer und tiefe, schwarze Löcher und er weiß, dass er ganz, ganz kurz davor ist, entgültig den Verstand zu verlieren, aber er weiß auch, dass er stärker als die meisten ist, weil er versteht, wie schwach er ist. Und vielleicht kompensierte er für diese Schwäche ja auch derart heftig, indem er sofort die Flucht ergriff und seinen besten Freund vom Bord seines sinkenden Schiffes warf. Und vielleicht kann er zugeben, dass diese Art zu leben ungesund ist, aber gesunde Menschen haben nicht solche schrecklichen Gefühle wie Souta, gesunde Menschen sind nicht auf die Art stark, die Souta sich mit soviel Mühe in seinen Schädel geprügelt hat. Er war schon immer ein netter Kerl, und er konnte in diesem Moment auch nicht behaupten, dass er kein Mitleid für Seraphim empfand. Obwohl es leichter gewesen wäre, seine vernichtenden Sätze als bloßen Kauderwelsch abzutun und sich hinter seinem Stacheldraht zu verstecken, konnte er das nicht tun. Er hatte gedacht, dass der Andere vielleicht ein wenig in ihn verschossen gewesen war, wie das eben manchmal passierte, doch sein Tonfall, sein Gesicht und die trotz der Betrunkenheit durchschwingende Ernsthaftigkeit trafen ihn wie ein Paukenschlag. Er hatte ihn nicht einfach nur zurückgestoßen und für einen Fehler bestraft ... Souta war selbst verliebt gewesen. Er hatte ganz genau dasselbe durchgemacht wie der Himmelsmagier und eine starke Persönlichkeit geliebt, die seine Gefühle nicht erwiderte, sondern ihn hasste und sich weigerte, ihn auch nur rein platonisch an sich heranzulassen. Und dann war sie verschwunden und der Schmerz in ihm war so furchtbar gewesen, dass er alles in seinem Leben für diese eine Person weggeworfen hatte, um sie zu suchen, und schlussendlich sogar sein Leben selbst ohne sie für so nichtig befunden hatte, dass er sich die Pulsadern aufschlitzte. Er hatte eine Person so sehr geliebt, dass seine Existenz vollständg zerbrochen war, als er sie verloren hatte, weil sie einfach abgehauen war, ohne Grund und ohne Vorwarnung. Wäre sie nicht gegangen, würde er noch immer Lamia Scale dienen und in seiner alten Wohnung leben, doch nun saß er hier auf dieser Badewanne über einem Weißhaarigen und schaute auf seine Hände, auf seine Arme, aus denen die weißen Wülste seiner Narben wie Ausrufezeichen herauszuwachsen schienen, die ihn anklagten, seine Kehle zuschnürten und in ihm für einen kurzen, überwältigend starken Augenblick das Bedürfnis auslösten, in Tränen auszubrechen wie ein kleines Mädchen. Souta hatte nicht einfach kindisch gehandelt und einen Fehler gemacht. Er hatte Seraphim ganz genau dasselbe angetan, womit er kaum zurechtgekommen war. Was ihn noch heute in seinen Träumen heimsuchte und ihn verändert hatte, wie es zuletzt der Tod seiner Schwester getan hatte. Er hatte ihn nicht nur abgewiesen ... Wenn er ihm auch nur einen Bruchteil des Schmerzes zugefügt hatte, den er selbst empfunden hatte, dann hatte ER ihn verraten. Hatte er ihm nicht tausendmal mental versprochen, dass er ihn nicht alleine lassen würde und ihn vor Schaden bewahren wollte? Und was hatte es gebracht? Wieso tat es so weh, dass Seraphim sich gedacht hatte, dass er verschwinden würde, dass er „Recht gehabt hatte“? Weil er geglaubt hatte, dass der Andere ihm vertraute, oder mehr Hoffnung in ihn setzte, als er es selbst tat? Oder war das nur das übliche, miese Gefühl, das sich bei ihm einstellte, wenn er auf ein Neues feststellte, dass sein Selbsthass gerechtfertigt war und er nun einmal einzig und allein dafür existierte, sich selbst und andere Mal für Mal zu enttäuschen? Der Kettenmagier schluckte einen gefühlten Morgenstern herunter und griff sich an die Stirn. Verdammt. Was hatte er nur angerichtet? Wiedereinmal war er dafür verantwortlich, das Leben einer Person zerstört zu haben, und eine Entschuldigung würde das hier niemals wieder einrenken. Seraphim mochte sich in ihn verliebt haben und damit Angst in ihm geschürt haben, aber wann war er ihm denn jemals ein schlechter Freund gewesen? Es war Souta, der forderte, Souta, der meckerte, Souta, der das nächste Drama anschleppte, um das man sich kümmern musste. Und Seraphim hatte das alles ausgehalten, weil er ihn aus irgendeinem seltsamen Grund liebte. Doch selbst jetzt, wo er Hilfe brauchte und es ihm so elend ging, konnte er nichts Anderes tun, als ihn zu beschuldigen und das Opfer zu spielen ... Dabei war er doch viel eher der Täter in der ganzen Sache, oder nicht? Was sollte er nur tun, jetzt, wo seine Wut sich gleichermaßen auf den jungen Mann vor ihm und auf sich selbst verteilte? „Ich weiß nicht, was ich dir darauf antworten soll.“ Das war das Ehrlichste, was ihm gerade einfiel, und für sojemanden wie Souta war das mehr als ungewohnt, denn er hatte immer irgendetwas, was er antworten konnte, und wenn es nur ein scherzhafter Kommentar war. Hier allerdings war soetwas weniger angebracht. „Ich glaube, ich bin der Angsthase hier. Sieh dir meine Hände an.“ Er trennte die eng ineinander verschlungenen, geröteten Gliedmaßen voneinander und hielt sie vor sich hin, wo sie sofort wieder begannen, unkontrolliert zu zittern. „Ich habe Angst ...“ Er betrachtete seine Hände, lauschte seinem wild pochendem Herzen und spürte, wie die aufkeimende Schuld ihn überwältigte, obwohl er doch der Mann ohne Reue und schlechtem Gewissen war, nur weil diese Person vor ihm drei Sätze gesagt hatte, die ihm sein eigenes Verhalten dermaßen brutal an den Kopf warfen, dass er kaum atmen konnte und sich fragte, wie um alles in der Welt das möglich war und wie er das bloß wieder in den Normalzustand zurückversetzen konnte, ohne dass Seraphim derjenige wurde, der jetzt alles zum Einstürzen brachte, was er sich sein Leben lang so mühsam aufgebaut hatte. Er kam mit allem zurecht, aber damit nicht ... Und davor hatte er sich immer gefürchtet. Jemand hatte seine scheinbare Stärke weggeschlagen und seine Schwäche blutete jetzt aus allen Poren. „... Du hast von Anfang an gewusst, was ich für eine Art von Person bin und du hast dich trotzdem in mich verliebt. Du hast gewusst, dass ich abhaue und dich fallen lasse und dir wehtue und trotzdem siehst du - sahst du - in mir etwas, was ich nicht sehe. Und das macht mir Angst. Du machst mir Angst ... “

Im Grunde genommen war Seraphim nicht fähig, eine solche Konversation zu führen, weil er betrunken und sicherlich etwas weniger zurechnungsfähig als normal war. Vielleicht war dieser Zustand aber auch positiv zu sehen, weil er so nämlich nicht auf die Idee kam, mit irgendetwas hinter der Hecke zu halten. Souta hatte doch klar erklärt, dass er nicht belogen werden wollte, also schlussfolgerte Seraphims betrunkenes Ich, dass er damit aufhören sollte. Die Wahrheit mochte vielleicht wehtun, aber er hatte sowieso immer mehr das Gefühl, dass er wahrscheinlich schon so viel Schaden angerichtet hatte, dass das bisschen nur noch wenig Fett zum Kuchen beitrug. Souta ging es nicht gut, das merkte er schnell und weil es ihn aufwühlte, er das nicht wollte, drückte er sich vorsichtig von der Wand ab und krabbelte auf den Rothaarigen zu, bis er neben der Badewanne saß und ihn bequem erreichen konnte. Noch tat er aber nichts dergleichen, sondern setzte sich mit dem Rücken zur haltgebenden Kachelwand, damit er nicht doch noch umkippte. Noch war die Übelkeit nicht zurückgekommen, aber man wusste ja nie, ob das nicht vielleicht noch kommen würde, also war er damit auf der sicheren Seite. Außerdem musste Souta ihm dann nicht ins Gesicht blicken, weil er gerade irgendwie das Gefühl hatte, dass diesem diese Aussicht nicht allzu gut gefiel. "Ich bin doch genauso.", ließ er irgendwann verlauten, ehe er die Unterarme auf die Knie stützte und den Kopf zurücklehnte. Wie konnte er, der er mit Menschenherzen wie mit Flummis spielte und keine Scheu davor hatte, auf ihnen herumzutrampeln, jemanden schon verurteilen, weil er dazu neigte, anderer Leute Herzen zu brechen? Er selbst war in dieser Hinsicht sicherlich kein unbeschriebenes Blatt Papier und glaubte zumindest einige Motive für solches Handeln zu kennen. Zudem hatte man leider wenig Kontrolle darüber, in wen man sich verliebte, denn ansonsten hätte Seraphim das sicherlich unterlassen. Er hätte sich ja trotzdem mit ihm anfreunden und ein eher eigenwilliges Verhältnis mit ihm haben können, ohne dass er gleich in solch tief schürfender Art von ihm abhängig war, das wäre ihm persönlich auch lieber gewesen. Er selbst verachtete Menschen eigentlich, die sich verliebten und sich an eine Person klammerten, weil er immer gedacht hatte, dass das nur den mental schwachen passieren konnte, aber mit der Zeit hatte er gelernt, dass das nicht stimmte. Das mit der Liebe war kompliziert, schwerer als gedacht und vor allem sehr schwer kontrollierbar. "Weißt du, wenn du sagst, dass ich dich belogen habe, dann hast du Recht." Er ließ den Satz einen Moment stehen, ehe er nach einer von Soutas zittrigen Händen griff und sie wie durch ein Wunder sogar zu fassen bekam. "Ich bin ein Lügner. Und ich betrüge. Und ich zerstöre Leben, weil es mir Spaß macht. Wirklich, es verschafft mir irgendwie eine gewisse Befriedigung." Während er sprach, streichelte er abwesend über die dünnen Finger des Rothaarigen, in denen, wie er wusste, eigentlich abartig viel Kraft steckte. Generell sah Souta nicht nach dem aus, was sein Körper zustande bringen konnte und irgendwo wurmte es ihn ja, dass der Einäugige stärker als er war. Das war er nicht gewöhnt - und da Betrunkene manchmal dazu neigten, genau das auszusprechen, was sie dachten, folgte auf diese Beobachtung: "Es ist seltsam, dass du so stark bist, Souta... ich mag es eigentlich nicht, wenn Leute stärker sind als ich, das ist zu unsicher..." Kaum war dieser Satz ausgesprochen, schaltete sich allerdings wieder sein Gehirn an und beschloss, dass das eigentlich nicht das Thema gewesen war. Er räusperte sich und starrte kurz die Wand an, ehe er den Kopf an Soutas Knie lehnte und die Augen schloss. "Ich will dir keine Angst machen.", begann er mit todernster, wenn auch etwas aufgeweichter Stimme, "Ich habe dich nur in den Punkten belogen, in denen ich es für besser hielt. Immerhin... kenne ich dich gut genug, um gewisse Reaktionen abzuschätzen. Ich war vollkommen damit zufrieden, dass du meine Gefühle nicht erwiderst, solange zu bei mir warst, weil die nur zweitrangig waren." Er zuckte mit den Schultern. "Ich wollte auch nicht, dass du unseren Auftraggeber ermordest. Das mach ich noch irgendwann. Ich komme besser mit einer Faktenlage zurecht, die ich manipulieren kann, Souta... so war das schon immer."
Nun endlich drehte er den Körper ein wenig, schlang die Arme um Soutas Unterschenkel und legte seine Wand auf dessen linken Oberschenkel. Die violetten Augen hatten sich geschlossen und nur die Andeutung eines Lächelns hatte sich auf seine Lippen verirrt. "Aber bitte... bitte hab' keine Angst vor mir. Denn auch wenn ich mit fehlender Erwiderung leben kann, ist das mit Distanz anders." Er wollte nicht, dass Souta wieder ging. Am liebsten wollte er die Zeit zurückspulen und alles wieder so machen, wie es vorher einmal war.

Obwohl man sicher tausend Witze über Seraphims sexuelle Orientierung und eben dieses Adjektiv machen könnte, war der Himmelsmagier eigentlich nicht warm, weder charakterlich noch körperlich. Souta kannte sich damit aus, schließlich war das hier gerade nicht das erste Mal, dass der Andere nach seiner Hand griff und es war auch nicht die direkteste Art von Körperkontakt, welche die beiden im Laufe ihrer Bekanntschaft ausgetauscht hatten. Er war nicht kalt oder so, aber für jemanden wie dem Rothaarigen, der quasi eine Heizung verschluckt hatte, waren sowieso die meisten Menschen unterkühlt. Umso intensiver bemerkte er also gerade die Körperwärme des Weißhaarigen, der seine Hand festhielt und über seine Finger streichelte, durch seinen Arm hinaufwandern, beinahe so, als hätte er seine magischen Fähigkeiten eingesetzt, doch als er die Hand betrachtete, als wäre sie ein Dämon mit zwei Köpfen und für einen langen Moment darüber nachdachte, ob er sie nicht wegziehen sollte, weil ihm das Gefühl unangenehm war, umgab sie kein grünes Leuchten. Trotzdem machte es ihn irgendwie zufrieden, auch wenn er nicht verstand, wieso. Im Grunde hatte er sich schon wieder als Opfer hingestellt, war wieder derjenige, den man trösten und umsorgen musste, dabei wollte er das doch gar nicht. Er war so stark, wie Seraphim ihm gerade mitteilte, so lächerlich stark, dass er Bäume ausreißen konnte und so schnell und so geschickt, dass niemand es vermochte, ihn zu verletzen – und doch saß er da, mit hämmernden Herzen und einer Hand, in der sich der Schweiß sammelte, angespannt wie ein kleines Kind, das das erste Mal auf dem Beichtsuhl saß. Ihre Beziehung hatte sich verändert, jetzt wo er wusste, dass diese kleinen Gesten nicht einfach nur dazu dienten, ihn flachzulegen, weil das eben ihre Art von Spaß war, sondern ernst gemeint waren und genossen wurden. Wenn er seine Hand hielt hatte das plötzlich einen ganz anderen Wert, und wenn er seinen Kopf an sein Knie lehnte, weil er müde war, fühlte sich das eigenartig an, wie ein Strudel in seinem Magen. Er wusste nicht, ob ihm schlecht war, oder ob er einfach nervös war. Er zitterte, schwitzte und war kurz davor, rot zu werden, denn das hier war irgendwie zuviel und zuwenig auf einmal, und doch wusste er einfach nicht, was er von dem Anderen erwartete oder er von sich selbst wollte. Normalerweise war es so leicht, seinen Handlungsstrategien zu folgen, aber gerade war er verwirrt und perplex. Seraphim wollte in seiner Nähe sein, egal ob er seine Gefühle erwiderte oder nicht? Souta wollte sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich das für ihn sein musste, eine Steinwand zu lieben, die immer nur nahm und so wenig gab. Er war kein idealer Kandidat für romantische Gefühle, weil er nicht dazu in der Lage war, jemand anderen zu lieben, solange er selbst derart kaputt war – und trotzdem keimte in ihm etwas auf, das er sich eingestehen musste. Er vermisste Seraphim. Irgendwie war der egoistisch-narzisstische Himmelsmagier ein Teil von ihm geworden und seine Abwesenheit hatte sich angefühlt, als hätte man eines seiner Beine amputiert ... Er kam einfach nicht mehr richtig ins Gleichgewicht und eierte durch die Gegend. Seraphim umarmte sein Bein, als wäre er ein Schiffsbrüchiger, der sich an ein Stück Treibholz klammerte, und Souta musste schlucken, weil ihm einfiel, wie er den Anderen als seinen Anker bezeichnet hatte und eifersüchtig auf die One Night Stands gewesen war. Er hatte mit ihm Händchen gehalten und ihn geküsst, er hatte mit ihm Nächte verbracht, er hatte ihm all seine emotionalen Probleme anvertraut und ihn sogar so tief in sein Ich geführt, dass der Dragonslayer über seine Vergangenheit und seine Familie Bescheid wusste. Was genau hatte ihn dann nur dazu gebracht, ihn zu verlassen, nur weil er mit Worten umschrieben hatte, was er schon längst hätte wissen müssen? Souta war kein toller Hecht, und wenn man derart viel Zeit mit einem schlechtem Menschen verbrachte, gab es eben nur diese eine Erklärung. Und was bedeutete das nun für ihn selbst? Seraphim hatte gerade erklärt, dass er mindestens genauso mies war, dass er jemanden töten wollte und ... Und er musste an all die Male denken, in denen Seraphim sich in Gefahr begeben und sein Leben für ihn riskiert hatte. Gerade er, Souta, sollte doch wissen, dass Sterben keine Kleinigkeit war. Man brachte sich nicht aus Mitleid für jemanden in Lebensgefahr. Man entschied sich nicht dafür, weil es Spaß machte oder weil man Schuldgefühle hatte oder weil es leicht war. Man brachte sich selbst in Gefahr, damit jemand anderes leben konnte. Das machte man nicht für jeden. Der Tod war ein ziemlich entgültiges Ende. Souta ließ den Kopf hängen, denn er wusste es doch ... Wenn es jemanden gab, den man so sehr liebte, dass man sein Leben für ihn hergeben würde, dann konnte man das doch nicht in Frage stellen oder anzweifeln. Der Kettenmagier fuhr sich in einem plötzlichen Anflug von Erschöpfung mit seiner freien Hand über sein Gesicht und bedeckte für einen kurzen Moment sein Auge, so dass für eine kurze Weile das einzige Geräusch im Raum ihre Atemzüge waren. Soutas Atmen wurde jedoch zunehmend schwerer, während sein Hirn langsam seine Gedanken einholte und begann, sie zu verarbeiten. Es schickte ihm ein Bild von sich selbst, wie er in einen von Flammen eingeschlossenen Maschinenraum rannte, um Seraphim herauszuholen. Und jetzt war es zu spät, viel zu spät vielleicht, und es gab wahrscheinlich nichts, das er jetzt tun konnte, um um Vergebung zu bitten, aber in diesem Moment kapierte er etwas, ohne, dass er es je beabsichtigt hatte. Plötzlich hatte er das Gefühl – und er war vielleicht verrückt, das zu behaupten – dass er ALLES verstand. Was es für ihn bedeutet hatte, als Seraphim durch seine Hand niedergestreckt auf dem Boden gelegen hatte, blutend und dennoch im Begriff, auf ihn zuzukriechen. Wieso er sich so dreckig gefühlt hatte, wenn er die nächtlichen Vergnügungen des Weißhaarigen morgens in Hanibis Café mit seligem Grinsen beobachtet hatte. Was es ihm immernoch bedeutete, jetzt in diesem Augenblick, indem er Seraphim all diese Dinge an den Kopf geworfen und ihn weggestoßen hatte und der Ältere ihn trotzdem trösten wollte, selbst wenn das hieß, dass er mit seiner Zurückweisung leben musste, nur damit er bei ihm bleiben konnte. Was Seraphim getan hatte. Was Souta getan hatte. Die Schultern des Kettenmagiers verkrampften sich plötzlich, ließen ihn zu einer Salzsäule erstarren, und er zog die Luft ein, als wäre er ein Taucher, der das erste Mal seit Stunden wieder durch die Oberfläche stößt – als wäre er ein Komapatient, der nach unendlich langer Zeit die Augen aufschlagen konnte. Souta blinzelte dem Spiegel über dem Waschbecken entgegen, betrachtete für einen kurzen Moment den Ausschnitt seines Gesichtes, den er von dieser Höhe aus sehen konnte, entsetzt und mit einem Auge so groß wie eine Untertasse. „Scheiße.“
Seraphim war immer bereit gewesen, für ihn zu sterben, ohne zu zögern. Er hatte sich mehr als nur einmal vor einen sprichwörtlichen Zug geworfen, mit einem Lächeln jede Verstümmelung seines Herzens in Kauf genommen, solange er einfach bei ihm und glücklich war ... und wenn das keine Liebe war, dann wusste er es auch nicht. Seraphim war nicht in ihn verschossen oder hatte romantisches Interesse an ihm ... Er liebte ihn. Und es gab einen leicht angekokelten Maschinenraum auf einem Kreuzfahrtschiff in Hargeon Town und einen blutgetränkten Vorleger im Schlafzimmer von Lord Krayt in Nordfiore, die eine Geschichte erzählen konnten, von einer rothaarigen Antwort, die das Letzte war, das Souta jemals erwartet hätte. Er musste innehalten, um sich auf das bloße Atmen zu konzentrieren.
Der junge Mann schaute hinab auf Seraphim, der noch immer an seinem Bein hing, eine Mischung aus Verwunderung und Ungläubigkeit im Blick. Er starrte ihn an wie ein verrückter Stalker und hatte das Gefühl, dass er nicht wegsehen konnte, das irgendetwas Schreckliches passieren würde, wenn er das nun tat. Er konnte nicht ... Er wollte nicht. Seraphim hatte sich plötzlich von einem betrunkenem, kotzendem Haufen Elend in einen Lebensretter verwandelt. In diesem Moment sah er irgendwie wichtig aus, noch wichtiger als nachts, wenn er aufgewacht war und die bösartigen Erinnerungen ihn verfolgt hatten und er sich an die um seinen Körper geschlungenen Arme klammerte als wäre der Ältere das wichtigste Wesen in ganz Fiore für ihn.
Und vielleicht war er das.
„Ich glaube, ich kann mit Distanz auch nicht leben“, sagte er nach einer Weile in einem Versuch von Diplomatie, in der er Seraphim einfach nur angestarrt hatte, mit einem Stottern in der Brust, das sich anfühlte, als hätte man seine Lungen ausgewunden, und er platzierte seine Hand auf den Kopf des Anderen, vorsichtig, weil es plötzlich so anders war, das zu tun, jetzt wo er wusste, was Seraphim aus dieser Berührung ziehen würde. Es war immernoch seltsam, aber diesmal machte er keinen Versuch, es wegzurationalisieren und konzentrierte sich stattdessen auf das Gefühl in ihm, das sich in ihm ausbreitete und definitiv keine Schuld oder Selbsthass war. Er konnte es nicht benennen, aber vielleicht war es auch besser, das er das nicht konnte, weil er vermutlich gelacht hätte, wenn eine Abteilung seines Hirns ihm gesagt hätte, was es war.
Es war Wärme.

Es war unwahrscheinlich, dass Worte allein beschreiben konnten, was Seraphim in diesem Moment fühlte. Die Mimik des Rothaarigen bemerkte er nicht, da er die Augen geschlossen hatte und sich nur auf die Wärme des Körpers neben ihm konzentrierte, die Beine des jungen Mannes umklammerte, weil es sich so unfassbar gut anfühlte, wieder bei ihm zu sein. Die Umstände dieser Begegnung waren doch nebensächlich, denn wen störte es schon großartig, dass er betrunken war, die Übelkeit noch nicht ganz verschwunden war und sie hier sehr wenig romantisch in dem Badezimmer einer Junggesellenbude saßen? Dass er gebrochen hatte und sehr kurz davor gewesen war, sonstige unschöne Dinge zu tun? Was kümmerte es ihn, ob er morgen einen gewaltigen Kater haben würde, wenn er hier verbleiben konnte, der Einäugige neben ihm saß und ihn noch immer nicht weggeschubst hatte? Sein Lächeln schien mit jeder Sekunde, die er die Wange an Soutas Bein gepresst hatte, breiter zu werden, tiefer, glücklicher und er begann zu hoffen, dass er vielleicht nicht weggescheucht werden würde, dass er vielleicht Glück haben würde und Souta darüber nachdenken würde, ob er ihn wirklich noch einmal wegwerfen wollte. Vielleicht würde er sein schlechtes Gewissen insofern nutzen können, dass er ihn bei sich behielt, wenigstens für kurze Zeit...
Als der Rothaarige fluchte, zuckte er leicht zusammen, weil er befürchtete, dass ihn nun wohl die Rache für die selige Minute ereilen würde, doch als er vorsichtig ein Auge öffnete und zu Souta hinauf linste, starrte ihn dieser zwar seltsam intensiv an, aber wirkte nicht böse oder gar angeekelt. Er starrte einfach nur und wenn er es nicht besser gewusst hätte, dann hätte er so etwas wie Erkenntnis in diesem Blick gesehen, doch seine eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten ließen seine Denkprozesse bereits wieder einschlafen, als er in das wunderschöne, smaragdgrüne Auge blickte und von diesem Bild gar nicht mehr weg kam. Er fand die eine Iris so hypnotisierend, dass er einfach nur zurück starrte und gar nicht wusste, wie ihm geschah, als er plötzlich eine Hand auf seinem Kopf spürte. Nicht fest, reißend oder abweisend, sondern vorsichtig und sanft, sodass er sich ihr leicht entgegendrückte, als sei er eine weiße, flauschige Katze. Tätschelte er ihm da gerade den Kopf? Und... was sagte er da? Seraphim wagte es nicht, seinen Ohren zu trauen, denn die Worte waren zu perfekt, zu wunderbar, zu traumhaft... das violette Auge schloss sich wieder, weil er sich konzentrieren musste, um das Gehörte zu verarbeiten, es aufzunehmen, in sich aufgehen zu lassen wie eine Blüte in der Sonne. Er konnte mit dieser Distanz nicht leben? Bedeutete das, dass er ihn nicht mehr aussperren, ihm nicht mehr aus dem Weg gehen würde? Dass er das strahlende Gesicht des Anderen wieder sehen konnte, damit es seine Tage mit Sonnenschein erfüllte? Seraphim war eigentlich ein misstrauischer Mensch, aber offenbar hatte der Alkohol auch diese Eigenschaft zusammen mit seiner Ironie hinweggewaschen, sodass er sich der Illusion hingab, dass die Qual ein Ende haben würde. "Das... das ist wunderbar..." Zufrieden atmete er aus, die Hand auf seinem Kopf spürend, die Lippen zu einem ehrlichen Lächeln verzogen… und war innerhalb weniger Sekunden eingeschlafen.

Souta mochte in den letzten Minuten lebensverändernde Erkenntnisse getätigt haben, über die man sich in näherer Zukunft noch etwas genauer unterhalten würde müssen, er mochte nun irgendwie an etwas wie Akzeptanz geraten sein, falls man dieses Wort bei ihm überhaupt verwenden konnte und er mochte sich jetzt eventuell anders geben (was er noch nicht mit Sicherheit sagen konnte, denn das hier war definitiv Neuland für ihn), aber er war immernoch er selbst. Natürlich konnte er theoretisch Löcher in Steine prügeln und das Badezimmer war vielleicht zehn Schritte von seinem Bett entfernt, doch er wäre doch nicht er selbst, wenn er auf dem Weg dorthin nicht mindestens zweimal divenartig auf den schlaffen Körper in seinen Armen schimpfte, den er nach einer alkoholgetränkten Dummheit nun auch noch in sein Schlafzimmer tragen konnte. Kurz hatte er darüber nachgedacht, ob er ihn vielleicht in der Badewanne einquartieren sollte, weil er dort immerhin das Klo in direkter Reichweite hatte, doch seine menschliche Seite hatte gesiegt, also hatte er sich armwedelnd und geschickt unter dem Älteren hervorgequetscht und ihn hochgehoben wie einen Sack Kartoffeln, um ihn schrecklich romantisch auf Armen über die Schwelle in das bestbesuchste Zimmer von Soutas Wohnung zu bugsieren. Es war nicht das erste Mal, dass der Himmelsmagier hier schlief, obwohl er das schon seit langer Zeit nicht mehr getan hatte, und der Kettenmagier hatte es erstaunlicherweise nicht vergessen. Eine gigantische Flut an Erinnerungen schwappte über ihn hinweg, während er sich in das Halbdunkel des Raumes schlich und durch den Türrahmen navigierte, damit der Andere nicht auch noch eine Beule abbekam. Morgen würde er sich sowieso fühlen, als hätte er einer Betonwand ene Kopfnuss gegeben, da wollte man nicht noch mehr Komplikationen einleiten. Der Rothaarige ging vor dem Bett leicht auf die Knie und hielt den Älteren kurz mit nur einem Arm (zum Glück sah er das nicht, sonst hätte er sich sicher aufgeregt), schob die Decke zurück und legte dann den Bewusstlosen auf die weiche Matratze, wobei sein Bett ein mittlerweile schon charakteristisches Quietschen von sich gab, das in anderen Zusammenhängen deutlich nervtötender war. Als Seraphim friedlich wie ein kleines Baby im Bett lag und er ihn zugedeckt hatte, was erneute, aber deutlich andere Erinnerungen weckte, geisterte seine Hand kurz über die weißen Haare und er wollte mit einem sich selbst bestätigendem Nicken den Raum verlassen. Allerdings ... Obwohl er sich übergeben hatte, roch er doch ganz gut, oder? Und es war ja eigentlich schon zu spät, um noch irgendetwas Ordentliches zu erledigen, immerhin wollte man auf keinen Fall irgendwelche Nachbarn verärgern. Soutas Hand hielt sich am Türrahmen fest, als würde sie ein Eigenleben besitzen und der Magier hielt inne, halb auf dem Gang und halb im Schlafzimmer, dann wandte er den Blick zurück und ließ für einen Moment die Szenerie des schlafenden Dragonslayers auf sich wirken. Es war klischeehaft und kitschig – aber er war niedlich, wenn er schlief. Weil er da tatsächlich harmlos wirkte. Was er nicht war. Seraphim schlief normalerweise extrem leicht und wurde von jedem unpassendem Geräusch wach. Er konnte einem die Arme wie in einem Schraubstock verklemmen, wenn er nachts eine Chipstüte rascheln hörte ... Aber gerade war er vollkommen ausgeknockt. Er schlief den wunderbaren Schlaf der Betrunkenen und war dabei so schutzlos und unschuldig, dass er sich wirklich nur einem einzigem Ausweg gegenübergestellt sah, der zugleich dafür sorgen würde, dass er ihm offiziell vergab, was er durchaus verdient hatte. Ein derartiger Dienst würde vielleicht etwas wiedergutmachen von alledem, was er falschgemacht hatte ... Deshalb dauerte es nur etwa eine Minute, bis der Wäschekorb in der Ecke zu Boden fiel und sich die Decke erneut hob, um einen schlanken, unglaublich verlegenen Ketttenmagier hineinzulassen, der sich an den Rücken des Weißhaarigen schob und sich auf einen Ellenbogen stützte, damit er dessen Gesicht kurz mustern konnte, ehe er zittrig neuen Atem holte, einen Kuss auf den Nacken des Älteren drückte und ihm die Arme um den Körper schlang. Ein kurzes Nickerchen schadete sicherlich niemandem ...

Als Seraphim erwachte, versuchte sein Schädel einen Augenblick sein Gehirn zu zerdrücken - oder es fühlte sich zumindest stark danach an. Sein Kopf pochte unter den Schlägen eines dumpfen Schmerzes, den er so vielleicht ein paar Mal in seinem Leben gespürt hatte, den er aber schon längst wieder verdrängt hatte. Das war das zweite Mal gewesen, dass er zu viel Alkohol getrunken hatte und wenn es nach ihm ging, dann auch das letzte Mal. Nach wie vor konnte er nicht verstehen, warum es Menschen gab, die sich öfter die Kante gaben... auch wenn das in seinem Fall zu unverhofftem Glück geführt hatte. Als er nämlich leicht stöhnend die Augen aufschlug, war das erste, was er sah, ein schlafendes Gesicht mit roten Haaren und nur einem Auge. Das andere war unter einer leicht verrutschten Augenklappe nicht richtig zu sehen, was allerdings auch eher mit Dankbarkeit aufgenommen wurde, weil er genau wusste, dass das darunter liegende Sinnesorgan nicht unbedingt hübsch anzusehen war. Darüber dachte er tatsächlich einen Moment nach, ehe ihn die Realisation, dass es Souta war, der da neben ihm lag, vollkommen unvorbereitet aus seiner Schlaftrunkenheit riss und sich die violetten Augen noch ein wenig mehr weiteten.
Es wäre gelogen, zu behaupten, dass Soutas momentane Position in irgendeiner Weise hübsch sei. Ebenso wie Seraphim es normalerweise im Schlaf regelmäßig schaffte, seine Decke von seinem Körper zu schubsen, hatte Souta irgendwie die Affinität dazu, alle vier Extremitäten in alle Himmelsrichtungen auszustrecken und seine Speichelproduktion trotz geöffnetem Mund hochzufahren, sodass ihm auch jetzt ein durchsichtiger Schlabberfaden seine Lippe passierte und beinahe bis zu seinem Ohr heruntergelaufen war. Wirklich ästhetisch war das wirklich nicht, aber es interessierte Seraphim auch gar nicht so sehr, weil er sich nämlich gerade alleinig an der Tatsache seiner Anwesenheit erfreute. Da war Souta... Souta, der ihn so lange ignoriert hatte, ihm ausgewichen war, ihn nicht hatte sehen wollen und nun lag er hier, noch schlafend, so nah neben ihm, dass er die Hand ausstrecken musste, um eine der roten Strähnen zwischen den Fingern hindurchgleiten zu lassen. Er hatte ihn während der erzwungenen Abstinenz manches Mal so schlafen gesehen, doch immer war entweder eine Scheibe zwischen ihnen gewesen oder er hatte genau gewusst, dass er sich nicht kenntlich machen durfte. Jetzt aber hätte er herüber reichen und ihn küssen können, wenn er das gewollt hätte oder sonst etwas... aber sein Kopf erinnerte ihn mit Vehemenz daran, welchen Fehler er gestern gemacht hatte, sodass er zurück sank und sich statt einer weiteren abrupten Bewegung seines Kopfes nur den Arm des Rothaarigen schnappte und seine Stirn dagegen drückte, ehe er die Augen erneut schloss, weil es ihn irgendwie anstrengte, sie offen zu halten. Seinetwegen könnte er noch eine ganze Weile hier liegen bleiben, weil sein neuer Kuschelarm sich wunderbar dafür eignete, ihm über seine Kopfschmerzen hinweg zu helfen. Diese hatten sich nämlich gerade auf seinem Schädel eingekringelt, ehe sie mit spitzen Krallen einmal darüber gefahren waren.

So romantisch es auch anmutete, gemeinsam in einem Bett einzuschlafen, Arm in Arm und eng aneinandergekuschelt, Souta bekam das einfach nie so toll hin, wie es gewisse Bücher und etwa eine Millionen Filme darstellten. Er konnte eine andere Person vielleicht zwanzig Minuten lang in eine Umarmung einschließen, den Duft ihrer Haare einatmen und sich an sie schmiegen, doch irgendwann wurde ihm das eigentlich immer zu nervtötend. Entweder sein Bettgenosse verwandelte sich spontan in ein mehrere tausend Grad heißes Kissen, wurde zu einem Eiszapfen oder war einfach nur so anhänglich, dass er sich wie ein einen Schraubstock eingezwängt fühlte. Meistens rollte sich der Rothaarige dann auch noch quer über die Schlafunterlage und streckte schnarchend und sabbernd alle Viere von sich, was wohl auch nicht zu den ansprechendsten Dingen gehörte, die man morgens erblicken wollte. Souta störte das von Natur aus recht wenig, da sein monströses Ego mit ein paar Speichelfäden ziemlich gut zurechtkam und er sowieso dachte, dass er nachts eine gewisse Narrenfreiheit besaß, immerhin hatte er meistens (in seinen Augen) besonders großartige Leistungen erbracht, wenn er neben einer Person einschlief und war damit über alle Kritik erhaben ... An diesen Tag hatte er das nicht getan, zumindest nicht auf diese Weise, doch die Tatsache, dass er den Dragonslayer neben sich sowohl mehrere Treppenstufen als auch ins Bett getragen und ihm Zuflucht gewährt hatte, hob das wohl wieder auf, aber es geschah ja ohnehin selten, dass sich Seraphim darüber beschwerte, wenn Souta bei ihm schlief - oder es war so gewesen. Das hier war schließlich nach wie vor eine einmalige Sache, immerhin konnte er jemanden, den es schlecht ging, nicht einfach so alleine zurücklassen. Wenn es dem Himmelsmagier gestern schon nicht gerade gut ergangen war, so musste er jetzt wahrscheinlich einfach nur noch miserabel sein, doch Souta bemerkte davon erst dann etwas, als man nach seinem Arm griff und ihn als Kuscheltier missbrauchte. Das war nicht unbedingt die effizienteste Idee, immerhin war an den Kettenmagier, der nur aus Knochen und Muskeln bestand, kaum etwas auch nur annähernd weich und kuschelig, doch der Wille zählte, also ächzte der Rothaarige kurz und rollte sich dann graziös wie ein Nilpferd - morgens war er einfach nicht so geschickt - halb auf den Weißhaarigen, richtete sich die Augenklappe und blinzelte ihn leich erwartungsvoll an, obwohl er selbst nicht so recht wusste, was er nun von ihm wollte. Seraphim sah ganz schön mitgenommen aus, doch das hatte man ja erwartet, also entschied sich Souta in seiner grenzenlosen Freundlichkeit, das leichenähnliche Äußere erst einmal unkommentiert zu lassen und stattdessen die Wange an ihm zu reiben, mit einem vielleicht ein klein wenig schadenfrohem Grinsen. "Und, hast du gut geschlafen?", fragte er ihn, lachte leise und drückte ihm dann einen Kuss auf die Schläfe. Eigentlich war es ja ganz witzig, wenn er einmal nicht derjenige war, der verkatert aufwachte und durch die Gegend torkelte - oder derjenige, über den man sich lustig machte. Allerdings musste man das ja auch nicht auf die Spitze treiben, obwohl man sich ja durchaus mit der Schwäche des Anderen im Hinterkopf erheben und sich über ihn beugen konnte, bis seine Lippen sich nur wenige Milimeter von den blassen Gegenstücken des Älteren entfernt befanden. Natürlich würde er ihn nicht küssen, generell nicht und erst recht nicht, solange er sich nicht die Zähne geputzt hatte ... Aber wenn man doch schon so schön nahe dran war ... "Was möchtest du zum Frühstück, Seraphim?"

Allein bei dem Gedanken an etwas Essbares wurde Seraphim schon schlecht, also ignorierte er die Frage des Rothaarigen beflissentlich und blinzelte stattdessen zu ihm hoch, bis er bemerkte, dass er sich wirklich sehr nah bei ihm befand. Wenn man diesen geringen Abstand in Betracht zog, war das, was er zuvor gespürt hatte, vielleicht doch ein Kuss gewesen, obwohl er sich sehr schnell davon überzeugt hatte, dass er sich das bestimmt eingebildet hatte. Dass der Einäugige ihm durch die Haare gestreichelt hatte, war gestern schon unerwartet gewesen, aber solche Dinge wagte er sich wirklich noch nicht zu erhoffen, zumal er sich nicht vorstellen konnte, dass er sonderlich vital aussah. Fühlen tat er sich nämlich eher wie ein frischer Zombie, der sich mit jeder pochenden Schmerzwelle in seinem Schädel von Neuem schwor, dass er niemals wieder so viel Alkohol trinken würde. Dass es einiges brauchte, um ihn in einen derartigen Zustand zu versetzen, ließ sich durchaus sagen, denn auch wenn er sich praktisch nie die Kante gab, konsumierte er doch immerhin regelmäßig ein wenig Alkohol und hatte wohl von Natur aus genug Resistenz dagegen. Generell war sein Immunsystem gut genug, um ihn vor den meisten Krankheiten zu schützen, was kombiniert mit seinen Heilfähigkeiten auf allerlei lustige Dinge schließen ließ, die zum Großteil aber einfach nicht stimmten: Er hatte einfach sehr gute Gene abbekommen. Dennoch schienen diese nicht gegen den gewaltigen Kater zu helfen, den er sich angeeignet hatte und der seinen Kopf nun traktierte und die positiven Gefühle, die ihn beim Anblick des Jüngeren durchfluteten, beinahe annullierte. Das einzige, worauf er sich gerade fokussieren konnte oder auch nur wollte, war ein bestimmt schön weiches Paar Lippen, welches sich in unmittelbarer Nähe zu den seinigen befand und dementsprechend einfach zu erreichen sein würde - wenn der Besitzer nicht Souta gewesen wäre. Er wusste nämlich ganz genau, dass der Rothaarige so abartig viel schneller als er war, dass er womöglich nicht einmal die paar Millimeter überbrücken konnte, ohne dass der Andere sich wegziehen konnte. Ihn zu überraschen war schwer, sehr sogar und er war sich recht sicher, dass Souta das in diesem sehr offensichtlichen Fall nicht zulassen würde, aber er wäre nicht Seraphim, wenn er keine Lösung dafür parat hätte. Aus verschiedenen Gründen hatte er sich nämlich dazu entschlossen, seine Kenntnisse des heilenden Teils seiner Magie etwas zu verbessern, auch wenn er dabei nicht wirklich voran gekommen war. So wie er eben war, hatte er sich von einfachen Übungen, die ihm seine Mutter einst mitgegeben hatte, schnell entfernt, um nach einer praktischen Anwendung zu suchen und sie schließlich auch zu finden. Wo seine Mutter nur erklärt hatte, dass sich ihre Magie gut zur Entspannung verspannter Muskeln eignete, hatte der Weißhaarige schnell entdeckt, dass man bei Überstimulation mit einem großen Schuss Magie auch einen zwanghaft entspannten Zustand erwirken konnte. Das wiederum kam ihm gerade sehr zupass, weil Souta diese neue Fähigkeit des Älteren noch gar nicht kannte und sie deswegen auch nicht einkalkulieren konnte. Seraphim hob also langsam die Hand und legte sie nach wie vor blinzelnd auf den Trizeps des Rothaarigen, den man albernerweise durch seine Haut spüren konnte. Danach, während seine Lippen unverständliche Worte murmelten, konzentrierte er sich so weit es ging und schoss schließlich einen Manastoß in den Arm des Rothaarigen, ehe er schnell den zweiten Arm anhob, falls er ihn würde stützen müssen. Natürlich würde der Zauber Souta nicht weh tun, warum auch, aber etwas seltsam würde es sich wohl doch anfühlen, wenn ein Arm auf einmal rapide an Spannung verlor. Das würde allerdings dazu führen, dass die Millimeter kein Hindernis mehr darstellten, also hob er den Kopf im selben Moment, in dem Souta den Halt verlor und küsste ihn. Da er wusste, womit er den gestrigen Abend verbracht hatte, verblieb es bei einer sanften Berührung, aber diese kam ihm wie eine starke Schmerztablette vor, weil der Schmerz in seinem Kopf beinahe sofort weniger zustach. Kaum war sie vorüber, lächelte er schwach und meinte mit leiser Stimme: "Ich glaube, wenn ich nun etwas esse, kommt es mir sofort wieder hoch. Meinst du...", er richtete sich auf und blickte an sich herunter, "ich dürfte deine Badewanne kurz in Anspruch nehmen? Du hast nicht zufällig ein sauberes Handtuch?"