Wer behauptet hat, dass man die Persönlichkeit eines Menschen anhand von dessen Wohnung ermitteln kann, der findet in Soutas Behausung keinen Beweis für das Gegenteil. Trotz der ziemlich großzügigen, sonnendurchfluteten Raumaufteilung, die sogar ein ziemlich ausladendes, aber furchtbar quietschendes Bett im Schlafzimmer erlaubt, hat der Kettenmagier es irgendwie geschafft, beinahe jeden freien Fleck vollzustellen. Seien es nun die Makeshift-Werkbank an der Wohnzimmerwand, die durch ein beeindruckendes Arsenal an Zangen, Metallringen und anderen Werkzeugen an ein Relikt aus einem Sex-Dungeon erinnert, oder die unfassbare Menge an bis obenhin mit Büchern vollgestopften Pappkartons, die sich trotz berstender Regale nirgendwo so richtig einbringen lassen und daher überall herumstehen oder eben den Urwald an Pflanzen, die er aus seiner alten Wohnung importiert hat: Es ist chaotisch, undurchsichtig und irgendwie seltsam farbenfroh, eben ganz wie der junge Mann, der darin haust. Bis auf ein paar Krümel hier und dort und ein wenig Waffenöl findet man in seinem Reich keinen Dreck, und das mag schon etwas heißen, immerhin hat er ein eigenes Badezimmer, eine Küche, die in ein Wohnzimmer übergeht und ein Schlafzimmer, allerdings wundert es wohl niemanden, dass man seine Wohnung sauber halten kann, wenn man sich mit der Geschwindigkeit eines Wirbelwindes bewegen kann ... Souta besitzt einen gigantischen Sitzsack, von dem auch zwei Personen verschluckt werden könnten, einen Couchtisch und einen Esstisch mit beeindruckenden zwei Stühlen. Seine Küche ist ziemlich pragmatisch angelegt, immerhin kann er bis heute keine Festmähler anrichten, doch sein Kühlschrank ist immer gut gefüllt und an der Wand hängt ein Monstrum von einer Uhr, das wahrscheinlich selbst den unpünktlichsten Menschen Fiores noch an Termine erinnern kann. Alles in allem ist es eine Junggesellenbude, wie man sie eben kennt und lädt auch nicht zu gemütlichen Familienabenden ein, sondern eher zu Kartenspielen und kleineren Partys. Daher ist es wohl vor allem etwas für einen kurzen, möglichst flatterhaften Besuch. Wodurch wir schon wieder bei dieser Theorie mit der Persönlichkeitsspiegelung wären ...

Treppensteigen war eigentlich nicht schwer. Man hob einfach nur ein Bein, setzte den daran hängenden Fuß auf die nächste Stufe, stabilisierte diese Konstruktion und hievte sich ein bisschen weiter nach oben, bevor man das Prozedere mit der anderen Seite wiederholte. Die einzigen Menschen, die mit solchen leichten Aufgaben Probleme hatten, waren Alte, Kranke, Kinder und solche, die zu wenig Ausdauer besaßen, vor allem, wenn man das Pech (oder Glück?) hatte, im obersten Stock eines Hauses zu wohnen und daher einen entsprechend langen Weg zu haben. Im Allgemeinen zählte sich Seraphim nicht zu den Gehbehinderten und er besaß auch genug Ausdauer, um die Treppen des Mietshauses, in dem er wohnte, viermal hoch- und runter zu rennen. Wenn er gerade zu faul dazu war, flog er einfach an der Wand hoch und stieg über seine Terrassentür in seine Wohnung ein, nichts leichter als das. Heute war das allerdings alles etwas komplizierter, was schon allein daran erkennbar war, dass Seraphim die Gehbewegung noch einmal in ihre Einzelteile zerlegt hatte, um diese auch ja vollständig richtig zu machen, immerhin konnte es ja nicht angehen, dass er sich so dermaßen wenig grazil bewegte. Dabei war es doch nicht seine Schuld… oder zumindest nicht komplett. Er strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und schloss die Augen, nur um sie schnell wieder zu öffnen, weil das seinem sowieso schon beeinträchtigen Gleichgewichtssinn gar nicht zusagte. Seraphim war betrunken. So gesehen war er also selbst dafür verantwortlich, dass er gerade ernsthaft mit der Treppe haderte, aber er hatte es als sicherer angesehen, als in diesem Zustand zu zaubern und sich meterweit vom Boden abzuheben. Er hätte wahrscheinlich auf der Hälfte des Weges vergessen, dass er sich doch in der Luft halten musste und wäre zu Tode gestürzt, also musste er nun dieses Treppenhaus überwinden, selbst wenn es ihm im Moment wenig gnädiger als der Tod erschien. Das Problem war, dass solche, die sich in regelmäßigen Abständen betranken, immerhin wussten, wie sie sich in einem solchen Zustand zu verhalten hatten, aber Seraphim war momentan ein wenig aufgeschmissen. Die Wahrheit war nämlich, dass er es das letzte und einzige Mal zuvor mit sechzehn Jahren übertrieben hatte, weil er zuvor noch nie Alkohol probiert hatte. In der Zeit dazwischen hatte er zwar öfter mal ein oder auch zwei Gläschen Wein getrunken, aber das war ja keine Menge, die ihn in einen auch nur angeheiterten Zustand versetzen konnte. Seraphim war viel zu vernünftig, um so etwas zu tun, weil er als Kontrollfreak nicht mochte, wenn er nicht komplett auf der Höhe war und andere es so leichter hatten, Einfluss auf ihn zu nehmen. So hatte er sich also immerhin ganze drei Jahre vollständig von derartigen Zuständen ferngehalten, bis jetzt zumindest. Wie genau es dazu gekommen war, blieb an diesem Punkt einmal verschleiert, jedenfalls wohnte der Grund dafür aller Wahrscheinlichkeit immer noch ein Stockwerk unter ihm. Er glaubte nicht, dass Souta weggezogen war, weil selbst er wohl bemerkt haben musste, dass er einen echten Glückstreffer mit der Wohnung gelandet hatte, auch wenn er ihn in letzter Zeit so selten gesehen hatte, dass man diese Vermutung bekommen könnte. Wenn es nach Souta gegangen wäre, hätte er ihn wahrscheinlich gar nicht gesehen, aber Seraphim hatte ihn durchaus öfter beobachtet – und wenn er dafür nachts vor seinem Fenster hatte schweben müssen. Natürlich tat man das nicht, aber das hatte ihn schon nicht davon abgehalten, als der Rothaarige noch in Hosenka-Town gewohnt hatte. Damals hatte er sogar erst zu ihm fahren müssen und es dennoch getan, da würde ihn sicherlich kein Rückzug des Anderen davon abhalten, auch wenn er die örtliche Distanz irgendwie mehr gemocht hatte als dieses… Schweigen. Er hatte mehr als einmal vor der Tür des Rothaarigen gestanden, auch wenn er es nicht jedes Mal über sich gebracht hatte, zu klopfen. Er hatte ihm sogar eine Valentinskarte dagelassen, samt Pralinen, auch wenn er sich nicht sicher war, ob diese nicht sofort im Mülleimer gelandet waren. Normalerweise tat er so einen Quatsch nicht, weil er ihn albern fand, aber normalerweise versuchte er auch nicht, sein Treppenhaus in einem solchen Zustand zu erklimmen…
„Ugh…“ Na fein. Nun wurde ihm auch noch schlecht, ja? Cyrus hatte große Lust, sich selbst windelweich für diese Aktion zu schlagen und war schon kurz davor, den Flugzauber doch noch zu erproben, in der Absicht, gegen möglichst viele Wände zu schlagen, als er sich daran erinnerte, dass er wahrscheinlich gar nicht zaubern konnte, wenn er nicht einmal ohne Probleme die Stufen hochkam. Mit einem ärgerlichen Gesichtsausdruck richtete er sich etwas mehr auf und ging zielstrebig auf die Treppe zu, mit der Absicht, sie gradlinig und ohne weitere Probleme im Sturm zu nehmen und innerhalb von maximal einer Minute in seinem eigenen Bett zu liegen. Auf halbem Wege hatte er allerdings das Gefühl, ein Riese würde das Haus anheben, weil sich die Schwerkraft auf einmal zu verlagern schien und er gegen die Wand detschte. Ach nee…

So sehr Souta auch für die ständige Gefahr lebte, im Verlauf einer Quest von einem grausamen Monster verschlungen zu werden oder einfach allgemein einen Heldentod zu sterben – irgendwie konnte er sich zumindest in letzter Zeit auch gut mit einem unbeirrtem, einfachem Zivilistenleben abfinden, das verschiedene alltägliche Dinge beinhaltete, die er früher nicht richtig schätzen konnte, obwohl er schon seit seiner Kindheit sämtliche Hausarbeiten erledigt hatte, die anfallen mochten. Vor ein paar Wochen oder Monaten hätte er sie als lästige Zeitverschwendung betrachtet, die kostbare Minuten von soviel angenehmeren Stunden nahm, doch heutzutage konnte er gegen einen intensiven Waschtag nichts mehr einwenden, schließlich gab es kaum befriedigendere Dinge als eintönige Arbeiten zu verrichten. Sie lenkten ihn wunderbar von den Problemen ab, die sich in seiner Schreckhaftigkeit und seinen ninjaartigen Tarnmanövern äußerten, die ihn befiel, wann immer er etwas Weißes oder Stacheliges um die Ecke biegen sah. Souta war ein ziemlich wachsamer Mensch. Trotz Sehbehinderung. Ein Leben voller spektakulärer Fluchten aus Gefahrensituationen, jahrelange Übung darin, Problemen aus dem Weg zu gehen und das routinemäßige Meiden verflossener Liebschaften hatten ihn trainiert wie keinen anderen. Wenn er jemanden nicht sehen wollte, dann fand dieser ihn höchstens, wenn er ihn absichtlich verfolgte und das ging nur, wenn man seinen Wohnort erfuhr, also war er relativ sicher. Die einzigen Personen, die seine Adresse kannten, waren die besagten Affären und da diese in den seltensten Fällen magische Ausbildung besaßen, konnte er sich darum ganz gut kümmern. Es war schon eine Weile her, dass man mit einem Baseballschläger seine Weichteile traktiert hatte. Momentan würde das nicht einmal ein extrem gut ausgebildeter Magier schaffen. Er war eben Souta. Der wachsame, stets konzentrierte Souta, der leicht verschwitzt in einem beinahe klischeehaftem Look aus dem Waschkeller auftauchte, barfuß, bekleidet in seine ausgewaschene Jeans und einem engem weißem Tanktop, bewaffnet nur mit seinem Plastikkorb und einem Haufen sauberer Wäsche. Da die Luft bisher ziemlich rein war und er es zudem irgendwie geschafft hatte den halben Raum unten unter Wasser zu setzen und sich deshalb ewig lange verausgabt hatte, um das Problem zu finden, hatte er eigentlich vor, eine Blitzaktion vom Zaun zu brechen, wie sie eben nur der schnellste Mann Fiores tun konnte. Dies würde demnach beinhalten, dass er ein wenig Anlauf nahm und eines Ziegenbockes gleich mit eingezogenem Kopf die Treppen hochfetzte, durch die Tür brach und sich dann an die glorreiche Aufgabe des Bügelns machte, damit er etwas Anderes anziehen konnte und weniger wie ein Topmodel aussah, dass gerade aus einer anzüglichen Autowaschszene zurückkam, denn so gut er auch aussehen mochte, es gab immer irgendwo eine Grenze. Er würde wie ein Behinderter hochrennen, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Wie ein Rennauto. Wie … Seraphim. Der (Nach)Name seines besten Freundes erzeugte seltsamerweise schon eine Sperrreaktion seiner Gliedmaßen, bevor sein Auge überhaupt erst realisiert hatte, was auf der Treppe abging – und sein Herz überholte alle anderen und sprang wie bei einem Flipperautomat erst einmal quer durch seine Eingeweide, ehe er sich einen klaren Gedanken abringen konnte. Der erste hatte etwas mit Oh scheiße ist er verletzt oh nein zu tun, wurde aber nach der ersten Schrecksekunde und dem reflexartigem Vorwärtstrippeln seiner verräterischen Zehen als nichtig abgetan und durch ein nicht minder alamiertes Der ist hackevoll ersetzt. Was zur Hölle? Souta kroch schon einmal auf allen Vieren das Treppenhaus hinauf und sang dabei gröhlend Hallelujah, aber Seraphim war eher der Typ, der ein Glas Rotwein in der Hand schwenkte und komplizierte Fachbegriffe herunterleierte, um Mädels zu imponieren. Allerdings gab es hier gerade nichts dergleichen, er war allein und offenbar ziemlich wackelig auf den Beinen. Trotz der massiven Entschlossenheit, mit der er die Treppe erklommen hatte, erinnerte er Souta doch eher an eine gutaussehende Karikatur von Freddie Frinton, da fehlte eigentlich nur noch der Vorleger mit dem Tierkopf, über den er stolpern konnte. Was ein weiteres Problem aufwarf, er musste nämlich da vorbei und sollte das wenn möglich schaffen, ohne zu May Warden zu mutieren, denn wenn er ehrlich war, hatte er ja gehofft, dass er das hinter sich hatte und ein eigenes Leben führen konnte. Naiv wie er war. Schließlich lebte er in einem Haus mit diesem Kerl, der so hilflos aussah und so vom Schwindel ergriffen, dass Souta ihn am liebsten über die Schulter geworfen und in sein Zimmer geworfen hätte. Ob der überhaupt noch das Schlüsselloch treffen würde? Oh, ihm schwante Übles und er dachte darüber nach, ob er nicht einfach vorbeigehen sollte – oder vielleicht auch mit supernaturellem Geschwindigkeitsboost unsichtbar als Lufthauch an ihm vorbei, um sich dann einzuschließen und hysterisch zu kreischen, aber das konnte er nicht tun. Nicht, weil sein Kopf da nicht komplett dabei war, sondern weil sich sein Körper irgendwann in der Mitte des Denkprozesses vorwärts bewegt hatte und sich seine Hand wie von Geisterhand geführt auf eine Schulter senkte, wo seine Finger sich ziemlich fest schlossen und er einen für seinen Geschmack ein wenig zu besorgten Blick in das Gesicht warf, das einmal seinem besten Freund gehört hatte. Vorhin hatte er ihn aus Versehen mental so genannt, aber das durfte nicht einreißen. Andererseits sollte er sich jetzt auch nicht mitten im Treppenhaus übergeben und alles vollsauen, er wollte heute im Verlauf des Abend unter Umständen nämlich nochmal weg und hatte keine Lust, durch Kotze zu navigieren. „Brauchst du vielleicht Hilfe oder stehst du neuerdings auf Wände?“ Jap. Das wurde sicher ganz super.

Es war unwahrscheinlich, dass Seraphim einen guten Komödianten abgeben würde, denn dazu nahm er sich selbst viel zu ernst. Er war tatsächlich eher die Person, die mit Selbstbeherrschung und Intelligenz zu Punkten versuchte und er fand es her albern, wie so viele junge Menschen nicht an sich halten konnten und zu wandelnden Alkoholleichen wurden - nur um gerade genau dasselbe zu tun. Natürlich war es ihm peinlich, dass er in so einem Zustand gesehen werden könnte oder zumindest wäre es ihm peinlich, wenn er denn noch komplett klar hätte denken können. So nahm er nur kurz nach dem Aufprall an der Wand eine Bewegung schräg hinter ihm wahr und bevor er sich umdrehen konnte, legte sich eine Hand auf seine Schulter. Er war sich nicht einmal sicher, ob er Souta zuerst an der Stimme erkannte oder an dem Geruch, der durch seine Nase flutete, sicher war nur, dass ihn allein diese Tatsache vollkommen in seinen Bann zog. Da stand der Einäugige hinter ihm und berührte ihn, sprach mit ihm, was zwar vollkommen alltäglich, ihm aber gerade wie ein kleines Wunder schien. Es war beinahe zu viel für sein benebeltes Gehirn, sodass er kurz brauchte, um die Worte zu verdauen und zu verstehen. Ob er Hilfe brauchte? So etwas sollte man ihn nicht fragen müssen, so etwas fragte er andere, wenn er in ganz besonders sozialer Laune war… Er war niemand, der Hilfe von anderen annehmen musste! Leider kippte er hier gerade beinahe um, sodass er vielleicht wirklich die Anwesenheit des Anderen dazu nutzen sollte, um heil nach oben zu kommen. Ein violettes Auge suchte nach Soutas Blick, während sich der Rest des blassen Gesichts irgendwo an der Wand abzustützen schien. „Warum… sollte ich auf die Wand stehen…?“, fragte er, die Stimme ein wenig schleppender, müder als sonst, da er sich gerade ernsthaft nicht sicher war, was den Rothaarigen nur auf so eine Idee bringen konnte. In nüchternem Zustand war er vielleicht der Meister der Ironie, aber so schien er sie nicht einmal zu erkennen, wenn sie ihm in mundgerechten Happen serviert wurde.
Souta sah gut aus, fand er, auch wenn er ab und zu ein wenig vor seinen Augen zu verschwimmen schien, aber das hatte er ja schon immer getan. Im Grund genommen konnte der Einäugige tragen, was er wollte und konnte ihm damit immer ein Lächeln entlocken, aber gerade jetzt wirkte er auf ihn wie das göttliche Abbild der… was auch immer in Person. Wahrscheinlich lag das daran, dass er betrunken war – oder es wurde einfach von der Freude beeinflusst, seine Stimme zu hören, wie sie zu ihm sprach. Nicht durch irgendwelche Türen, Fenster oder Wände gedämpft, wie sie mit jemand anderem kommunizierte, jemand anderem süße Worte zusprach, in der festen Gewissheit, dass diese andere Person ihm so viel mehr gefiel, einfach, weil sie sehr wahrscheinlich Brüste besaß. Auch wenn er den Part mit der Wand nicht ganz verstand, war diese Frage doch direkt an ihn gerichtet gewesen… und hätte ihn nicht gerade eine neuerliche Übelkeitswelle überrannt, hätte er darüber sicherlich wie ein Kind gegrinst. So aber tastete seine Hand nur fahrig nach den Fingern auf seiner Schulter und umklammerte sie beinahe verzweifelt, zum einen, weil sie sicherlich ebenso viel Halt wie die Wand boten, zum anderen, weil er nicht wollte, dass Souta gleich in einem Wirbelwind verschwand und ihn alleine zurückließ. Seinetwegen verbrachte er den Rest des Tages an diesem Fleck, solange der Kettenmagier bei ihm blieb – das war viel besser, als von ihm oben abgeliefert zu werden und ihn danach wieder eine gefühlte Ewigkeit nicht zu sehen.
Er dachte also ernsthaft darüber nach, ob er das Angebot nach Hilfe abschlagen sollte – zum einen, weil es gegen seinen Stolz ging, zum anderen, weil das wahrscheinlich genau das gerade gedachte implizieren würde. Andererseits würde er sich sicherlich loseisen, wenn er darauf verzichtete und seinen Fingern entschlüpfen – wieder einmal. Das durfte nicht passieren! „Ich weiß nicht…“, murmelte er also schließlich unentschlossen, weil er nicht einschätzen konnte, was das klügste war. Das einzige, was sein Gehirn noch prozessieren konnte, war die Anwesenheit des Rothaarigen und der Wunsch, dass das auch so bleiben möge. War doch egal, wo er dabei landete…

Soutas Mund entließ ein seltsames Geräusch, was irgendwo zwischen einem Stöhnen und dem verzweifelten Wimmern eines kleinen Hundewelpens lag. Gleichzeitig fuhr sein Rückgrat gerade Stacheln aus und bohrte sich unbeweglich wie ein Stützkorsett in sein Fleisch, weil sich Seraphims Hand auf unerwünschte Weise um seine Hand geschlossen hatte und sein erster Impuls gewesen war, noch etwas fester zuzugreifen, bis seine Finger in die blassen Zwischenräume des Älteren schlüpften. Wäre er gerade in romantischer Stimmung, wäre ihm vielleicht eingefallen, dass sie wie ein Schlüssel zum Schloss passten und dass sein Herzklopfen zu etwa neunzig Prozent von der ihm plötzlich soviel eindringlicher bedrängenden Nähe rührte, doch das war er nicht, weil er versuchte, Romantik aus dieser Beziehung herauszuhalten. Deshalb war er ja überhaupt erst so lange undercover gewesen. Er kam eben nicht mit den Gefühlen des Himmelsmagiers klar, das würde sich nun auch nicht innerhalb einer spontanen Begegnung ändern. Souta dachte nicht darüber nach, wie wenig Abstand zwischen ihnen war, und er dachte auch keine Sekunde lang daran, dass er vergessen hatte, wie merkwürdig es im ersten Moment war, wenn man einen Menschen mit violetten Augen das erste Mal wirklich ansah, da er sich nur einen flüchtigen Blick erlaubte. Entgegen der in ihm selbst vorherrschen Meinung war der Spruch mit der Wand kein Spott gewesen. Eher der verzweifelte Versuch, nicht mit ihm in die Tiefe gezogen zu werden. Er hatte ihm die Wahl gelassen, ob er ihn als Hilfe wollte oder alleine hochzukriechen gedachte, doch natürlich musste er ihm einen dicken, fetten Strich durch die Rechnung machen. Indem er einerseits sein fehlendes Ironieverständnis zeigte und somit auch deutlich markierte, dass er wirklich sehr betrunken war und andererseits … Andererseits antwortete er mit „Ich weiß nicht.“ Das brachte Souta nun fast zur Verzweiflung. Konnte Seraphim sich nicht einmal für eine Variante entscheiden? Wieso musste er sich immer, wenn der Kettenmagier an eine Kreuzung an seinem Lebensweg kam, wie ein störrischer Esel auf beide Seiten stellen und den Durchlass verweigern? Das war nicht fair. Souta dachte einen unmoralischen Moment lang darüber nach, ob er die Hand wegziehen und ihn einfach liegen lassen sollte, doch das konnte er nicht tun. Nicht, weil er Seraphim im Moment mochte oder ihn bemitleidete, sondern weil er einfach ein unglaublich netter Kerl war. Er fühlte sich so schnell verantwortlich. Wenn er ihn nun liegen ließ und jemand versuchte, ihn auszurauben oder zu töten, würde er sich das ewig vorwerfen. Und er hatte weiß Gott schon genug Dinge in seinem Leben, für die er sich Vorwürfe machen konnte, da musste er nicht noch einen besoffenen Weißschopf draufsetzen, abgesehen davon, dass der ohnehin schon recht weit oben rangierte, aber das war gerade nicht wichtig. Der Kettenmagier benutzte die freie Hand – der Wäschekorb stand unten, wann hatte er ihn abgelegt? - um sich resignierend die Haare aus dem Gesicht zu streichen und dann kurz einen etwas intensiveren Blick auf das Gesicht des Anderen zu werfen, nur um sicherzugehen, dass er nicht außerhalb des Alkohols weggedröhnt war. Sah ganz okay aus. Bis auf die Tatsache, dass es nicht okay aussah, sondern abartig hübsch. „Idiot“, kroch aus seinen Zähnen hervor, bevor er sich stoppen konnte, doch er sah davon ab, sich die Hand auf den Mund zu schlagen, stattdessen zog er seine Hand weg und griff ihm unter die Achsel, damit sein Gesicht von der harten Wand wegkam. Mit sanfter Gewalt hievte er ihn in eine einigermaßen senkrechte Position, fixierte ihn leicht mit einem Arm und schluckte kurz, ehe er die freie Hand in kleinen Klopfbewegungen seinen Körper hinabwandern ließ, auf der Suche nach seinem Schlüssel, weil der niemals aufsperren konnte. Er würde ihn ganz einfach in sein Bettchen bringen, die Tür hinter ihm zusperren und den Schlüssel durch den Briefschlitz werfen, das würde kaum Zeit in Anspruch nehmen. Wenn er bockte, würde er ihn tragen. Simpel. Effektiv. Und dann kam der Part mit der Hosentasche, in die er greifen musste. Was buchstäblich das Loch zur Schlangengrube war, und zwar dermaßen wörtlich, dass er sich sofort schmutzig fühlte, aber hey, wer wäre er denn, wenn er aus unangenehmen Situationen nicht noch das Schlimmste herausholen könnte? „Musst du kotzen? Bitte warn mich, wenn du kotzen musst ...“ Mit einem zitterndem Atemzug griff er in die Hosentasche (war die schon immer so eng?), fischte das Metallteil hervor und verbarg es in der geschlossenen Faust, als wäre es ein goldener Ball mit Flügeln und kein Wohnungsschlüssel. „So. Dann wollen wir dich mal ins Bett bringen, Großer.“ Das beinhaltete, dass Souta nochmal unter die Achsel ging und ihn stützte. Da er aber nicht einfach losgaloppieren konnte, musste er nun auf den ersten Schritt warten, wenn er sich seinem Tempo anpasste, kamen sie hier vielleicht ohne den Verlust von Körperflüssigkeiten ans Ziel. Irgendwie.

Seraphim bekam nichts mit von Soutas innerlichen Dilemmata mit, weil er viel zu sehr damit beschäftigt war, zu verstehen, warum dieser ihn gerade beschimpft hatte. Als Idiot hatte er ihn betitelt und das lag wahrscheinlich daran, dass es nicht klug war, sich dermaßen zu betrinken, dass man nur knapp drei Stockwerke schaffte, ehe man nicht mehr weiterwusste. Sicherlich hätte er sich dasselbe vorgehalten, also war es nur gerecht, dass der Rothaarige ihn so nannte! Er war doch schließlich kein Frischling mehr, er sollte doch wissen, dass übermäßiger Alkoholkonsum nicht ohne Folgen bleiben konnte… aber darüber hatte er irgendwie gar nicht nachgedacht. Derjenige, um den seine Gedanken gekreist waren, stand nun wie ein Wunder eben ihm und beleidigte ihn, worüber er in diesem Moment aber glücklicher war, als man sich vorstellen konnte. Seinem temporär geschrumpften Intellekt waren die Worte egal, die er an ihn richtete, solange er überhaupt mit – oder besser zu – ihm sprach. Außerdem schien er sich ja wenigstens etwas Sorgen um ihn zu machen, da könnte er ja fast vergessen, dass ihm übel war… seinetwegen blieben sie hier noch ein wenig stehen und Souta schmiss ihm noch ein paar Schimpfworte an den Kopf, so schön war es, seine Stimme zu hören, wie sie auf ihn einredete. Das einzige, was er sich wohl noch gewünscht hätte, war die Nennung seines Namens, aber das würde sicherlich auch irgendwann kommen, spätestens dann, wenn er dazu überging, seinen Namen auf spöttische Art zu verzerren.
Doch statt wie erwartet fortzufahren, bewegte er sich und war ihm auf einmal so nah, dass Seraphim seine Augen schloss, um seinen Geruch besser wahrnehmen zu können. Soutas Aroma war etwas ganz besonderes, so wie der ganze Mann einzigartig war und es gefiel dem Dragonslayer nach wie vor unwahrscheinlich gut. Er wollte tief einatmen, doch sein Magen meldete sich zu Wort und daraus wurde nichts, weil er stattdessen nur kurz nach Luft schnappte und dann solange den Atem anhielt, bis er die Übelkeit zurück gescheucht hatte, in die dunklen Ecken seines Körpers, der gerade andere Dinge wahrzunehmen hatte als den Drang, sich hier und jetzt zu übergeben. Zum Beispiel war da eine Hand, die er Weißhaarige mit dem Öffnen eines der amethystfarbenen Augen taxierte, als sie langsam seinen Körper herabwanderte. Er war unschlüssig, wie er diese Geste interpretieren sollte, denn wenn er so etwas tat, hatte das immer einen ganz bestimmten Grund, den er zwar willkommen heißen, aber nicht erwarten würde, da es sich bei dem Besitzer der Hand um Souta handelte. Zudem war zu bezweifeln, ob er in seinem jetzigen Zustand überhaupt zu so etwas in der Lage wäre, denn wahrscheinlich würde er zwischen drin einfach einschlafen – mal ganz davon abgesehen, dass seine körperlichen Reaktionen das wahrscheinlich schon längst hinter sich hatten. Nun war die schmale Hand bei seiner Hose angelangt und drückte sich in die rechte Tasche. Es dauerte länger, als er sich eingestehen wollte, bis er den Grund dafür erfasste und der gefiel ihm nicht. Er wollte nicht, dass Souta seinen Schlüsselbund zu fassen bekam, nicht nur, weil neben einigen anderen Schlüsseln auch ein unerlaubter Zweitschlüssel daran baumelte, sondern auch, weil er nicht einfach so abgeschoben werden wollte. Souta war stärker als er, das wusste er genau, sodass er also nicht dafür sorgen können würde, dass er bei ihm blieb, wenn sie erst einmal an einem Ort waren, wo er ihn abgeben konnte. Doch schon hatten sie sich in Bewegung gesetzt, nachdem Souta etwas von Bett und Kotzen gesagt hatte, was in Seraphims Kopf erstaunlich viel Sinn ergab. Beides klang irgendwie machbar und anstrebsam, das erste allerdings nur, wenn Souta bei ihm blieb… was würde er dafür geben, wenn er ihn erneut als Kuscheltier missbrauchen könnte. Das würde sicherlich dazu führen, dass er innerhalb weniger Sekunden weg wäre, auch wenn das natürlich heißen würde, dass er ihn verlassen würde. Der Rothaarige würde gehen und so tun, als sei nie etwas passiert, ganz sicher! Und das zu wissen, war ein echtes Scheißgefühl.
Sie hatten also immerhin schon einmal einen weiteren Treppenabsatz geschafft und waren um die Kurve getaumelt (in Seraphims Magen grummelte es verdächtig), als Soutas Wohnungstür in Sicht kam. Es war wahrscheinlich reiner Zufall, dass Seraphim erkannte, dass es sich um genau diese handelte. Ebenso musste man es als Glücksfall ansehen, dass sein Gehirn seinen Magen anfunkte und ihm mitteilte, dass jetzt ein ganz besonders guter Zeitpunkt wäre, sich zu entgiften, sodass Seraphim, kaum waren sie eine Stufe vor dem Absatz, würgen musste und keuchte: „Ich… ich glaub ich kotz‘ gleich…“, ehe er die Hand unkoordiniert vor den Mund zu schlagen versuchte und sich dabei fast ein blaues Auge verpasste.

Souta hatte in seinem Leben viele Missetaten begangen. Wenn man an diese Sache mit der Sünde und der Bestrafung durch Hölle und Fegefeuer glaubte, dauerte es wahrscheinlich nicht mehr lange, bis er das VIP-Bändchen im Postkasten fand und mit einer Limousine eine Etage tiefer chauffiert wurde. Bisher war er ganz gut mit seinem schlechtem Gewissen zurecht gekommen, da er ja generell der Meinung war, dass seine bösen Taten ihn erst nach seinem Ableben einholen würden, aber offenbar hatte er sich da gewaltig geirrt. Anscheinend war das Schicksal oder auch Karma, wie manche es nannten, wirklich gerecht und hatte die ganzen Jahre gewartet, damit es im passenden Zeitpunkt umso härter zuschlagen konnte. Wie sonst hätte man sich erklären können, dass Seraphim ausgerechnet dann vom Brechreiz überwältigt wurde, wenn sie so knapp vor seiner Wohnung standen? Sie hätten nur noch eine verdammte Treppendrehung überqueren müssen, weil der Dragonslayer nur ein einziges, mickriges Stockwerk über ihm wohnte. Er spielte mit dem Gedanken, einfach den Arm unter seine Beine zu haken, die Tür einzutreten und den Älteren im hohen Bogen ins Badezimmer zu schmeißen, denn das war durchaus im Bereich des Möglichen. Allerdings hatte er kein Geld dafür, eine Tür zu ersetzen und war zudem nicht begeistert von der Vorstellung, bei einem holprigem Sprint angekotzt zu werden, darauf stand er nun wirklich nicht. Streng genommen stand er auch nicht darauf, den Anderen zu stützen, obwohl sein Gewicht keine allzu große Belastung darstellte. Physisch. Psychisch sah das Ganze durchaus anders aus, aber sich damit zu beschäftigen hätte nicht nur ganz neue Dämme gebrochen, sondern auch bedeutet, dass er Seraphim hier ins Treppenhaus vor seine Wohnung kotzen ließ und das war noch schlimmer, als wenn er sich bereits weiter unten erleichtert hätte. Souta hatte nicht vor, seinen Dreck wegzuputzen, also musste er ihm schnell einen Eimer, eine Vase oder eine Toilette organisieren. Drei Gegenstände, die sich ironischerweise im nur wenige Meter entferntem Apartment befanden, dessen Tür nur angelehnt war, weil Souta ja dem naivem Glauben erlegen war, dass er nur mal kurz die Wäsche holen würde. Wer konnte schon ahnen, dass der Weißschopf seine Pläne durchkreuzen würde? Er konnte ihn nun nicht einfach in Stich lassen, wo sie schon so weit gekommen waren, also spannte er die Muskeln in seinen Armen an, schlang ihm den Freien halb um die Hüfte, um ihn noch etwas weiter aufrecht zu halten. Kurz wanderte sein Blick über das mitleiderregende Gesicht leicht unter ihm. Oh Mann. „Alles okay, ich hab dich.“ Das hier war nicht das erste Mal, dass er mit Betrunkenen zu tun hatte, doch normalerweise war er es selbst, der sich Mut zusprach. Ihm half es, wieso also auch nicht der Person, die er gerade am liebsten loswerden würde? Und er hatte ihn ja tatsächlich, im Todesgriff, aber das waren nur Kleinigkeiten, schließlich versuchte er gerade, einen erwachsenen Mann über die Türschwelle zu tragen, ohne ihn vom Boden zu heben, steuerte sofort nach rechts in die erste Tür und ließ ihn kurz seinem Griff entgleiten. Innerhalb eines Wimpernschlages öffnete sich der Klodeckel, das Licht ging an und der Wasserhahn spuckte seine Fracht, dann schlüpfte er wieder unter den Himmelsmagier und ließ ihn etwas sanfter zu Boden gleiten. „Triff, Seraphim, bitte.“ Da er nicht besonders füllig war, konnte er sich schön von ihm abwenden, ein einsames Paar Boxershorts in den Wäschekorb kicken und einen Waschlappen unter den Wasserstrahl werfen, der mittlerweile schön kalt geworden war. Natürlich musste er sich nun um ihn kümmern, das war so typisch. Hoffentlich hatte Seraphim nichts gegessen, was sein Badezimmer versauen würde, denn wie bereits erwähnt hatte er wenig Lust, hinter ihm herzuputzen, egal wie oft der Andere das bei ihm in früheren Zeiten vielleicht gemacht hatte. Seine Haare waren stachelig und hielten sich daher wohl selbst aus seinem Gesicht und er hatte nicht einmal den geringsten Ansporn, seinen Rücken zu streicheln, also wandte er sich ab und tappste durch den Gang, so war der Ältere zumindest vorerst aus den Augen. Auch wenn er in wenigen Sekunden wiederkommen musste, damit er ihm ein Glas Wasser zum Mundausspülen überreichen konnte … Vielleicht war bis dahin das Schlimmste ja schon vorbei. Man konnte immer hoffen ...

Das alberne an dieser Situation war, dass Seraphim sich gerade abartig darüber freute, dass Souta ihn nicht einfach weggeworfen hatte. Noch mehr war er darüber aus dem Häuschen, dass er tatsächlich nach so langer Zeit wieder seinen Namen genannt hatte, sodass er die vor ihm aufragende Kloschüssel eher weniger aus der Perspektive sah, dass man auf so einem Dinge eher andere Dinge tat, als den Kopf hineinzuhalten, sondern sich geradezu freute, dass sie da war. Da das nicht sein Klo war bedeutete das nämlich, dass Souta entweder in eine wildfremde Wohnung eingebrochen war, damit er sich dort erleichtern konnte – unwahrscheinlich – oder dass er nun in seinem Badezimmer saß, auf dem Boden zusammengesunken, die Hände um die weiße Porzellankante geklammert und in Hochstimmung. Wahrscheinlich hätte er gelacht, wenn sein Körper ihm nicht unmissverständlich zu verstehen gegeben hätte, dass er demnächst etwas Säuerliches durch den Mund loswerden würde. Vorverdautes war eine ekelige Angelegenheit, mehr noch für jemanden, der Geruch deutlich stärker wahrnahm als ein normaler Mensch. Mit ein bisschen Pech spritzte das Zeug nämlich auch durch seine Nase und das würde bedeuten, dass er mindestens eine halbe Stunde nichts von dem köstlichen Geruch wahrnehmen konnte, der ihn hier umgab. Was war schon das Aroma von leckerem Essbarem gegenüber dem, welches hier in jeder Ritze zu stecken schien. Natürlich gab es gerade einen weißen Störfaktor vor ihm, der den Geruch verfälschte, aber nichtsdestotrotz würde er hier freiwillig bleiben, wenn Souta ihn nur ließ… der hatte sich aber gerade verabschiedet und ihn allein zurückgelassen, mit nichts als einem wohligen Gefühl in der Brust und einer sich aufbäumenden Bestie in seinem Magen, die seinen benebelt grinsenden Kopf schon nach wenigen Sekunden spontan absacken ließ, bevor er sich geräuschvoll übergab.
Er konnte sich spontan gar nicht daran erinnern, wann ihm das letzte Mal so etwas passiert war, jedenfalls wollte er es auch gar nicht, weil es nämlich widerlich war. Das einzig vorteilhafte an der ganzen Sache war, dass ihm die Nasentortur glücklicherweise erspart blieb und er nur nach drei Anläufen stöhnend von der Schüssel zurückwich und mit dem Rücken gegen die nächste Wand klatschte, wobei er beinahe mit der Klopapierhalterung kollidierte. Er sollte wohl abspülen, taumelte es durch seinen Kopf und er richtete sich wieder etwas auf, griff nach dem Hebel, verfehlte ihn und versuchte es erneut, bis es endlich hinhaute und klares Wasser seinen Mageninhalt davon spülte. Leider erinnerte ihn das Geräusch des fließenden Wassers an den kleinen Rest, den er vergessen hatte und bald hing er wieder über der Toilette, bis irgendwann nichts mehr nachkam. Inzwischen war er überzeugt, dass er sich wahrscheinlich mehrere Organe aus dem Leib gewürgt hatte, eingeschlossen seiner Lunge, aber dafür fühlte er sich äußerlich doch noch recht komplett. Innerlich kam nun langsam die Realisation durch, dass er wahrscheinlich einen ganz wunderbaren Eindruck hinterlassen hatte und dass trotz seiner Freude über Soutas Erscheinen, dieser doch die letzte Person war, der er in einem solchen Zustand gegenüber treten wollte. Nun, jetzt war es allerdings schon zu spät, also musste er das Beste draus machen. Vorteilhaft war in diesem Fall vielleicht sogar, dass er wahrscheinlich besser nicht aufstand, weil er sonst wahrscheinlich gleich wieder umkippte. So wartete er also lieber mit zurück gelehntem Kopf darauf, dass Souta zurückkam. Oder auch nicht, denn vielleicht wartete er nun darauf, dass er irgendwann von selbst verschwand. Das war bei manchen Menschen eine beliebte Problemlösestrategie, aber brachte leider weder bei Ratten im Keller, noch bei Dragonslayern im Bad etwas.

Souta war zwar wirklich irgendwie dafür bekannt, sich eher aus der Gefahrenzone zu flüchten als sich mit komplizierten Situationen auseinanderzusetzen, aber diesmal hatte er nicht vor, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Wohin sollte er auch gehen? Normalerweise rannte er in seine eigene Wohnung davon, aber es war witzlos, wenn er sich bereits in dieser befand, außerdem hatte die Geräuschkulisse von Seraphims Kotzerei doch etwas an sich, was eine primitive Form von Schuldgefühl in ihm weckte, das ihn ermahnte, ihn jetzt bloß nicht alleine zu lassen. Man wusste nicht, ob es daran lag, dass er auf den Weißhaarigen momentan sowieso nicht allzu gut zu sprechen war, oder einfach auf seine allumfassende Toleranz, aber er hielt von dem Himmelsmagier wirklich nicht weniger, weil er gerade eindringlich bewies, dass er ein Mensch mit Körperfunktionen war. Es stand ihm nicht zu etwas zu verurteilen, was er selbst auffallend oft tat und Seraphim war wahrscheinlich ohnehin schon genug gestraft, weil er schließlich komplett selbst an seiner Misere Schuld war. Er hätte sich nicht vollaufen lassen müssen und konnte nun in seinem eigenem Saft schmoren, das reichte eigentlich schon fast als Strafe aus. Abgesehen davon konnte er sowieso nicht wütend auf jemanden sein, der so mitleiderregend aussah wie das Häufchen Elend, das ihn beim erneutem Betreten des Bades erwartete. Der Andere war zusammengesunken und wirkte allgemein ziemlich durch den Fleischwolf gedreht, was Souta mit einem leichtem Lächeln erwiderte, das vielleicht etwas mehr Schadenfreude beinhaltete, als das für ihn normal war. Na ja, irgendwie war er ja doch sauer auf den Anderen, auch wenn das eben nichts mit seinem Alkoholkonsum zu tun hatte. Er wollte ihn gar nicht hier in seiner Wohnung haben, und die Tatsache, dass er daran momentan nichts ändern konnte, schnürte ihm die Brust zu. Er fühlte sich wie in einem Käfig, weil man schon wieder dafür gesorgt hatte, dass er ein Gewicht an seinem Fuß hatte, das ihn davon abhielt, diesen unangenehmen Lebensabschnitt hinter sich zu lassen, wie er es eigentlich vorgehabt hatte. Wieso musste er so hilflos sein und dabei so verletzlich aussehen, dass er ihn fast schon witzig fand? Souta hockte sich vor den Anderen und musste sich zusammenreißen, ihn nicht zu berühren, weil er glaubte, dass Necken oder Spott gerade nicht angebracht war. Stattdessen reichte er ihm das Wasserglas zum Ausspülen seines Mundes und setzte sich dann auf die Badewanne, um die Ellenbogen auf die Knie zu stützen und ihn zu beobachten. Was er sich davon versprach wusste er nicht so recht, aber vielleicht wurde Seraphim ja ein wenig nüchterner, jetzt, wo er das Gift wieder losgeworden war. „Sag mir, wenn du fertig bist, dann helfe ich dir ins Bett.“ Er besaß kein Sofa und wollte nicht noch einmal eine Kotzorgie im Treppenhaus herausfordern, also würde er ihn mit Eimer in seinem Schlafzimmer einquartieren und ihn dort hinter verschlossener Tür so lange verdrängen, bis er alleine heimgehen konnte. Ihm kam das wie ein ganz ausgezeichneter Plan vor, der nur ein Mindestmaß an Kontakt beinhaltete, was ja auch dem entsprach, was er generell anstrebte. Das hier änderte nichts. Er hätte auch irgendeinem Dahergelaufenem dabei geholfen, die Nacht zu überleben … Das hatte nichts mit Seraphim zu tun. Er verzieh ihm deshalb nicht für seinen Überfall und die Tatsache, dass er ihn quasi die ganze Zeit wegen seiner Gefühle angelogen hatte … Nein. Dafür brauchte es schon etwas mehr als vollständigen Kontrollverlust über seinen Körper und ein geschundenes Erscheinungsbild, auch wenn er noch nicht so recht wusste, was er genau von ihm wollte. So hatte er sich die Sache mit ihrer nächsten Begegnung jedenfalls nicht vorgestellt. „Wieso bist du eigentlich betrunken? Ich dachte du wärst der Herr der Selbstbeherrschung und so.“ Nicht, dass es ihn interessierte. Er wollte lediglich ein wenig Smalltalk treiben, bevor diese Stille noch unangenehmer wurde. Ja, als würde es ihn kümmern, was der Andere so in seiner Freizeit trieb ...

Tatsächlich macht es zumindest den Anschein, als ob Seraphim wenigstens ein wenig nüchterner geworden sei, vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass er saß, anstatt zu stehen, jedenfalls fokussierten sich die violetten Augen schneller auf den Einäugigen, als sie das noch zuvor getan hatten. Dieser hatte erklärt, er würde ihm ins Bett helfen, wenn er fertig sei und hatte sich danach auf den Rand der Badewanne gesetzt, um ihn anzublicken. Warum er das tat, war nicht zu erkennen, aber es war dem Dragonslayer auch ziemlich egal, weil es nämlich bedeutete, dass er bei ihm war. Er erwartete, dass es ihm bald schon besser gehen würde, wenn er nur in seiner Nähe blieb, aber nach einigen verstrichenen Momenten vollkommener Stille war er sich da nicht mehr allzu sicher. Irgendwie lag immer noch eine gewisse Distanz im Blick des wunderschönen grünen Auges, das er schon in ganz anderen Intensitäten erlebt hatte und es gefiel ihm nicht, dass er einfach so dasitzen konnte – auf etwas, das er mit durchaus schönen und inzwischen schmerzenden Erinnerungen verband – und ihn anstarrte, als sei er eine Art Fliege oder anderes Insekt, das man am liebsten vertreiben würde. Er mochte betrunken sein, aber er merkte dennoch ganz genau, dass er hier nicht erwünscht war. Sicherlich sollte ihn das nicht verwundern, denn der Rothaarige war damals nach der Quest, an deren Ende alles schief gegangen war, einfach abgehauen und war ihm aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Weg gegangen, aber das nun so vor sich zu sehen, versetzte ihm doch einen kleinen Stich. War er ihm wirklich so egal, dass er einfach so vergessen konnte, was sie miteinander erlebt hatten? Konnte er einfach alle Erinnerungen wegsperren und für nichtig erklären und so tun, als hätten sie sich nie näher gestanden als jetzt, wo er ihn musterte wie einen Fremden? Er konnte es ihm wahrscheinlich nicht einmal verübeln, schließlich hatte er sich ja auch wie ein großer Idiot aufgeführt. Er hatte es so gesehen verdient, dass Souta so reagiert hatte, immerhin war er dumm gewesen – auch wenn sich diese Dummheit gut angefühlt hatte und ungemein richtig.
Die Frage des Rothaarigen erwischte ihn also insofern auf falschem Fuße, als dass er gerade alten Erinnerungen nachgehangen hatte und nun gefragt wurde, warum er sich eigentlich betrunken hatte… und diese zwei Gedanken gingen beinahe nahtlos ineinander über. Der Meister der Selbstbeherrschung war er meistens wirklich. Das stimmte. Er hatte im Allgemeinen vollkommene Kontrolle über sich, seine Emotionen und seine Mimik, er tat, was sein Kopf wollte – und nur, weil es oft dasselbe war, das sein Körper begehrte, war er so erfolgreich damit. Allerdings hatte die Zeit auch ihm seine Grenzen aufgezeigt, die ihn nun, wo er vergessen und verarbeiten sollte, einschränkten. „Ja…“, sagte er mit hohler, matter Stimme und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, „Das dachte ich auch.“ Seine Stirn fühlte sich schweißnass an, was wahrscheinlich von der Anstrengung seines Körpers kam. Es würde ihn nicht wundern, wenn es ihn bald schüttelte, weil sein Kopf ihm gerade Worte einhämmerten, die sicherlich nicht gut für seine Gesundheit waren. „Ich habe nachgedacht. Ich hätte nicht nachdenken sollen.“ Nun, den Pulitzerpreis würde er für seine verbalen Ergüsse sicherlich nicht erhalten, aber das konnte man von einem Betrunkenen wohl auch nicht erwarten. „Denkst du auch manchmal nach?“ Hoffentlich sah Souta das nun nicht als Beleidigung seiner kognitiven Fähigkeiten, denn so war das natürlich nicht gemeint. Der Alkohol hatte wohl nur gerade eine Eigenschaft entfaltet, die er gerne auf die Gehirne von benebelten Menschen hatte: Er senkte Hemmschwellen. Der Dragonslayer hatte von Natur aus eher wenige und diese waren tief gelegt, aber gegenüber dem Kettenmagier hatte er erstaunlich viele entwickelt. Er versuchte ihn nicht zu bedrängen, gewisse Themen zu umgehen und generell dafür zu sorgen, dass er sich wohler fühlte, aber das war momentan einfach zu viel Denkaufwand. Wahrscheinlich hätte er in nüchternem Zustand viel zu viel Angst vor der Reaktion gehabt, aber jetzt schien ihm das auf einmal egal zu sein. Er war bei Souta, wie er sich das gewünscht hatte – aber es schien nicht dasselbe zu sein. Das machte ihn traurig, so wie es ein kleines Kind in etwa bestürzt hätte und weckte genau diese Altersstufe in ihm, die sich unterbewusst ins Freie zu drängen begann.