Nun stand es also fest: Souta war gerade seines primären Geschlechtsorgans beraubt worden. Selbstverständlich hätte er Seraphim ganz einfach davon abhalten können, ihn in diesen Affront von Jacke zu stecken, doch dafür hätte er ihm einen Kinnhaken oder Ähnliches verpassen müssen, was er natürlich nicht wollte. Der Himmelsmagier konnte so viele Dinge mit seinem Mund anstellen, die tausendmal besser waren als die Genugtuung von Gewalt, wie zum Beispiel, ihn einfach so zu küssen. Wenngleich das aufgrund der neuesten Erkenntnisse aus ihrer emotionalen Warte aus noch einen bitteren Nachgeschmack hatte, konnte er das recht gut verdrängen, vorerst jedenfalls. Im Moment beschäftigten den Rothaarigen vor allem die an den Seiten seines Kopfes schlaff herabbaumelnden Hasenohren, die nur ein mäßiger Ersatz für seine Männlichkeit waren, die ihm so schändlich gestohlen worden war. Natürlich musste der Ältere noch etwas draufsetzen und an seinem Äußeren herumkritisieren, oder eher, ihm die totale Niedlichkeit unterstellen. Wieso ging es Seraphim nur immer darum, sich als starker Mann abzuheben? Außerdem war seine Aussage ja sowieso unerheblich, da er nicht auf ihn hören würde und diesen Pulli durchaus tragen konnte, und zwar absolut männlich und cool. Er war schließlich Souta, der Gott der Großartigkeit, und er war trotz dieser flauschigen Öhrchen und der geschmeidigen Oberfläche seines Kapuzenpullis, den er durchaus zubekam, ohne wie eine Pellwurst auszusehen, immernoch größer und stärker als sein Gegenüber. “Seraphim ... Jetzt willst du mich anziehen? Ich dachte immer, dir wäre es am liebsten, wenn du mich ausziehen kannst~” Er lächelte leicht und ergriff einen der blassen Arme, um ihn von der Theke zu lösen und sich von ihm freizumachen, knuddeln war zwar schön und gut, aber eigentlich war er hierher gekommen, um etwas zu essen und nicht, um einen Wattebausch an sich zu kleben, auch wenn er das ungute Gefühl hatte, dass er den Anderen jetzt nicht mehr so schnell loswerden konnte. “Aber wenn dir soviel daran liegt, werde ich das Teil eben auf unserer nächsten Quest tragen, ja?” Der letzte Donut wurde angebissen und Upps, da hatte er Seraphim ja doch nichts abgegeben, so ein Jammer aber auch. Während sich Souta unwillkürlich vorstellen musste, wie es wohl rübergekommen wäre, wenn er einen Tsunami im Hasenpulli aufgehalten hätte, verschwand das Gebäckstück in rasender Geschwindigkeit und ließ den Kettenmagier mit unzufriedener Miene zurück. Es drang kaum zu ihm durch, dass er den Älteren quasi für die nächste Quest gemietet hatte, aber das war ja wohl selbstverständlich, schließlich hatten sie sich wieder versöhnt und alles war genau wie vorher, außer eben, dass nichts mehr wie vorher war. Aber damit konnte er leben, wenn man in ihn verliebt war, kam er schon damit klar. Warum sich Seraphim ausgerechnet ihn dafür ausgesucht hatte, kam ihm zwar dezent spanisch vor, doch wahrscheinlich fiel die Liebe wirklich immer auf solche Personen, die am wenigsten dafür geeignet waren. War ja nicht so, als hätte er das nicht auch selbst erfahren müssen, wie seine wunderschönen Handgelenksnarben prachtvoll zur Schau stellten. All diese deprimierenden und verwirrenden Gedanken trugen nicht dazu bei, sich den übrigen Hunger wegzudenken, also öffnete der Rotschopf nachdem er die Tüte weggeschmissen und einmal mit einem Tuch über die Krümel gegangen war, den Kühlschrank, der auch schon einmal voller gewesen war. Leider hielt dieser Zustand bei ihm nur maximal einen Tag an ... Die Geißel der Verfressenheit. “Da geht ja nicht einmal mehr ein Sandwich raus”, stellte er mit einer solchen Traurigkeit in der Stimme fest, dass seine Mundwinkel sich nach unten zogen und es einen nicht verwundert hätte, wenn eine Träne aus seinem Auge gepurzelt wäre. Als er sich wieder umdrehte, hingen die Hasenohren noch immer schlaff herab und ergaben zusammen mit seinem unglücklichem Gesichtsausdruck sicherlich ein Bild für Götter an dem Menschen wie Seraphim sich lange laben konnten. “Bis zum Abendessen ist es noch sooo lang ...”

Souta hatte Recht, indem er vermutete, dass es Seraphim darum ging, den starken Mann zu markieren. Auch wenn er einige Vorstellungen von Männlichkeit rundheraus ablehnte, zum Beispiel die mangelnde Hygiene oder ein leicht ungepflegtes Aussehen, so war es ihm wichtig, dass man nicht einmal im Traum daran denken konnte, er könne in irgendeiner Weise schwächer als jemand anderes sein. Er fühlte sich in der Gesellschaft körperlich kräftigerer Männer grundsätzlich eigentlich eher unwohl, weil sie eine potenzielle Gefahr darstellten und versuchte diese Unsicherheit mit seinem strahlenden Selbstbewusstsein zu überspielen und obwohl er sich nichts lieber als Soutas Gesellschaft wünschte, gefiel ihm dessen Stärke gar nicht. Er konnte also gar nicht anders, als die Männlichkeit oder den Stolz des Einäugigen in Grund und Boden zu reden, auch wenn er ihm beileibe nicht schaden wollte. Es war nun einmal so, daran ließ sich nichts ändern. Aus ähnlichen Gründen hatte er durchaus für freiheitsbeschränkende Maßnahmen bei anderen Menschen übrig, aber würde sich strikt weigern, in ihre Rolle zu schlüpfen. Niemand behauptete, dass das fair war, aber das war eben Seraphim mit all seinen Ecken und Kanten. "Ah~ Ich dachte, du könntest dich vielleicht auf dem Weg nach oben erkälten, wenn du ihn nackt zurück legst." Schon wieder stichelte er, ohne es überhaupt recht zu merken. Der Kettenmagier mochte schnell wie der Blitz und stark wie ein Bär sein, aber dennoch war er das größte Weichei, das er je erlebt hatte, da er schon aufschrie, wenn er auf einen zu eckigen Stein trat. Ihn störte das nicht, weil seine ausgeprägte Sensibilität auch ihre Vorzüge hatte, aber das war nun einmal auch nichts, was man landläufig als besonders männlich abstempelte. Wahrscheinlich holte er sich auch wahnsinnig leicht irgendwelche Infektionen, denn das würde doch wie die Faust aufs eine Auge dazu passen. Dass er sich bei ihrer Quest einst erkältet hatte, wurde beflissentlich ignoriert.
Mit aufmerksamen und dennoch leicht verschleierten Augen beobachtete er den Rothaarigen dabei, wie er sich in der Jacke bewegte, die niedlichen Hasenohren frei an seinem Kopf herunter baumelnd. Beschnitt man die Männlichkeit einer Person, wenn man ihr erklärte, dass sie niedlich sei? War es falsch, diesem jungen Mann zu beichten, dass er das süßeste war, was er seit längerem gesehen hatte, obwohl er es nicht darauf anlegte? Es war eine Sache, sich Mühe zu geben, alle Klischees in dieser Richtung zu sprengen, eine andere, eine Natürlichkeit dabei an den Tag zu legen, die ihn faszinierte. So simpel der Rothaarige manchmal auch sein konnte, es wohnte ihm immer etwas inne, das ihn in seinen Bann schlug. Er musste sich ernsthaft zusammen reißen, als er ihn anblickte, als seien Weihnachten und Neujahr ausgefallen, nur weil er nichts Essbares mehr fand und reagierte daher, ehe er darüber nachgedacht hatte: "Wenn du mit zu mir kommst, kannst du dir was nehmen..." Diese Szene sah nur deswegen nicht kriminell aus, weil man ja wusste, wie die beiden zueinander standen, denn ansonsten hätte Seraphim nur noch Babykaninchen erwähnen müssen. Es war grundsätzlich eine schlechte Idee, dem Rothaarigen ausdrücklich Futterdiebstahl zu erlauben, aber er konnte am Ende sowieso nichts dagegen tun. Das einzig Vorteilhafte bei ihrer Trennung war sein deutlich vollerer Kühlschrank gewesen, da der Kettenmagier stark dazu neigte, einem die Haare vom Kopf zu fressen. Andererseits konnte er auch von Wind leben, also sollte er schon keinen bleibenden Schaden dadurch erleiden - und Souta bei sich zu haben, war doch sowieso viel mehr Wert als ein voller Magen! "Na?", er streichelte über die weiche Kapuze und stupste danach seine Nasenspitze gegen Soutas, "Was sagst du dazu?" Oh Mann, war er niedlich...

Souta hatte nicht übel Lust, den Weißhaarigen damit zu triezen, dass auch er gewisse Seiten hatte, die man normalerweise mit Frauen assoziierte. Konservative Geister mochten da seine extreme Reinlichkeit (neurotischer Putzzwang) und seine Kochkünste anführen, die ihn zur perfekten Hausfrau machten, denn er konnte ja auch alle Wehwehchen und größeren Schmerzen kurieren und darüber hinaus ausgezeichnet massieren. Dies alles gereichte dem Rotschopf häufig zum Vorteil, auch wenn er nicht verstand, wieso er deshalb nicht in seinem Bett essen durfte, sich einen Teller nehmen musste, wenn er etwas Brüchiges aß, seine Schuhe ausgezogen werden sollten, wenn er von draußen kam und die beschissene Balkontür immer offen bleiben musste, wodurch es in Seraphims Schlafzimmer immer polare Temperaturen hatte. Souta war der festen Meinung, dass der Andere dort nur nicht erfor, weil er fast immer einen warmen Körper bei sich hatte, den er wie ein Klammeraffe an sich pressen konnte. Er selbst war ja ein extrem verkuschelter Mensch, aber den Himmelsmagier in diesem Punkt zu übertreffen, war ihm dennoch unmöglich. Wer regelmäßig die Nacht mit dem Älteren verbrachte – Souta ertappte sich dabei, wie bei dieser Verallgemeinerung sein Herz sank – der musste mit den Grundlagen vertraut sein, oder er erlebte acht bis zehn Stunden intensiven Brustkontakt, eigentlich fehlte nur noch, dass er die Beine um ihn schlang und seinen Kiefer ausrenkte, um ihn wie die hausübliche Würgeschlange zu verschlingen. Wie genau kam er denn auf solche Gedanken ... Es war doch ums Essen gegangen, beziehungsweise, das sich in Griffweite befindliche Essen nur ein Stockwerk höher, das ihm gerade angeboten wurde. Innerhalb einer Sekunde hatte der Rotschopf sämtliche Anschuldigungen und Sticheleien nicht nur verziehen, sondern auch vollkommen vergessen. Es dauerte einen Jubelschrei und ein Anspringen und Festklammern, bis ihm gewahr wurde, dass der Arme ja eigentlich verkatert war und eine zu hohe Dosis Souta ihn vielleicht überfordern würde ... “Ich kann aber auch warten. Vielleichst solltest du ein zweites Nickerchen machen, wenn du noch Kopfschmerzen hast.” Dieses Angebot von Distanz war vielleicht etwas unpassend, wenn man die Beine um seinen Körper geschlungen hatte und sich mit den Armen festhielt, als wolle man ihn als Pferdchen zweckentfremden, aber so war er nun einmal, man durfte schon stolz darauf sein, dass er über seinen Hunger noch an den Zustand seines besten Freundes dachte, denn das war beileibe keine Selbstverständlichkeit. Zumal es da immernoch den Elefanten im Raum gab, den man unter günstigeren Umständen ansprechen musste, wobei man natürlich erst einmal klären musste, an wieviel sich der Ex-Betrunkene noch erinnerte. “Oder du lässt mich bei dir kochen! Ich hab ein paar Sachen gelernt, als ich ... weg war.” "Weg" bezeichnete nicht etwa die Zeit, in der sie getrennt waren, sondern eher die etwas permanenteren Monate, in denen er neben seinem Suizidversuch und dem Hinwerfen seines Lebens bei einem alten Mann gewohnt hatte, der Selbstversorger gewesen war. Ebenso bildhaft, wie ihm die Erinnerung vor Augen war, dass er beim Ausnehmen eines Hasens in die Büsche gekotzt hatte, war auch die an die Rezeptur von Rühreiern und Speck. Und man wusste ja, eine von Soutas Lebensweisheiten war, dass ein Tag, der mit Speck begann, ein guter Tag war. Oder war das etwas Anderes gewesen, was mit S anfing ... ? “Und du hast noch einen Kaffee!”

Es störte Seraphim nicht im mindesten, dass ihn der Einäugige bei der Erwähnung der Nahrungsmittel geradezu ansprang, da seine Hände beinahe automatisch zu etwas festem, wenn man denn nicht sogar knackig sagen wollte, wanderten und den Rothaarigen stützten. Er hatte generell nichts gegen engen Körperkontakt zu diesem jungen Mann, also konnte er sogar darüber hinweg sehen, dass er ihn gerade mit Naturalien bestochen hatte, damit er mit ihm hoch kam. Das war okay, wenn man bedachte, dass er ihn wochenlang nicht richtig gesehen hatte und ihn nicht einmal hatte berühren können. Anderen Leuten durch Fenster bei Dingen zuzusehen, war nun einmal etwas ganz anderes, als neben ihnen zu stehen und sie zu umarmen - oder sie in den Armen zu halten, während man sich Mühe gab, den kleinen Stichelschmerz in seinem Kopf zu ignorieren. Viel war davon nicht übrig geblieben, denn gewisse Hormone halfen gegen Schmerz, aber ein kleines bisschen eben doch - und das mochte es gar nicht, wenn man ihn als Pferdchen missbrauchte - zumindest nicht auf diese Art.
Überraschenderweise bot Souta ihm an, dass er kochen könne, immerhin habe er etwas gelernt, während er nicht auffindbar war... doch Seraphim war sich nicht sicher, wie er damit umgehen sollte. Grundsätzlich war es etwas feines, bekocht zu werden. Ihm wurden auch regelmäßig Sachen gekocht, von Bekannten, die er hatte, aber von denen wusste er auch, dass sie es konnten. Den letzten Beweis von Soutas kulinarischer Kreativität hatte er nicht besonders überzeugend gefunden, als dieser nämlich versuchte, Sprühsahne in einer Soße zu verwenden... gesüßte Sahne, wohl bemerkt. Auch wenn Seraphim besagten Hasen sogar mit einer Spur Genuss hätte ausnehmen können, war er, seine Nahrung betreffend, eigentlich recht penibel. Wenn man schon die Möglichkeit hatte, etwas Gutes zu essen - und die hatte man, wenn man unter Menschen wohnte - so sollte man das seiner Meinung nach tun. Nicht in der Menge des Essens lag sein Genuss, sondern in der Qualität. Allerdings war es noch früh und er erwartete keinen Festschmaus, also würde Soutas hoffentlich vorhandenes Anfängerglück hoffentlich ausreichen, um etwas wenigstens Essbares zu kreieren. Ebenso machte ihn allerdings nervös, dass er den Rothaarigen in seine Küche lassen sollte, seine gut geputzte, tipp topp in Stand gehaltene Küche - und irgendwie bildete er sich ein, dass es etwas anderes war, ihm zu erlauben, sich dort auszutoben, als wenn er das Naomi lassen würde... denn dieses Mädchen war nun wirklich die Essenz der Säuberlichkeit. Andererseits war Souta auch nicht unbedingt nachlässig und immerhin hatte er sich erst vor kurzem wieder mit ihm vertragen... er würde ihm eine Chance geben. Sollte es in einer Katastrophe enden, konnte er sich immer noch schwören, so etwas nie wieder zuzulassen.
Mit einem Seufzen stellte er den Einäugigen wieder auf den Boden und griff sich den Kaffee, den er ihm mitgebracht hatte, um einen Schluck davon zu nehmen und ob der sanften Bitterkeit leicht zu erschaudern. Das Koffein würde noch schnell genug seine Wirkung entfalten und ihn wahrscheinlich von den letzten Kopfschmerzen befreien, die übrig geblieben waren, ihm mit etwas Glück sogar die Geduld schenken, die er nun brauchte, um das alles durchzustehen. "Wie hoch ist die Chance, dass du alles in einem Stück lässt?", fragte er und schlenderte in Richtung Tür davon, "Na ja, wir werden es ja sehen..." Er schnappte sich seine Anziehsachen, zog seinen Haustürschlüssel aus der Hosentasche und stapfte die Treppen hinauf, ehe er die schwarze Haustür seines eigenen Heimes aufschloss und Souta mit einer angedeuteten, höchst ironischen Verbeugung hinein bugsierte. Kaum waren sie drinnen, steuerte er seine Kleiderschrank an und zog sich erst einmal eine Hose in sinnvoller Größe heraus, die er bei nächster Gelegenheit anziehen würde. "Was hast du denn zu machen vor, Souta-chan?~", rief er aus der offenen Tür hinaus und suchte mit Blicken nach dem Rothaarigen.

Tbc: Über den Dächern Oshibana Towns - Drachenhort