Der wohl größte Unterschied zwischen Naomi und Cyrus war wohl - davon abgesehen, dass sie klein, weiblich, nett, liebenswürdig, süß und lieb war, ganz im Gegensatz zu ihm - wie sie mit ihren Gefühlen gegenüber anderen Menschen umgingen. Naomi hatte ihm schon so oft gesagt, dass sie es genoss, in seiner Nähe zu sein und dass sie sich freute, wenn er bei ihr war, dass es ihm langsam langweilig werden könnte, während er sich nicht erinnern konnte, ihr je auch nur ein Wörtchen in diese Richtung geschenkt zu haben. Das lag wohl daran, dass er nur dann seine Zuneigung zu Menschen in verbal-übertriebener Form äußerte, wenn er sie anlog und deswegen in der Realität nur ungerne darauf zurück griff. Vielleicht traute er sich auch einfach nicht... aber dieser Gedanke kam ihm erst einmal gar nicht, denn das würde ja bedeuten, er würde emotional unfähig oder gehemmt sein oder so - was natürlich gut angehen konnte. "Ich glaube, in deinem Alter sollte man auch noch gar nichts mit Absatz tragen, das macht nur deine Füße kaputt...", überlegte er und blickte zu den kleinen Tretern der jungen Dame herunter, die in so putzig winzigen Schuhen steckten, dass es ihn zum Schmunzeln brachte. Dagegen wirkten seine Schnürschuhe beinahe wie Kinderschlitten, obwohl er nicht einmal zu den Leuten gehörte, die ein Baby in ihren Schuhen unterbringen konnten... Was Naomi wohl am liebsten mit ihrem Leben anfangen wollte? Irgendwie hatte er das Gefühl, dass dieses Magierdasein, immer noch einer Quest zur nächsten hetzend und sich dabei auch noch in Gefahr bringen, nicht ganz das war, was sie erfüllte, aber vielleicht täuschte er sich da auch. Er hatte bisher vor allem das Gefühl gehabt, dass sie lieber keine Gewalt anwandte, aber das war in diesem Beruf kaum bis gar nicht möglich. Natürlich, man konnte auch versuchen, mit seinen Gegnern zu reden und diese zur Aufgabe zu bewegen, aber wie das wahnsinnige Rhetoriktalent war sie ihm bisher auch nicht gerade vorgekommen. Sie wäre sicherlich wunderbar damit bedient, wenn sie heilen könnte, das Leiden anderer Menschen von ihnen wegzunehmen, das wäre sicherlich etwas, das ihr gefallen würde. Allein schon, dass sie sich um den Mann mit den roten Haaren im Rollstuhl kümmerte, auch wenn sie sich scheinbar gut genug gegen ihn durchsetzen konnte, sagte viel aus. "Stimmt. Aber ich bezweifle, dass du viel verpasst hättest.", meinte er auf ihre erneute niedliche Gefühlsschwämme und steuerte einen Laden an, der unter Umständen das hatte, was sie suchten. "Meinst du, du kannst diesmal selbst nach was suchen, Engelchen? Sonst erleidet die Verkäuferin sicherlich einen Tobsuchtsanfall, gefolgt von mir." Das würde dann wohl auch reichen, um ihr Verhalten im vorherigen Laden zu kommentieren, mehr würde er dazu nicht sagen. Sie wusste sicherlich ziemlich genau, dass sie sich nicht richtig benommen hatte, aber in diesem Falle war sie wahrscheinlich zu alt, als dass er ihr das hätte sagen können, ohne allzu bevormundend zu wirken, denn auch wenn er älter war, so reichten fünf Jahre nicht für ein dermaßenes Gefälle aus.

Dass er ihr mit den flachen Schuhen zustimmte, hatte sie fast erwartet. Man konnte sich sogar einbilden es ginge ihm dabei um die Gesundheit ihrer Füße, aber das tat Naomi nicht. Sie freute sich schon darüber, dass sie einer Meinung waren. Auch sie blickte zu ihren Füßen, wenn sie so neben ihm stand oder ging, wirkten ihre Füße wie die von einer kleinen Puppe oder wirkten seine Füße einfach nur gigantisch im Gegensatz zu ihren. Allerdings war es zu erwarten, er war älter, größer und männlich, es wäre einfach nur zum Lachen, wenn er nicht auch größere Füße gehabt hätte. Auch recht hatte er, wenn er sich sicher war, dass sie nicht ihr Leben lang kämpfen wollte. Dazu hatte sie wahrscheinlich nicht mal die Kraft. Aber gerade in diesem Moment war es nichts, was sie zu befürchten hatte. Es ging nur darum, ein paar Schuhe auszusuchen. Vor dem Geschäft angekommen wies er sie noch mal darauf hin, dass sie diesmal keine Verkäuferin in den Wahnsinn treiben sollte und nein das hatte sie nicht vor. Leicht lachte sie und lächelte zu ihm nach oben. "Ich werde mich diesmal benehmen und wir werden zügig fertig werden, versprochen." Eigentlich ein Witz, das er versuchte sie nicht zu bevormunden. Das hatte schon lange keiner mehr versucht, immerhin war sie wohl eher der Vormund im Haus. Nun eigentlich nicht, aber man konnte sagen, dass ihr eigentlich wenig widersprochen wurde, in den Dingen die sie entschied. So viel Freiheit sollte man einem Kind eigentlich nicht lassen, aber war sie eigentlich ein Kind? Nun irgendwas musste sie sein, und auch wenn man es nicht genau definieren konnte, hatte sie wahrscheinlich entschieden zu viel Entscheidungsgewalt in ihrem eigenen Umfeld. Wahrscheinlich war dies einer der Gründe warum sie die Gesellschaft der Dragonslayers genoss, er zeigte ihr, wo Grenzen waren, die sie nicht überschreiten durfte, oder wies sie, erheblich dezenter als möglich, auf Fehler hin. Nun schritt sie zielgerichtet durch die Reihen mit Schuhen, bis sie die richtige Abteilung und die richtige Größe erreicht hatte. Dort war die Auswahl schon recht eingeschränkt und natürlich gab es keiner Schuhe in der Hauptfarbe des Kleides, wieso auch? Hatte ja niemand geahnt, dass sie kommen und genau nach dieser Farbe suchen würde. Irgendwann hatte sie dann zwei Schuhe ausgewählt. Beide von ihnen weiß, die zweite mögliche Farbe. Die einen waren geschlossen und hatten je eine Schnalle. Doch eigentlich tendierte sie eher zu den Sandalen mit den feinen Riemen, die sie gerade an den Füßen hatte, um probeweise damit herumzulaufen. Ganz davon abgesehen fühlten sie sich besser an und kosteten dank irgendeiner Sonderaktion nur die Hälfte. "Ich denke die Sandalen sollten es sein, sie fühlen sich gut an, an den Füßen", sie blickte hoch in die violetten Augen des Dragonslayers und lächelte.

Wo er im Kleiderladen immerhin noch daran hatte Spaß haben können, dass er sich vorstellte, wie etwas üppigere Damen als Naomi wohl darin aussehen konnten, war er hier nun absolut aufgeschmissen. Die weibliche Faszination an Schuhen war nach wie vor ein Rätsel für ihn, ein unerklärbares Phänomen, wie sich das andere Geschlecht so sehr für das interessieren konnten, auf dem sie herumtrampelten. Er war doch auch nicht an der Menschheit interessiert, oder? Farben, Stoffe, Beschaffenheit, Höhe des Absatzes, geschlossen, offen, spitz, stumpf... irgendwie hatte er es als Mann da einfacher. Schlichte, schwarze Lederschuhe und die ganze Sache hatte sich erledigt, die konnte er sowohl im Theater, als auch beim Tanzen, als auch bei einer Beerdigung anziehen, das war eine viel universellere Angelegenheit als diese typisch weiblichen Teile, die auf genau ein einziges Kleid abgestimmt waren oder auf die Sonnenbrille, je nachdem, wie verrückt die Dame denn nun war und wie viel Geld sie zur Verfügung stehen hatte. Was ihn auch immer wieder verwunderte, war der scheinbar selektiv auftretende Masochismus einiger Frauen, ihre Füße in Schuhe zu zwängen, die ihre Körper auf ziemlich ungesunde Art und Weise verbogen. Nicht, dass High Heels irgendwie schlecht aussähen, im richtigen Zusammenhang waren die durchaus reizvoll, aber wenn er sich vorstellte, er müsse so etwas tragen, kam ihm das kalte Grausen. Außerdem kam ihm, als sein Blick zwei besonders spitze Absätze streiften, ungewollt der Gedanke, dass es sicherlich höllisch weh tun müsse, mit solchen Mordgeräten auf den Fuß getreten zu werden. Er wurde nur manchmal mit den Viechern abgeworfen, das war schon gefährlich genug, da sie als Wurfgeschosse Messern nur in wenig nach standen. Da war er schon öfter dankbar dafür gewesen, dass viele Frauen weder kräftig, noch zielgerichtet genug werfen konnten, um ihn zu treffen, vielleicht hätte sein Leben sonst ja schon früher geendet... wer weiß.
Naomi jedenfalls schien zu ihrem Wort zu stehen, zumindest bemerkte er zu seiner Erleichterung, dass sie sich zielstrebig zwei Paar heraussuchte, zwischen denen sie noch abzuwägen schien. Der einzige Grund, aus dem er die meiste Zeit hinter ihr her dackelte und sie beobachtete, war wohl eben, dass er sich ansonsten ziemlich fehl am Platz vorkam. Er wusste schon genau, warum er die Einkaufsmanie der Frauen hasste... Deswegen wirkte er auch beinahe dankbar dafür, dass Naomi ihr nicht verfallen war. "Wenn es die sind, die du möchtest, dann kannst du die haben.", meinte er und betrachtete sie mit einem ziemlich nichtssagenden Blick. Ja. Weiße Schuhe. Sollten passen, das glaubte er auch, sie passten zudem gut zu den kleinen Füßen Naomis, sahen schön aus, doch. Wenn sie ihr gefielen, umso besser.

Schließlich verließen die beiden Magier das Geschäft wieder, Naomi inzwischen mit zwei Tüten, Seraphim mit erleichterter Miene. Sie hatten das schnell hinter sich gebracht und lagen deswegen noch immer perfekt im Zeitplan. Er hatte schon kommen sehen, dass sie wegen etwaiger Trödelei den Zug verpassen würden... "Hm. Meinst du, du kannst dich allein fertig machen? Ich müsste mich auch noch umziehen, so kann ich da auch eher weniger aufkreuzen." Er blickte an sich herab, schlecht sah er ja grundsätzlich nie aus, aber T-Shirt und entsprechende Stoffjacke samt seiner Stiefel waren auch nicht das Wahre. "Wir würden uns dann in einer halben Stunde am Bahnhof treffen." Und weg war er...

Ja Naomi konnte schon angenehm sein, wenn sie wollte und eigentlich war das die meiste Zeit der Fall. Nun hatte sie zwei Tüten, für jede eine und ging an der Seite des Dragonslayers aus dem Geschäft. Dieser fragte nun, ob sie es schaffen würde, sich selbst fertigzumachen. Nun das tat sie schon einige Zeit lang, von daher nickte sie. Wenn es wirklich ganz schlimm wurde, konnte sie immer noch eine Nachbarin um Hilfe bitte. Aber da sie keine Pickel mit irgendwelchen Kosmetikartikeln abdecken musste und sonstige Schminke in ihrem Gesicht sicher etwas deplatziert wirken würde, konnte sie das schon schaffen. Er sollte sich nur auch umziehen, auch wenn bei ihm die Kleider, so glaubte zumindest Naomi, eigentlich eher irrelevant waren. Wahrscheinlich konnte er mit einem Blick einem versnobten Frackträger weiß machen, dass der Anzug um einiges schäbiger war, als seine eigene Kleidung, einfach nur durch seine Ausstrahlung. Dennoch sollte er sich ja auch wohlfühlen, und wenn es eine feine Umgebung werden würde, dann fühlte man sich in feinerer Kleidung sicher wohler. Dann meinte er auch noch, dass sie sich am Bahnhof treffen würden. Zugfahren, irgendwann sollten sie Vielfahrerrabatt bekommen, auch wenn die meisten Fahrten nicht direkt von ihnen bezahlt wurden. "Ich werde dort sein", ja das war mehr als klar. Nun eilte das Mädchen allerdings nach Hause. Im Schnelldurchlauf wusch sie sich den Kopf, und während sie sich behutsam die Haare trocken rieb, was eigentlich sehr schnell ging, zog sie sich an. Eine Schleife hatte sie nicht, welche dazu passte, mal ganz davon ab, dass diese nicht passen würde. Ja es sah wirklich eher aus, als wollte sie erwachsen wirken und erwachsene trugen kleine Schleifen, zumindest nicht oft. Eine Handtasche hatte sie natürlich auch nicht, weshalb sie schon ihre Questtasche mitnehmen wollte, als eine Nachbarin mit etwas Auflauf an der Tür klingelte. Wie Frauen so sind, war sie natürlich entzückt von dem doch sehr veränderten Anblick des Mädchens, allerdings missfiel ihr die Tasche. Für sie war klar, Naomi hatte ihr erstes Date und da musste alles perfekt sein. Nun es war sicher das erste Mal, dass sie mit einem Jungen ausging, besonders in diesem Aufzug, allerdings um dies als ein Date zu werten, fehlte da eindeutig etwas. Das war der Frau wohl egal, denn irgendwo aus den Kisten, in denen man nicht mehr gekramt hatte, seit man sie gefüllt hatte, war eine doch recht passende Tasche zum Vorschein gekommen. Sie selbst hatte diese schon Jahrzehnte nicht gebraucht und fand Naomi konnte sie gut gebrauchen. Während diese die paar Dinge darin verstaute, die sie für besonders wichtig hielt, mehr Platz war darin nicht, wurde sie noch mit unzähligen Belehrungen überhäuft. Diesen hätte sie wahrscheinlich nicht einmal gelauscht, wenn es wirklich ein Date gewesen wäre, dann immerhin zählte sie sich nicht zu den Unwissenden. Brav bedankte sie sich für alles, eilte dann allerdings zum Bahnhof. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl plötzlich so viele Augen auf sich zu wissen. Normalerweise beachtet sie keiner, zumindest nicht, wenn er nicht musste. Wie ein kleines graues Mäuschen war sie bisher vor den Augen davon geschlüpft. Nun allerdings fühlte sie ihre Blicke auf der Haut, im Nacken und es war merkwürdig. Doch bald würde sie nicht mehr allein sein, der Bahnhof war nicht weit und dann würde sie zumindest schon einmal hören, wohin die Reise gehen sollte. Suchend blickte sie sich nach ihrem Gildengenossen um.

Hatte Naomi ein Date vollkommen ohne romantischen Hintergrund mit dem Dragonslayer, dessen Frauenverschleiß offenbar so bekannt war, dass Naomis Vater davon gehört hatte, ohne den Gegenstand der Debatte je gesehen zu haben? Die Antwort war wohl ein ganz klares Ja, obwohl man es zumindest ihm kaum zutrauen konnte, dass er jemandem eine Freude zu machen versuchte, ohne ihn im Glücksrausch später flachlegen zu wollen. Naomi hatte also etwas an sich, das ihm sympathisch war, denn der Grund, dass er ganz sicher (noch) keinen Plan in diese Richtung verfolgte, war nur ihr Alter, wenig sonst. Er hatte sie irgendwie schon ein wenig gern, was allerdings sicherlich keine Barriere darstellen würde, wäre sie ein wenig älter. Für ihn existierte die Schranke zwischen Freundschaft und gerade körperlicher Liebe nicht oder nur sehr schwach, wahrscheinlich, weil er so wenige Freunde, aber so unglaublich viele Liebschaften hatte. Er machte sich aber auch ehrlich gesagt ungerne Gedanken darüber, was er nun empfand und wie er handeln sollte und erst recht nicht darüber, was richtig und falsch war. Die meisten Dinge tat er einfach so wie seine Intuition ihm das sagte, wenn er denn nicht gerade einen Plan verfolgte. Heute war sein Vorhaben einfach und sowohl rechtlich, als auch moralisch vollkommen legal: Er wollte sich ein Theaterstück ansehen und hatte sich eben eine interessierte und einigermaßen intelligente Begleitung organisiert, deren freundliches Wesen in dieser Hinsicht über ihre körperlichen Mängel hinwegtröstete. Es war viel angenehmer, mit Naomi in ein Theater zu gehen, als mit einer dummen, schnatternden Gans, aber wahrscheinlich dachte Naomi nach dem Aufstand, den er um ihre Garderobe gemacht hatte, dass es ihm nur auf ihr Aussehen ankam, hm? Sie würde schon noch bemerken, dass es so besser war und sie sich dort, wo sie hingingen, ansonsten arg deplatziert vorgekommen wäre.
Während Naomi sich noch von ihrer Nachbarin ausstaffieren ließ, verließ der Dragonslayer gerade seine Wohnung im Dachgeschoss des Hauses, in welchem er sogar unwissend schon als Kind gewohnt hatte und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Mit Ausnahme seiner Haare, deren weiße Spitzen im Wind wirbelten, hatte sich die Dynamik seiner Bekleidung in schlichte Eleganz gewandelt, trug er jetzt nicht nur ein schwarzes Hemd samt Sakko und Anzughose, sondern auch eine matt weiße Krawatte, die natürlich rein zufällig sowohl zu seinen Haaren, als auch zu Naomis Kleid passen würde. Im Revers des anthrazitfarbenen Kleidungsstückes steckte eine Nadel, deren Spitze etwas zierte, das man wohl entweder als halb zusammengefaltetes Flügelpaar in Metall oder als stilisierte Orchidee interpretieren konnte, wahrscheinlich war es eine Mischung aus beidem. Gut gepflegte und wahrscheinlich nicht ganz billige Schuhe verursachten nur leise Geräusche auf dem Pflaster des Bürgersteiges und ganz im Gegenteil zu Naomi machten ihm Blicke aus allen Richtung eher wenig aus. Er war es gewöhnt, dass gestarrt, manchmal sogar getuschelt wurde, vor allem in dieser Stadt, wo er allein durch seine Ausbildung und seine Ziehmutter einen gewissen Ruf genoss, den er sicherlich nicht zur Ruhe kommen ließ. Gäbe es eine Skandalpresse... er würde die Titelseiten sicherlich dauerhaft zieren. Als Naomi ankam - 14 Minuten, bevor ihr Zug ankam - musste er über ihre deutlich sichtbare Unsicherheit schmunzeln. Für sie war es wahrscheinlich etwas vollkommen Neues, wahrgenommen zu werden, auch Seraphim selbst hätte sie einfach übersehen, wenn man ihn damals nicht geradezu gezwungen hatte, sich mit ihr zu beschäftigen. Nun aber konnte sie sich nicht verbergen, nicht den Kopf einziehen und in der Masse unsichtbar werden. "Oi Engelchen~ Wo hast du die denn ausgegraben?", säuselte er mit Blick auf die Handtasche des Mädchens, die ihm zuvor nicht aufgefallen war und musterte sie einmal kurz, lächelte, blickte zum Anzeiger hinauf. Ein wenig würden sie noch warten müssen, weswegen er kurz in die Innentasche seines Jacketts griff, um sicher zu stellen, dass sowohl die Eintrittskarten, als auch die Zugfahrkarten sicher verstaut waren. Sie waren noch da, also mussten sie nur noch die Zeit herumbringen, bis der Zug kam. Er hatte da auch schon eine Idee... "Wo, meinst du, fahren wir hin, hm?", fragte er mit amüsierter Miene, ein wenig gespannt darauf, was sie wohl schätzen würde.

In der Tat, neu und unangenehm, doch als sie den Dragonslayer zwischen den Menschen ausmachen konnte, erleichterte sich ihr Herz. Mal davon abgesehen, dass er wahrscheinlich gerade noch besser aussah als vorher, hatte sein Anblick sie bisher immer erfreut. Es bedeutete, dass sie bald wieder in der Begleitung eines Magiers war, der ihr viel bedeutete, mit dem sie schon einiges erlebt hatte und nun verschleppte er sie irgendwo hin. Seine erste Frage traf auch sofort ins Schwarze. Leicht musste sie grinsen und blickte zu diesem komischen Handtäschchen: "Nun, eine Nachbarin hat sie mir aufgeschwatzt." Ihre Augen wanderten an ihm hoch und runter, erfassten auch das kleine Nädelchen an seiner Tasche und ob es Absicht war, dass die Krawatte zum Kleid passte? Naomi hatte davon eh keine Ahnung, deshalb kümmerte sie sich nicht weiter darum. Allerdings schien es, als hätten sie noch einiges an Zeit, denn ihr Begleiter schien keinen Grund zur Eile zu sehen, nein er schien sogar lieber noch ein Spielchen mit ihr spielen zu wollen. Leicht seufzend betrachtete sie den Fahrplan, es konnte quasi überall hingehen, nun okay Dörfer und dergleichen konnte sie fast ausschließen, immerhin waren dies keine Kleidungsstücke für eine Wanderung. Dennoch gab es ein paar mehr Städte, die zur Auswahl standen. Gut Oak Town schloss sie einfach vom Gefühl er schon mal aus, diese triste Stadt wollte sie selbst so bald nicht mehr sehen. In Magnolia war sie selbst schon öfter gewesen, weil es dort eine recht große Bibliothek gab, dort hatte sie auch eines ihrer wahrscheinlich größten Abenteuer erlebt, gemeinsam mit Magiern der Gilde Fairy Tail. Allerdings wüsste sie nicht, was den Magier dort hin verschlagen sollte und das auch noch in diesem Aufzug. Dann gab es noch die heißen Quellen in Hosenka, aber auch dafür waren die Kleider nicht angemessen. Ihr Kopf war genau so schlau wie vorher, als sie zu Seraphim zurückkehrte. "Nun mal stark davon ausgehend, dass wir in kein Dorf fahren, würde ich sagen in eine der anderen größeren Städte, allerdings kann ich mir nicht genau vorstellen in welche", meinte sie und sah sich um. Es war schon ein wenig merkwürdig, dass sie gemeinsam unterwegs sein würde in diesem Aufzug. Wieso konnte er es ihr nicht einfach sagen? Nun das war wohl ein Teil seiner Persönlichkeit. "Magst du es nicht verraten, bitte?", sie blickte ihn mit großen Augen an und hoffte, dass er vielleicht irgendwas verraten würde. Es war schon komisch, dass sie mit ihm immer wieder in solche Situationen kam, in denen sie sich eigentlich doch gut behütet fühlte und nicht wie das Oberhaupt einer Familie.

Naomi hatte irgendwie etwas von einem kleinen, süßen Hündchen, das man gerne neckte, weil es so putzig darauf reagierte, einem aber nicht böse wurde. Dass der Dragonslayer auch dazu neigte, diejenigen zu mobben, die drollig reagierten und ihn daraufhin hassten, war ja schon lang und breit bekannt, aber es stimmte eben auch so herum, zumindest mal im Falle Naomis. Deswegen lächelte er ganze zehn Minuten nur ein breites, in diesem Zusammenhang sicherlich gemeines Lächeln, so lange, bis der Zug in den Bahnhof einfuhr und die beiden einstiegen. Er hatte nicht einmal den Kopf geschüttelt, um ihr zu verdeutlichen, dass er es noch nicht verraten würde, aber fairerweise hatte er auch nicht vor, es viel länger geheim zu halten - er wollte nur warten, bis sie beide in einem Abteil saßen und er etwas mehr Spielraum für die Inszenierung der Auflösung geben konnte. Es war ja langweilig, ihr erst nichts zu verraten, um dann im Nebensatz zu erwähnen, dass sie dem wahrscheinlich berühmtesten Theater des ganzen Landes einen Besuch abstatten würden, nein... da musste schon eine bessere Gelegenheit her, als es auf einem Bahnsteig zu erzählen. Traurigerweise war Naomi ein vierzehnjähriges Mädchen, sonst hätte er gleich mehrere Ideen an der Hand, aber wenn er es nicht übertrieb, konnte er sie einfach auch verwenden. Mit einem nebensächlichen "Da ist besetzt!", verscheuchte er einige Fahrgäste aus dem kleinen Vier-Personen-Abteil, das er glücklicherweise in freiem Zustand erspäht hatte, die Hand auf dem Sitz neben ihm. Erst als sie mit enttäuschtem Gesicht abgezogen waren, setzte er sich neben Naomi und lupfte die seltsame Handtasche auf das gegenüber liegende Sitzpaar. So könnte man annehmen, dass tatsächlich mindestens eine Frau dort saß, aber wahrscheinlich für besonders lange Zeit auf dem WC verschwunden war, scheinbar mit der zweiten fehlenden Person… auch wenn Cyrus sich sicher war, dass es angenehmere Orte für so etwas gab, als eine Zugtoilette.
Als das so weit erledigt war, drehte er sich halb zu dem Mädchen um, lächelte erneut und griff währenddessen in die Innentasche seines Jacketts, um zwei nur noch durch eine perforierte Kante zusammen gehaltene papierne Karten aus ihr hervorzuziehen. Dass es Eintrittskarten zu irgendetwas waren, sollte schon im ersten Moment offensichtlich sein, aber zu was... "Wir...", meinte er, noch immer mit der Hand ganz bewusst verdeckend, wohin sie sich begeben würden, "fahren nach Marokkasu Town." Es war schwer zu beschreiben, aber irgendwie machte es Spaß, die Spannung noch ein paar Momente länger zu halten, wie ein Weihnachtsmann, der kurz wartete, ehe er ein besonders großes Geschenk aus dem Sack zog. Das war insofern seltsam für ihn, als dass er sonst eigentlich eher weniger dazu neigte, besonders nett zu Kindern zu sein und darauf zu warten, dass sie sich freuten, aber gerade war es ganz lustig. "Und wenn wir da sind, gehen wir ins Theater!" Die Karten schwenkten nun in Naomis Blickfeld, wurden auf ihren Schoß geworfen, begleitet vom Grinsen des jungen Mannes, der auf eine Reaktion wartete. Selbst wenn Naomi weder der Name des Stückes (Mitternachtswachen), welches wunderschön oder der Name des Theaters (das Kyugito Theatre), welches wahrscheinlich das renommierteste Schauspielhaus in ganz Fiore war, nichts sagte, so würde doch zumindest die Nachricht, dass es in ein Stück gehen würde, positiv aufgenommen werden, oder?

Er wollte nichts sagen, auf seinen Lippen lag ein Grinsen, wie bei einem Pokerface und sie wusste, es würde nichts über seine Lippen kommen. Also wartete sie, mehr oder weniger geduldig darauf, dass irgendwas passierte. Die Minuten verstrichen und dann fuhr ein Zug ein. In diesen Stiegen sie ein und charmant wie immer räumte Seraphim ihnen ein Abteil leer, damit sie ihre Ruhe hatten. Es war wirklich etwas Neues nicht in einem Großraumabteil zu sitzen, wo gierige Blicke sie verfolgten. Nun saßen sie nebeneinander und ihre Tasche hatte er auf den Sitz gegenüber geworfen, wahrscheinlich, damit sich keiner darauf setze. Immerhin wollte sie gerne wissen, was denn nun los war und wohin sie genau fuhren und endlich schien er auch gewillt zu zeigen wohin. Zumindest griff er in seine Tasche und zog etwas heraus. Waren das vielleicht, Karten? Ja, es sah so aus, aber wofür? Marokkasu, was gab es in dieser Stadt? Naomi hatte keine Ahnung, immerhin war sie nicht so bewandert, aber dann sagte er, dass sie ins Theater gehen würden. Ihre kleinen Augen wurden groß, und als er ihr die Karten in den Schoß war, blickte sie fast andächtig darauf. Es kostete sie einiges an Selbstbeherrschung, nicht aufzuspringen und sich überschwänglich zu freuen. Ihr Herz flatterte, wie ein Drachen im Wind als sie ihm vorsichtig die Karten wieder in die Tasche schob, um ihn dann anzustrahlen. "Das ist ...", sie wusste nicht, was es war, es war einfach unglaublich. Ohne Worte eigentlich fantastisch. So sehr, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Ihr blieb quasi die Luft weg. "Danke", sie hatte sich fast automatisch an ihn gedrückt und ihm einen Kuss auf die Wange platziert. Wahrscheinlich war ihm das nicht so recht, wie es ihr gerade war, aber eigentlich hätte er dies ahnen müssen. Kleine Tränen der Freude rannen aus ihren Augen und benetzten auch seine Wange, da sie immer noch nicht von ihm abgelassen hatte. Es war wundervoll, es war mehr als das. Wahrscheinlich das größte Geschenk, was sie je bekommen hatte und von allen wahrscheinlich auch das schönste. Da sie allein im Abteil waren, musste sie sich nicht darum sorgen, dass vielleicht jemand kam, um ihr diesen Moment zu verderben. "Danke Seraphim-sama", die Tränen waren inzwischen wieder trocken, immerhin war es nur dieses Glücksgefühl, welches in ihr hochgeschäumt war, "Das ist wirklich eine wunderbare Überraschung." Sie lockerte ihren Griff um ihn und entschuldigte sich, wahrscheinlich hatte es ihm nicht wirklich wehgetan, aber es konnte immer noch Unbehagen bereiten. Ihr Herz raste noch immer, aber sie selbst beruhigte sich so langsam. Ein wundervoller Abend stand ihr bevor mit ihren besten Freund an der Seite, was könnte sie glücklicher stimmen? Nun sicher gab es einige Dinge, die sie glücklich machen würden, aber dieser Abend war ein kleines Wunder für sie und tief in ihr war Zufriedenheit eingekehrt. Hoffentlich nahm sich das Schicksal für diese Freude nicht allzu bald das Recht auf ein ebenso negatives Echo, das könnte fatale Folgen haben, aber wenn sie nur ahnen könnte, dann würde sie sich darum nicht sorgen.

Er hatte auf eine freudige Reaktion gehofft, das gab er gut und gerne zu, er hatte darauf gewartet, sich vielleicht einmal mit jemandem zu freuen, statt über sein Elend, aber die Heftigkeit ihrer Antwort traf ihn dennoch in gewisser Weise unvorbereitet. Zum Beispiel hatte er nicht erwartet, dass sie ihm halb auf den Schoß hüpfen und ihm ihre Lippen ins Gesicht drücken würde, was ihn einen Moment lang erstarren ließ. Zugegebenerweise war es nur eine Frage von Millisekunden, ehe er sich wieder fing, denn er war es durchaus gewöhnt, dass man ihn küsste, allerdings eher nicht von einem Mädchen, von dem er nichts wollte... also musste er erst einmal kurz überlegen, wie er darauf reagieren sollte, irgendeine Idee würde ihm schon noch kommen. Nicht, dass es irgendwie unangenehm wäre oder so, nein, das in keinem Falle - Cyrus mochte Körperkontakt mit warmen Wesen generell sehr gerne. Vielleicht lag es daran, dass seine Ziehmutter eher hart und kühl als weich und warm war und er als Kind das ein wenig gemisst hatte, vielleicht auch nicht. Er lächelte schließlich einfach und ließ ihre etwas ruppige Zärtlichkeit ganze fünf Sekunden über sich ergehen, ehe er sie mit sanfter Gewalt wieder auf Abstand brachte. "Keine Ursache - ich dachte , wo du doch sagtest, du würdest so etwas auch lesen..." Doch, das war schon okay. Es war in Ordnung, wenn man sich unter Freunden eine Freude zu machen versuchte und zudem hatte Naomi ihn zum Essen eingeladen, auch wenn sie und ihr Ziehvater nicht gerade viel zum leben hatten. Naomi als eine Freundin zu betiteln stimmte wahrscheinlich sogar, auch wenn Cyrus nicht schnell wirklich Freundschaften schloss. Um mit jemandem so etwas aufzubauen, brauchte es Respekt und eine Zeit, in der man sich wenig zu schulden kommen ließ, beides wurde von ihm nicht zur Verfügung gestellt: Dem jungen Drachenzögling mangelte es generell an der Fähigkeit, anderen Ehrerbietung entgegen zu bringen, er spielte immer mit ihnen, auch wenn er dabei sehr höflich sein konnte, blieb eine gewisse Portion Spott über - und dieser Hohn zerstörte meist recht schnell eine freundliche Annäherung an ihn. Naomi wiederum hatte sich erstaunlich resistent gegen seine Art gezeigt und sie toleriert, zudem war sie ein so zuckersüßes Wesen, dass man sie gar nicht nicht mögen konnte... dem hatte wohl auch Cyrus wenig entgegen zu setzen gehabt. Er war eigentlich ganz zufrieden, dass es sie freute, auch wenn es ihn wunderte, dass er an etwas so wenig egoistischem Spaß haben konnte.
Schicksal? Was das Schicksal vorhatte, konnte man vorher nie sagen, vor allem nicht bei Cyrus. Viele behaupteten gerne, er sei ein Günstling des Schicksals, weil ihm alles in den Schoß fiel, andererseits war sicherlich nicht nur durchgängig positives in seinem Leben zu finden - zudem machte er sich gerne Feinde. Mal sehen also, ob ihnen noch jemand begegnen würde, den man zu diesen zählen konnte - oder ob diese Zugfahrt und das darauf folgende Theaterstück entspannend sein würden.

Fünf Sekunden, mehr ließ er ihr nicht an Nähe zukommen, bis er sie zurück auf ihren Sitz drückte. Vielleicht hätte sie ihre Freude doch ein wenig zügeln sollen. Irgendwie hatte sie das untrügliche Gefühl, das sie gerade alles verdorben hatte, der Moment hätte sicher um einiges schöner werden können, wenn sie ihm einfach von Herzen gedankt hätte. "Ja, es war wirklich eine wundervolle Idee, das Stück. Vater las es mir vor etwa neun Jahren vor, weil er keine Kinderbücher im Haus hatte", sie grinste leicht und strahlte ihn freudig an. Alles im Leben kehrte zu einem zurück. Dennoch wusste das Mädchen nicht, was es nun tun sollte. Bisher hatte sie bei Zugfahrten immer auf seinem Schoß gesessen und seinem Herz gelauscht. Ein wunderbares Geräusch zu fühlen und zu hören, wie der Mensch, dessen Wärme man gerade am ganzen Körper spürte, lebte. Ruhe, die sie dabei einwickelte, ganz egal wie laut es im Abteil war, das Buch was er las vor ihr aufgeklappt, gelegentlich las sie darin mit, auch wenn sie meist weder den Anfang noch das Ende zu sehen bekam. Doch diese Bücher waren ihr Schirm, ein Sichtschutz vor den hungrigen Augen derer, die nach ihrem Platz eiferten. Doch diesmal war alles anders. Sie waren alleine hier, sie saß nicht auf seinem Schoß, nein er hatte sie sogar davon entfernt und er las auch nicht. Die zwei Magier waren auch nicht auf dem Weg einen Auftrag zu erfüllen, nein, sie würden ein Theater besuchen. In der Spiegelung des Fensters konnte sie sich sehen, so anders, so fremd schien ihr das Mädchen, welches neben dem hübschen jungen Mann saß. Erneut diese Tatsache, dass diese feinen Kleider nicht zu ihr passten. Leise seufzte sie und starrte aus dem Fenster. Nicht nur, dass ihr gerade mulmig wurde, bei dem Gedanken, dass alles ein bisschen falsch aussah, weil sie alles so falsch anfühlte. Nein es störte sie auch, dass heute alles so anders war als sonst. Der Mensch ist ein Gewöhnungstier, und wenn er an etwas gewohnt ist, dann will er es beibehalten. Doch während Naomi die Landschaft vorbeifliegen sah, im dunklen Schatten der Nacht, wurde ihr klar, dass sie noch nie die Landschaft betrachtet hatte, zumindest nicht so, dass sie diese wahrgenommen hätte. Nun hatte sie wohl genug Zeit, um sich diese Landschaft anzusehen, dennoch reizte es sie nicht gerade. Sicher konnte das blonde Mädchen sich an Pflanzen erfreuen, doch wenn sie so schnell vorbei rauschten, wie sollte man sie genießen, wenn man sie weder riechen noch anfassen konnte. Wo sie gerade bei Geruch war, atmete sie tief ein und bereute es so gleich. Es war auch nicht der übliche Duft von Frühlingswind, der ihr in der Nase kribbelte, nein eine Mischung aus muffigen Polstern und Staub. "Haaatschi!", sie hatte die Hand vor die Nase gehalten, weswegen sie diese kurz darauf penibel mit einem Taschentuch und etwas Wasser aus einer Flasche säuberte. Es war nicht schade um das Wasser, es stammte aus dem Hahn in der Spüle. Als sie alles wieder in der Tasche hatte, legte sie die Stirn an die Scheibe und starrte weiter hinaus. Schweigen, normalerweise nichts Schlechtes. Oft, wenn sie mit Seraphim unterwegs war, schwiegen sie, doch dieses Mal, da störte es sie, dass sie absolut nichts hörte, wie schon so oft erwähnt, dieses Mal, war alles anders.