Es gab zwei Arten von Dingen, die einen bedrücken konnten: Bei der ersten Sorte erleichterte man sich gerne bei Freunden und fühlte sich danach und dabei richtiggehend lebendig, weil man den ganzen Dreck, der sich in einem angesammelt hatte, endlich loswurde. Es brauchte nicht viel Überredung, um jemanden ein solches Problem erklären zu lassen, weil die positiven Konsequenzen daraus jegliche negativen mit Sicherheit überwiegen würden. Seraphim allerdings sah sich hier einer anderen Hausforderung gegenüber, die eindeutig zur zweiten Sorte zählte: Nicht nur sträubte sich alles in ihm dagegen, mit der Wahrheit, der ganzen, vollen Wahrheit, herauszurücken, er war sich auch nicht einmal sicher, ob ihm die Aussprache seines Problems auch nur irgendwie weiter helfen würde. Eher noch wurde er von der Vorstellung geplagt, dass ihn ein Bekanntwerden dieser Sache schwach erscheinen lassen würde, verletzlich und genau das, was er auch vor Souta nicht sein sollte: Der Kettenmagier hatte Recht in der Annahme, dass der Dragonslayer etwas dagegen hatte, wenn man seine Männlichkeit unterbutterte und auch wenn er eigentlich wusste, dass der Kettenmagier mögliche Zusatzinformationen über ihn weder weitergeben, noch gegen ihn verwenden würde, gab es etwas in ihm, was sich mit aller Macht dagegen sperrte. Aller Wahrscheinlichkeit nach war es Scham, die seinen Mund geschlossen hielt, eine Regung, die ihm ansonsten vollkommen fremd war und mit der er deswegen auch schlecht umgehen konnte. In diesem Fall saß sie zudem so tief, beinahe in seinem Unterbewusstsein vergraben, dass ihm allein bei dem Gedanken, Soutas Frage wahrheitsgemäß zu beantworten, genauso schlecht wurde, wie bei der Erinnerung selbst. Diese Tatsache ließ ihn durchaus daran zweifeln, ob er dem Kettenmagier überhaupt wirklich vertraute und ob man jemanden lieben konnte, wenn dieses absolute Vertrauen nicht gegeben war. Offenbar gab es einige Dinge, die solche Paradoxe möglich machten und eines davon bäumte sich in einer kurzen Sequenz in seinem Inneren auf und veranlasste ihn dazu, kurz die Augen zu schließen, um die Bilder mit aller Kraft zu unterdrücken. Ahnte Loire, was er den Weißhaarigen durchleiden ließ oder war dies nur purer Zufall und eine für ihn selbst negative und ungeahnte Nebenwirkung? Hatte er nicht einst behauptet, der Dragonslayer habe alles Übel der Welt verdient und würde das nicht dafür sprechen, dass er sich seiner Wirkung durchaus bewusst war? Seraphim hätte diesen Mann zerfetzen mögen, weil seine bloße Präsenz ihn lähmte und in einem ungewünschten Strom aus Erinnerungen ertrinken ließ, während er hilflos versuchte, dagegen anzukämpfen und sich vor allem nichts anmerken zu lassen. Er hatte bemerkt, dass Souta Lunte gerochen hatte und er hätte gerne vermieden, dass genau die Frage auf dem Tisch landete, die gerade darauf erschienen war. Bei ihrer letzten Quest in Morakkasu Town hatte der Kettenmagier erklärt, dass er mit einer unangenehmen Wahrheit besser leben konnte als mit einer Lüge und sich danach mit einer Erläuterung von Seraphim zufrieden gegeben, die des Pudels Kern nur ankratzte. Damals hatte er ihm die Geschichte abgenommen, dass Loire ihn als er noch jünger und unerfahrener gewesen war, verprügelt hatte, weil er seinen Neffen hatte verführen wollen, aber nun schien er Zweifel an dieser Version zu haben. Sie waren berechtigt, wenn man bedachte, dass man Seraphim mit so etwas weder verstören, noch ernsthaft schaden konnte, weil er gegenüber körperlicher Gewalt zumindest psychisch relativ immun war. Verletzungen dieser Art heilten besonders gut, wenn man einen Heildrachen bei der Hand hatte. Und nun hatte er es offenbar verbockt: Zwar war er den Schwarzhaarigen für den Moment los, aber dafür hatte er nun eine protektiven Augenklappenträger am Hals, dem er gerade nicht in das verbliebene Auge gucken konnte, weil er sich dafür schämte, dass er sich nicht traute, ihm einfach den Wunsch zu erfüllen und offen zu ihm zu sein. Seit wann machte er sich wegen so etwas Sorgen… das ganze zerrte wirklich an seinen Nerven.
"Das habe ich dir doch schon gesagt, Souta.", meinte er deswegen mit sanfter Stimme, weil er glaubte, dass die Bockigkeit, die gerade in ihm aufquoll, im Moment antiproduktiv wäre, "Er hat mich daran gehindert, seinen Neffen flachzulegen. Luca Loire, niedlicher Bursche..." Er seufzte und riss sich danach hart am Riemen, schluckte die unkontrollierte Flut an unerwünschten Emotionen herunter und atmete tief durch. "Alles klar. Wir sollten uns umsehen, um uns ungefähr des Gebiets bewusst zu werden, das wir überwachen sollen. Ich würde das ungefähr wie bei dem Kreuzfahrtschiff aufziehen und uns einen erhöhten Punkt suchen, von dem aus wir nahende Gestalten besser erkennen können." Zwar würde sicherlich niemand vor Einbruch der Dunkelheit einzubrechen versuchen, aber er redete das sowieso gerade nur so daher, weil ihm dieses Thema bedeutend lieber war. Es brachte ihn dazu, über etwas anderes nachdenken zu können, was ihm gerade mehr als gelegen kam.

Eine von Soutas herausragendsten Qualitäten war vermutlich seine Hartnäckigkeit. Manche Leute nervte genau dieser Charakterzug an ihm ohne Ende, aber man durfte wohl mit Fug und Recht behaupten, dass der Rothaarige grundsätzlich nicht aufgab und schon gar nicht leicht unterzukriegen war. Erstens einmal war es fast unmöglich, ihn in irgendeiner körperlichen Disziplin zu besiegen, dann war er auch noch clever und zum Schluss blieben immernoch seine unübertrefflichen Verführungskünste, denen sich nur die wenigsten entziehen konnten. Zusammen mit einer sehr niedrigen Hemmschwelle waren das die besten Eigenschaften, um genau das zu bekommen, was man sich ins Auge gefasst hatte. Das Einzige, was er absolut nicht beherrschte war subtiles Vorgehen. Souta lief viel eher mit dem Kopf durch die Wand, bevor er ewig nach einer Tür suchte und man musste zugeben, dass seine neue Waffe diese Tatsache nicht unbedingt verändert hatte. Stundenlang konnte er sich mit der Zauberklinge nach draußen stellen und Felsen spalten, mit einer Genugtuung, die nicht einmal ein Boxsack ihm bieten konnte, und so ein Ding wollte er sich schon länger in die Wohnung hängen. Abgesehen davon hatte er auch einen kleineren Umbau ins Auge gefasst, doch das tat jetzt nichts zur Sache ... Deutlich interessanter war der Kern dieser Beispiele: Souta war kein Aufgebertyp. Wenn er etwas in seinem Kopf hatte, dann würde er auch beinahe alles dafür tun, genau das zu erreichen. Zwar hatte er vielleicht etwas mehr moralische Grenzen als der kaltblütige Killer von nebenan, doch das war auch nur subjektiv so ... Er vergoss kein Blut, aber das bedeutete nicht, dass er lautere Mittel anwandte. Souta wusste natürlich, dass er bei Seraphim am Effektivsten war, wenn er einen von zwei Knöpfen betätigte, die den Weißhaarigen ankurbelten wie so einen kleinen Affen mit aufeinanderschlagenden Becken, der lustig seine Bahnen drehte, die nur auf dem ersten Blick willkürlich waren. Entweder er spielte seine Körperkarte aus und verlor zufällig irgendein Kleidungsstück oder machte irgendwelche zweideutigen Andeutungen. Er nutzte dies gerne aus, weil keinem von beidem damit geschadet wurde und man diese Strategie ausgezeichnet dazu verwenden konnte, um von einem ihm betreffendem Problem abzulenken, wenn man beispielsweise schreiend oder gar schluchzend aufwachte ... Außerdem konnte man viel eher die Zustimmung einer anderen Person einholen, wenn sie ruhig und zufrieden war.
Auf der anderen Seite konnte Souta allerdings auch seine emotionale Seite heraufbeschwören und betonen, wie wichtig es für ihn als Person war, wenn dies und jenes geschah, wie sehr es ihn verletzte, wenn andere Dinge nicht getan wurden, all soetwas. Seraphims Bestreben, dem Kettenmagier Glück und Wohlergehen zu bringen wurde von dem Rotschopf schon von Anbeginn ihrer engeren Freundschaft ausgenutzt, allerdings nicht mit bösen Absichten. Wenn er nichts zu essen im Haus hatte, dann ging er eben nach oben und jammerte über seinen knurrenden Magen, bis er sich am Kühlschrank des Älteren bedienen durfte. Wenn er sich verletzte, war das in etwa daselbe Spiel und wenn er sich schlecht fühlte und nichts Anderes tun wollte, als sich in eine Decke zu wickeln und sein Körpergewicht in Eiscreme zu vertilgen, war da auch immer ein abgewetztes Sofa, das ihn gastfreundlich empfing. Souta war glücklich mit der Lage der Dingen, aber manchmal wünschte er sich auch, etwas mehr zurückgeben zu können. Doch das klappte eben nur, wenn man ihn auch ließ ...
Seraphim baute Mauern. Er lenkte ab, laberte über ihre Quest und war sofort wieder Mr. Perfekt, aber Souta überlegte gerade ernsthaft, ob er nicht vielleicht damit beginnen sollte, nun zu erklären, dass es ihm wehtat, wenn es doch so offensichtlich war, dass da mehr im Busch war und der Himmelsmagier immernochnicht darüber reden wollte. Gerade dann, wenn man sich vor Augen führte, dass Souta ihm beinahe alles über sich erzählt hatte, zumindest jene Momente in seinem Leben, in denen er sich am schwächsten gefühlt hatte und die ihn noch bis heute prägten, während er von Seraphim eigentlich erstaunlich wenig wusste ... Seltsam, dass die Liebe zwischen ihnen jedoch mit Schlagseite zum Dragonslayer ausfiel ... Na ja. Er dachte darüber nach, doch er entschloss sich, nicht nachzubohren. Vorerst. Wenn er richtig verstanden hatte, was der Ältere da von sich gab, dann hatte er ihnen vorgeschlagen, sich einen Punkt zu suchen, von dem aus sie die Umgebung ideal im Blick hatten. Das bedeutete natürlich, dass sie dort Wache schieben mussten und was durfte man nicht tun, wenn man Wache schob? Richtig, einfach abhauen. Seraphim war es also über alle Maßen wichtig, dass er diese Quest ordnungsgemäß erledigte, ja? Er musste sie sogar über Soutas Sorgen stellen, nun gut, dann würde er sich dem Willen fügen und abwarten, bis sie an ihrem Aussichtspunkt angekommen waren und er eingekesselt war, bis er ihn bedrängen würde. Womöglich schnitt sich der Andere mit seinem Perfektionismus ja selbst ins Fleisch, denn wenn man mal ehrlich war, hätte diese Ablenkung auch nicht mehr offensichtlicher sein können. Hatte er schon vergessen, dass er sich mit dem Meister des “Ach nicht so wichtig” unterhielt? Souta verharrte einen Augenblick in einer nachdenklichen Position, nickte dann jedoch und machte einen ziellosen Schritt durch den Gang. “Verstehe. Vielleicht können wir ja noch in der Küche vorbeischauen, wenn wir schon dabei sind? Ich kriege immer Hunger, wenn ich Hasenfutter esse” Das Letzte sagte er mit einem Lächeln, schob die Gedanken zunächst einmal in seinen Hinterkopf, wo sie jedoch nicht verstauben, sondern lauern würden. “Weißt du, was ich mich frage? Es gibt jede Menge reiche Leute in der Hauptstadt – wieso sollte man ausgerechnet hier einbrechen? Es gibt nichtmal Pläne des Gebäudes, jeder Dieb, der sich hier etwas schnappen will, geht vollkommen blind vor. Ich an deren Stelle würde mir einen Insider besorgen ... Aber auch dann müsste ich einen verdammt guten Grund haben, dieses Risiko auf mich zu nehmen.”

Seraphim war dankbar dafür, dass Souta nicht weiter fragte und konzentrierte sich stattdessen mit aller Kraft auf die andere Frage, die ihm gerade gestellt worden war und die nichts mit vergangenen Erlebnissen, sondern mit gegenwärtigen Komplikationen zu tun hatte. Das war ein Thema, mit dem er sich gerade viel lieber beschäftigte, weil es seine Gedanken weit von anderen Dingen ablenkte und ihm Zeit gab, diese wieder sorgfältig unter den Teppich zu kehren. Eigentlich konnte er das ja ganz gut, aber es verkomplizierte sich doch, wenn der Schmutz Beine und Klauen entwickelt hatte und sich alles wünschte, nur nicht unter einen Vorleger verfrachtet zu werden. Es kam ihm vor, als sträubten sich manche Details länger als andere, sein Bewusstsein zu verlassen, doch schließlich waren auch sie verschwunden und alles was blieb, war ein sehr schlechter Geschmack auf seiner Zunge, von dem er sagen konnte, dass er Einbildung sein musste. Souta fragte, ob sie sich mit Essbarem eindecken konnten und er lächelte nachsichtig. Dieses Verhalten wäre zwar höchst unprofessionell, aber andererseits war es eben der Kettenmagier, der dies vorgeschlagen hatte und für ihn war diese Forderung doch gerade noch nett verpackt gewesen. Der Stoffwechsel des Rothaarigen arbeitete einfach so rasant, dass er einfach immer Hunger hatte, was, gepaart mit einer Tendenz dazu, knatschig zu werden, wenn er Hunger hatte, sehr zuverlässig dafür sorgte, dass man ihm einen Kanal schaffen musste, über den er sich ernähren konnte. Es war eben nicht möglich, dass er sich wie Seraphim selbst von Wind ernährte, aber sonst hätte die Menschheit sicherlich bald das Problem, dass er ihr nicht nur die Haare vom Kopf, sondern auch den Sauerstoff aus der Luft wegfraß. "Hoffst du auf noch eine hübsche Dame?", fragte er mit neckender Stimme und dachte daran, wie er die Brünette angestarrt hatte. Es lag ein großer Unterschied zwischen der Art, mit der der Kettenmagier jemanden wie sie und ihn anblickte, auch wenn er doch mit ihm und nicht mit ihr zusammen war. Wenn es eine Sache gab, die ihn an ihrer Beziehung störte und regelmäßig mehr verunsicherte, als er jemals zugegeben hätte, war die einfache Tatsache, dass er sich unter all den Menschen von Fiore jemanden ausgesucht hatte, der ihn nicht attraktiv fand. Normalerweise war das sein Hauptvorteil im Werben um die Gunst von jemandem, eine Konstante, auf die er immer bauen konnte, doch bei Souta... war das eben komplett anders. Er vermisste es ein wenig, dadurch Einfluss auf ihn nehmen zu können und es hätte ihn vielleicht in seinen Handlungen eingeschränkt, wäre er diese Tatsache in entsprechenden Situationen nicht verdrängen würde. Es war dem Dragonslayer wirklich egal, wie sehr der Kettenmagier Frauen wegen ihres Körpers anhimmelte, er wünschte sich nur manchmal, dass er selbst wenigstens einen Bruchteil davon bekommen würde - aber man konnte wohl nicht alles haben.
Ebenso hatte Souta die Frage gestellt, die eigentlich vollkommen ersichtlich war. Wahrscheinlich hatte er selbst sie sich noch nicht gestellt, weil er einfach mit anderem zu kämpfen gehabt hatte, aber logisch war sie dennoch trotz allem: Warum ausgerechnet dieses Haus und warum hatte der Kerl dieses Amulett so besonders hervorgehoben? Loire kam ihm in dieser Hinsicht nicht wie ein besonders emotionaler Mensch vor. So weit er das einschätzen konnte, klammerte er nur an seiner Familie und beschützte diese vor allem Schlechten, aber es wunderte ihn, dass er irgendwie an einem Ding hängen würde... "Ich glaube nicht, dass er uns die volle Wahrheit gesagt hat, Souta-chan...", mutmaßte er deswegen nach einer kurzen Pause, "Aber solange wir keine anderen Informationen haben, müssen wir uns nach dem richten, was wir wissen. Die Zeit, um eigene Nachforschungen anzustellen, haben wir nur bedingt, also..." Sie waren bei der Haustür angekommen und der Dragonslayer glitt hindurch, ehe er sich zu Souta umdrehte und ihm schließlich seine Arme um die Hüfte schlang. Mit Leuten zu fliegen war immer ein guter Grund, ihnen näher zu kommen. Er stieß sich vom Boden ab und drehte eine Runde um die Villa, ehe er sie auf der Spitze des höchsten Dachvorsprungs absetzte. Fehlte nur noch, dass ihm braunes Fell wuchs und er Flugzeuge abklatschte, auch wenn er sich nicht sicher war, inwiefern Souta das Klischee einer weißen, entführten Dame erfüllte. Um das Essen des Einäugigen konnte man sich sicherlich auch später noch kümmern.

Unter Umständen könnte Seraphim mit seiner wohl eher spöttisch gemeinten Frage durchaus Recht haben: Im Moment wäre es dem Rotschopf wahrscheinlich tatsächlich lieber gewesen, wenn er statt eines unter Stimmungsschwankungen leidenden Himmelsmagiers eine hübsche Frau bei sich gehabt hätte. Bei einer solchen hatte er nicht nur einige Dinge, an denen er sich feststarren konnte, sondern auch nicht zwingend die Aufgabe, Konversation zu machen. Es war irgendwie schwer mit dem Älteren zu reden, wenn man nicht gerade Alltägliches auf den Teller brachte, weil er nun einmal nicht jeden an sich heranließ. Bei Frauen hatte er nicht das Problem. Omas und andere Großmütter hatten an ihm grundsätzlich einen Narren gefressen, weil Souta ja eigentlich ein von Grund auf anständiger Kerl war oder diesen wenigstens sehr gut spielen konnte und alles zwischen “gerade so legal” und “Puma” lag ihm sowieso zu Füßen. Ein ordentliches Gespräch und die Macht seines smaragdgrünen Auges und Souta wusste die intimsten Geheimnisse jeder Frau jedenfalls war es bisher immer so gewesen. Ganz abgesehen davon fand er das weibliche Geschlecht nun einmal attraktiv. Er mochte in einer Beziehung mit einem Mann sein, aber das bedeutete nicht, dass er wie aus heiterem Himmel von einem regenbogenfarbigem Strahl getroffen wurde, der ihn sexuell umgepolt hatte. Seraphim war sehr gut auf seinem Gebiet und es machte Souta nun einmal in gewisser Hinsicht Spaß, was er so mit ihm anstellte, wieso sollte er das also nicht genießen dürfen? Er würde sicherlich niemals irgendwelchen Kerlen hinterhergaffen, wenn diese nicht einen absolut heißen Feger am Arm spazieren führten. So war das nun einmal und daran würde sich auch so schnell nichts ändern, deshalb machte es eigentlich gar keinen Sinn, sich über diese unumstößliche Tatsache zu grämen. Worüber man sich schon eher aufregen konnte war Seraphims Ignoranz seinem Essenswusch betreffend, der ernst gemeint war, auch wenn er es wie einen Scherz gesagt hatte. Im Moment konnte sich der Kettenmagier nicht ganz entscheiden, ob er nun froh darüber sein sollte, dass der Weißhaarige wieder voranschritt und dabei das Ruder an sich riss, weil das Souta aus der Verantwortung entfernte, die er ja wie bereits erwähnt nur ungerne trug, oder ob er nun zerknirscht sein sollte, weil der Apfel das vorläufig Letzte sein würde, was er essen würde ... Wohl eher das Erste, denn das brachte ihn deutlich näher an seinen diabolischen Plan, Seraphim irgendwo festzunageln. Spätestens, als die Haustüre zu ihrem Ziel auserkoren wurde, wusste der Rotschopf dann auch, wieso er nichts zu essen bekommen hatte, denn plötzlich drückte sich ein Körper gegen den Seinen und ignorierte mal eben so sämtliche physikalischen Gesetze, um sich königlich in die Lüfte zu schwingen. Souta fand, dass sie etwas von einem tanzenden Paar hatten, so wie der Andere seine Hüfte umschlungen hatte und er ihm die Arme auf die Schultern legte, um sich daran festzuhalten, doch er verdrängte den Gedanken wieder, da Wolkentänzer wirklich nicht seine Vorstellung von männlich waren. Fliegen hingegen war eine großartige Sache. Auch wenn Souta sicherlich niemals genug Konzentration aufbringen könnte, um dieses Wunder zu meistern, so gab es kaum etwas, was er mehr genoss als die Tatsache, dass sein Freund genau das konnte. Es eröffnete einem nicht nur erstaunliche Orte für die unterschiedlichsten Dinge, sondern entsprach auch sämtlichen Klischees, die man in Gedichten und so weiter fand. Fliegen machte tatsächlich frei. Wenn man von großer Höhe auf seine Probleme hinabschaute, waren sie plötzlich winzig klein, kamen einem so unbedeutend vor wie Flöhe. Und für einen Moment konnte Souta dann die Selbstüberschätzung des Anderen verstehen, denn gegen Geschöpfe der Luft waren sie wohl wirklich nur kleine, gebundene Menschlein. Vielleicht fand er es nicht nur großartig, wenn einem der Wind durch die Haare pfiff, wahrscheinlich war er auch froh darüber, dass man diese Sache mit ihm teilte und ihn damit zumindest ansatzweise auf dieselbe Stufe erhob ... Auch wenn immer der Nachgeschmack blieb, dass er vollkommen ausgeliefert war. Selbstverständlich vertraute er dem Älteren und würde niemals ernsthaft glauben, dass er ihn fallen lassen könnte, aber es gab da immer diese winzige Möglichkeit, in der er realisierte, dass dieses Gefühl von Freiheit und die Distanz zu seinen Problemen nur eine Illusion war und er bemerkte schnell, dass er genauso abhängig war wie jeder andere ... Nicht nur vom Boden, sondern auch von der Person, welche die Luft, den Wind verkörperte. Er war nicht privilegiert, eine Sphäre zu durchschreiten, die nur wenige zu Gesicht bekamen ... Er wurde einer ganz neuen Form von Hilflosigkeit ausgesetzt. Er war nicht dazu in der Lage zu fliegen, er konnte Seraphim nicht folgen, wenn er sich entschied, einfach davonzuflattern und würde, sollte es dazu kommen, genauso auf der Erde bleiben wie jeder andere, weil er nun einmal nur ein Mensch war und niemals mehr sein würde ...
Trotz dieser depressiven Gedanken, die in Souta jedes Mal, wenn der Boden wegriss, einen Wirbelsturm an Emotionen umfassten, würde er dieses Erlebnis als positiv bezeichnen. Bei der Landung wurde ihm manchmal noch ein wenig schwindelig, weil er einfach nicht gewöhnt war, von Nichts auf festen Boden zu wechseln, doch hier hatte er das eigentlich ganz gut im Griff. Mit geschicktem Tänzeln auf komplizierten Flächeln kam er deutlich mehr klar als mit der Bedrohung der Luft, weswegen er ein paar Schritte machte und sich dann setzte, wo er die Füße in die Tiefe baumeln ließ, als wäre das hier nicht so hoch, dass er bei einem Sturz einen Großteil seiner Form verlieren würde. Wie lange würden sie hierbleiben? Lange genug, dass er ihn fragen konnte, was wirklich los war? Jedenfalls durfte er ihn nun nicht damit überfallen, sondern musste sich so subtil wie für einen Souta möglich herantasten. Mit einer Hand strich er leicht über die Dachziegel, die andere hob er, um die Augen abzuschirmen und sich dann zur Sonne umzudrehen, die den Weißhaarigen in ziemlich beeindruckenden Schatten stellte und ihn daran erinnerte, dass er keine Uhr dabeihatte. “Es ist sehr schön hier oben ...” Für hübsche Naturdarbietungen hatte er schon immer etwas übrig gehabt.

Souta war wohl wirklich eher der Typ, der einem die Tür in die Stirn und einen damit zu Boden schlug, aber für diese Angewohnheit, machte er seine Sache gerade doch recht gut. Vielleicht lag es auch daran, dass Seraphim mit aller Kraft verdrängte, was ihn wenige Minuten zuvor noch beschäftigt hatte, jedenfalls ging bei ihm nicht sofort ein Lichtlein an und er fragte sich nur, seit wann sich Souta und er schon großartig über das Wetter unterhielten. generell waren ihre Unterhaltungen so gesehen relativ eintönig, weil ihre Interessen einfach ein wenig verschieden waren. Während Seraphim eher mehr in den kulturellen Bereich gehörte, war der Kettenmagier neben Essen vor allem an Waffen und Romanen interessiert, auch wenn beide Herren nicht nur ein Faible für das andere Geschlecht hatten, sondern grundsätzlich etwas für unberührte Natur übrig hatten. Jeglicher Zusammenhang wäre vollständig aus der Luft gegriffen. Jedenfalls brachte sie diese Interessensdifferenz schnell dazu, ins Körperliche überzuwechseln, weil sie wenigstens dort miteinander harmonierten, doch das war auf einem Dach einer Villa wohl keine Option. Sicherlich hatten sie auch schon im Regierungsturm von Fiore höchst selbst auf diese Weise miteinander kommuniziert, aber da waren sie wenigstens von Wänden umgeben gewesen, während sie hier alles, nur nicht das tun konnten. Vielleicht hatte das auch den Vorteil, dass sie so gezwungen waren, sich auf verbaler Ebene auszutauschen, denn so lernte man immerhin vieles über seinen Gesprächspartner. "Hm? Ja... wahrscheinlich.", antwortete er, ein wenig überrascht ob des seltsamen Ausspruchs, "Ich mag Höhen generell gerne. Sie geben einem das Gefühl, ein wenig von der Welt abgekapselt zu sein." Hätte die Anwesenheit von gerade weiblichen Menschen nicht so eindeutige Vorteile, wäre der Dragonslayer wahrscheinlich einer derjenigen, die sich ohne große Probleme zurückziehen könnten, um einsiedlerhaft irgendwo in der Wildnis zu leben. Sicherlich machte es Spaß, die Menschen gegeneinander aufzuwiegeln und sich an ihrem Leid zu laben, aber sie nervten ihn auch regelmäßig und wäre er nicht in der Lage, sich von ihnen abzuheben, würde ihn das sicherlich fertig machen. Souta war da seines Wissens ein wenig anders oder zumindest kam er ihm so vor. Während der Dragonslayer seine freie Zeit schätzte und gerne auch einmal Pausen von der Menschheit nahm, stürzte sich der Kettenmagier gerne ins Leben und ging erst unter Menschen richtig auf. Wahrscheinlich, hatte er irgendwann verstanden, lag das daran, weil er so nicht nachdenken musste, da er mit sich selbst sicherlich alles andere als im Reinen war. Seraphim war dies ironischerweise eigentlich schon, ganz nach dem Motto, dass es schlechten Menschen immer gut ging; es brauchte schon Personen wie ihren Auftraggeber, um ihn aus seiner Zufriedenheit zu reißen. Jeder Mensch hatte seine Schwachstellen und diejenigen des Dragonslayers waren zwar gut versteckt, aber ebenso vorhanden. Normalerweise konnte er über kleinere Verstimmungen hinweg täuschen, aber das hier war ein etwas anderes Kaliber, weswegen er sich am besten einfach davon fern hielt, nicht durch übertriebene Interaktion mit anderen, wie Souta das tun würde, sondern alleine im stillen Kämmerchen – oder in diesem Falle dem Dach. „Das war jetzt wahrscheinlich klar, nicht? Immerhin habe ich meine Wohnung aus gutem Grund so weit oben…“ Der Weißhaarige hockte sich auf die Ziegel und beobachtete, wie gefährlich weit am Abgrund Souta saß. Sicherlich war er einer der geschicktesten Menschen, die er kannte, aber es gab ihm dennoch kein gutes Gefühl, dass er nur einen halben Meter rutschen müsste, um in die Tiefe zu stürzen… Vielleicht würde er es nicht schaffen, Souta aufzufangen und er würde auf dem Boden aufschlagen, sich alles brechen und dann… nein, daran sollte er auch nicht denken, oder? Er rutschte ein wenig näher an den Kettenmagier heran, sodass er schneller reagieren konnte, sollte etwas passieren. Vielleicht hatte er die ganze Sache doch falsch eingeschätzt und er konterte emotionale Befangenheit mit menschlichen Kontakten - oder zumindest mit spontaner Fürsorge gegenüber seinem Freund.

Es war eine sehr peinliche Sache, wenn man eine Beziehung mit einer Person unterhielt, sich aber nicht richtig mit ihr unterhalten konnte. Souta war zwar generell kein Mensch, der seine Gesprächspartner liebend gerne stundenlang zulaberte, aber ein wenig soziale Interaktion, die nicht in der Horizontalen stattfand, war sogar für ihn hin und wieder wünschenswert. War es nicht auf eine Art traurig, dass sie sich nackt sehen konnten, ohne sich deshalb zu schämen, sich aber irgendwie schnell eine peinliche Stille ausbreitete, sobald sie von dieser Form der Kontaktaufnahme abgeschnitten waren? Hier auf dem Dach konnte man keine Dinge tun, die nicht jugendfrei waren, doch das war in diesem Fall gar nicht so übel. So war es niemanden der beiden möglich, mit einer direkteren Taktik zu kontern, die den Anderen vielleicht zum Verstummen bringen würde oder sich durch Ablenkung aus der Affäre zu ziehen. Souta stand kurz vor der Entfaltung seines Planes, der sicherlich nur deshalb so effektiv war, weil Seraphim nicht ganz bei der Stange war. Normalerweise konnte man den Dragonslayer nicht so einfach an der Nase herumführen, besonders nicht, wenn man darin generell so unbegabt war wie der Kettenmagier. Taktisches Denken und unbemerktes Annähern an einen Punkt lag ihm einfach nicht, deshalb konnte er sich nicht sonderlich lange zügeln, wenn ihm etwas auf den Herzen lag. Gerade war er schon vollkommen im Startmodus des Verhörs, so dass er selbst gar nicht bemerkte, dass er nahe am Abgrund saß und man sich deshalb vielleicht Sorgen machen könnte. Wahrscheinlich hätte er den Weißhaarigen sowieso ausgelacht, wenn er ihn ermahnt hätte, vorsichtiger zu sein, da Souta generell keinerlei Probleme damit hatte, seine Balance zu halten. Er konnte so ziemlich alles machen, was einem menschlichen Körper möglich war, eigentlich gab es fast nichts, was ihn rein bewegungstechnisch überforderte – bevor er auf dem Boden aufgekommen wäre, hätte er sich schon irgendwie abgefangen oder irgendwo festgehalten, zumal es sehr unwahrscheinlich war, dass er einfach so abrutschte und in die Tiefe stürzte, darauf passte er durchaus auf, selbst jetzt, wo er in Gedanken versunken war. Das Problem war, dass er nicht wusste, wie er dieses Thema anschneiden konnte. Entweder er war zu direkt und bewirkte so, dass Seraphim seine Wut auf ihn lenkte und beleidigt war, oder er war zu subtil und erhielt gar keine Informationen. Souta zerbrach sich gerade den Kopf darüber, was er tun sollte, als sich der Weißhaarige in seine Nähe rückte und etwas von seiner Wohnung erzählte, die weit oben lag. Ja, klar. Irgendwie hatte er ihm nicht zugehört, was er vielleicht hätte tun sollen, aber er war zu beschäftigt gewesen, sich um Seraphims Probleme zu kümmern, als dass er sich um Seraphim kümmern konnte … So war das eben. Auch Souta hatte nichts gegen eine erhöhte Position, aber es stimmte wohl, dass er nicht gerne alleine war. Manchmal war es zwar schön, nicht von nervigen Mitmenschen belästigt zu werden, doch auch dann versuchte Souta sich eigentlich meist mit etwas Anderem abzulenken. Oft genügte schon ein gutes Buch, manchmal musste es mehr sein, Alkohol, hübsche Damengesellschaft … Gerade war das jedoch nicht wichtig, viel entscheidender war die richtige Wahl seiner Worte, die Souta schon in normalen Rahmen nicht immer beherrschte. Alles auf eine Karte oder Vorsicht … „Sagmal, kann es sein, dass du nicht immer ganz ehrlich zu mir bist?“ Ja, das war ein guter Ansatz, schließlich kam man über Schuldgefühle wohl oft weiter. Und wenn er nun nichts zugab, konnte man ja noch weiter bohren. Für's Erste beschränkte sich der Kettenmagier darauf, den Blick der violetten Augen zu suchen und ihn auch so schnell nicht mehr lozulassen. Es war ziemlich offensichtlich, dass er immernoch mehr als besorgt war, was man wohl vor allem daran sehen konnte, dass sein Lächeln verschwunden war. Es wäre aber auch zu dreist, jemanden anzulügen, der einem mitgeteilt hatte, was er vom Lügen hielt, oder?

Müsste man dem Geschehen reißerische oder besonders malerische Titel geben, würde man Seraphims nächste Minuten wohl "Impressionen des Angels" nennen mit Fokus auf dem Wurm am Haken. Der Dragonslayer spürte den Blick des grünen Auges mehr, als dass er ihn sah, weil er gegenüber Souta durchaus so etwas wie Schuldbewusstsein besaß. Normalerweise konnte er lügen und war dabei eiskalt, aber in diesem Falle war das alles ein bisschen anders. Auf der letzten Quest in Marokkasu Town hatte er sich zuerst geweigert, Souta zu erklären, warum er sich in der Anwesenheit des Schwarzhaarigen so unwohl fühlte und darauf hatte der Augenklappenträger ihm eine halbe Rede darüber gehalten, dass er es hasste, wenn man ihn belog. Er hatte gesagt, dass er lieber unangenehme Wahrheiten kannte, als sich Lügen gegenüber zu sehen, dass diese irgendwann aufflogen und er das überhaupt nicht ausstehen konnte. Mit ernsthafter Stimme hatte er verkündet, dass es ihm nicht gefiel, vielleicht sogar wehtat, wenn er das bei ihm tat und was hatte der Weißhaarige als sofortige Konsequenz getan? Er hatte die Wahrheit ein wenig zurecht gebogen und sie ihm erzählt, mit der Folge, dass er ihm geglaubt hatte. Ein wenig schlecht hatte er sich deswegen durchaus gefühlt, aber das Bewusstsein, dass er so nicht nur die Quest vor ihrem Scheitern, sondern auch den Rothaarigen vor sich selbst geschützt hatte, hatte ihn das schnell vergessen lassen. Nun hatten sie diesen Mann wieder getroffen und er hatte es nicht geschafft, sich so weit zusammen zu reißen, dass er keinen Verdacht schöpfte. Aber er konnte jetzt nicht einfach einknicken und ihm die Wahrheit gestehen, das würde weder die Quest, noch sein Ego überstehen, fürchtete er. Also riss er sich zusammen und blickte in das wunderschöne, smaragdene Auge, als der Kettenmagier seine Glaubwürdigkeit in Frage stellte. Er musste in aller Schnelle nachdenken, wie er am besten darauf reagierte, um sich nicht noch weiter verdächtig zu machen, denn sonst wäre Souta entweder beleidigt oder er würde so lange nachbohren, bis sie sich wirklich stritten, beides Sachen, die er nicht haben wollte. Noch weniger wollte er jedoch, dass man ihn zwang, das Ganze auch noch in Worte zu fassen, also musste er nun so heil aus der Sache herausmanövrieren, wie er konnte, selbst wenn das bedeutete, dass er weiter lügen musste. Sollte er dabei ertappt werden, wäre es so besser für sie beide und sobald Souta die Wahrheit wüsste, würde er wahrscheinlich verstehen, warum er geschummelt hatte. Sicherlich war das nicht fair, da der Kettenmagier ihm sogar davon erzählt hatte, dass er sich die Schuld für den Tod seiner kleinen Schwester gab, aber für ihn persönlich war das hier noch immer eine andere Ebene. Er würde dem Kettenmagier auf Nachfrage jeden Mord und alles dergleichen sofort gestehen, aber das hier stellte ihn selbst in Frage oder zumindest sah er das so, also musste er es verstecken. Er mochte offener und ehrlicher gegenüber Souta sein als gegenüber anderen, aber auch vor ihm musste er eine gewisse Würde wahren, die er in Gefahr sah, sollte er ihm reinen Wein einschenken. Manchmal war eine Notlüge eben besser als eine unschöne Geschichte.
"Aber Souta-chan... ich war bisher ganz brav, versprochen~", meinte er also und spielte damit auf seine Aussage an, er würde sich während einer Beziehung mit Souta nicht an anderen Männern vergreifen. Natürlich wusste er, dass es nicht darum ging, aber es wäre doch eine entschuldbare Annahme, oder? Tatsächlich hatte er sich wirklich daran gehalten, sodass der letzte Andere vor Souta ein süßer Blauhaariger gewesen war, aber das war in diesem Moment ja nicht relevant. Irgendwie glaubte er nicht, dass Souta sich damit abwimmeln ließ, aber er hatte es versuchen müssen. Sollte das nicht funktioniert haben, würde er ihn erst einmal hinhalten, indem er ihn fragte, was er denn nun meinte und danach konnte er sich bestimmt irgendwie herauswinden... ganz bestimmt.

Hrm. Das war nicht nach Plan verlaufen, aber Souta wäre dumm, wenn er tatsächlich erwartet hätte, dass er einfach so die Preisfrage stellen konnte und sofort eine ehrliche Antwort darauf erhielt. Natürlich hatte er nicht auf die Sache mit ihrer Vereinbarung angespielt, welche objektiv betrachtet wohl einiges an Klischee aus ihrer Beziehung nahm. Souta hatte nicht vor, die nächste Zeit seines Lebens in romantischer Hinsicht mit jemanden zu verbringen, zu dem er sich nicht hingezogen fühlte und war daher nicht bereit, Frauen aufzugeben. Seraphim war einfach nicht dazu gemacht, sein liebstes Hobby mit nur einer Person auszuüben. Die beiden Magier mochten noch so romantische Gefühle füreinander hegen (Weiß besiegte Rot in dieser Hinsicht deutlich, doch das war im Moment nicht wichtig) aber eigentlich waren sie ziemlich pragmatisch an diese Beziehungssache herangegangen. Zwar waren sie jetzt zusammen mit all dem Schnickschnack, den soetwas eben beinhaltete, doch insgeheim war der Kettenbändiger doch recht froh, dass die deutsche Sprache zwischen Freund und Freund keine Unterscheidung machte. Er bekam ja schon die Krätze, wenn man ihn mit Kosenamen bedachte, doch das tat Seraphim zum Glück nur extrem selten. Natürlich akzeptierte er es dennoch … Souta bemühte sich nämlich sehr darum, dass er alles richtig machte, dem Anderen meistens zuhörte, sich nicht zu sehr auf die fordernde Seite stellte und all diese Sachen, die man eben tat, wenn man mit einer Person viel Zeit verbrachte, wozu eben auch das Angewöhnen von Dingen gehörte, die man eigentlich nicht so toll fand. Um sich um solche Angelegenheiten zu kümmern, hatte Souta seine geheime Zeitschriftensammlung und einen noch geheimeren Ausflug in Seraphims Nachttischschublade getätigt, und auch wenn er eher verwirrt gewesen war und sich am Ende nicht getraut hatte, den Verwendungszweck und die Notwendigkeit gewisser Utensilien zu hinterfragen, war er doch ein Stück weiter gekommen. Aus irgendeinem Grund war alles an ihnen fortschrittlicher als ihre Fähigkeit, sich emotional auszutauschen und das nervte auf Dauer durchaus. Souta war sicherlich ebensowenig darauf erpicht, seine Liebe zu gestehen und solche kitschigen Dinge zu machen, aber manchmal musste man eben auf ungewöhnliche Pferde setzen, um ans Ziel zu kommen. Momentan hatte er nicht das Gefühl, dass er sich vorwärts bewegte, und wenn, machte er wohl eher nach jedem Fortschritt noch einen zurück. Wenn Seraphim nicht über eine Sache reden wollte, war es schwer, ihn beim Thema zu behalten, weil er sehr redegewandt war, aber irgendwie musste er es doch hinkriegen, ihn zu brechen. Zumindest für die Zeit, die es dauern würde, um die Wahrheit zu erfahren. „Hälst du mich für dumm?“, fragte er also, was vielleicht etwas gemeiner herauskam, als er das geplant hatte, doch jetzt wo die Katze aus dem Sack war, konnte er ja auch gleich so weitermachen. Mit leicht gerunzelter Stirn starrte er den Weißhaarigen an und verschränkte die Arme. „Der eine in Nord-Fiore, der mich kontrolliert hat, hat dich durch mich echt fies vermöbelt. Und was hast du gemacht? Als der Zauber durch war, bist du noch halb zu ihm gekrochen, um ihn umzunieten.“ Er verzog das Gesicht, weil das alles in allem keine sehr schöne Erinnerung war. „Der Typ kann dich unmöglich schlimmer zugerichtet haben, also was ist passiert? Hat er … hat er etwas mit dem Tod deiner Eltern zu tun? Hast du von ihm die Narben am Rücken?“ Das war natürlich ein Schuss ins Blaue, aber noch das Logischte, was Souta sich zusammenreimen konnte. Bei einer solchen Sache würde er durchaus auch verstehen, wieso man sich eine Geschichte ausdachte, um sie zu kaschieren, schließlich tat er das ja auch regelmäßig mit seiner Augenklappe. Und sicherlich war es in dieser Größenordnung, immerhin schien es ihn sehr zu beschäftigen … Eine Alternative wollte ihm beim besten Willen nicht einfallen, aber er hatte ja auch relativ wenige Informationen, mit denen er arbeiten konnte.

Soutas Schlussfolgerung war sehr logisch und grundsätzlich auch sehr gut, aber wenn Christophe Loire damit etwas zu tun gehabt hätte, dann wäre er bereits nicht mehr am Leben. Seraphim hatte sich nämlich geschworen, sollte er die Räuber eines Tages finden, die seine Eltern ermordet hatten, dann würde er sie töten. Jeden einzelnen, langsam und qualvoll, bis sie sich wieder an den schreienden Jungen erinnerten, den sie in die Flammen eines Hauses geworfen hatten, nachdem man ihm die Lunge zerschnitt. Nein, so etwas würde Loire niemals tun, da war sich Seraphim sicher. Auch wenn seine Wahrnehmung ihm gegenüber von Hass, Angst und Scham durchdrungen war, so konnte er dennoch einschätzen, dass er ein rechtschaffener Mensch war, dem sicherlich niemals in den Sinn kommen würde, eine kleine Familie beim Picknicken anzugreifen. Natürlich hätte er vielleicht Soutas Verdacht zerstreuen können, wenn er falscherweise zugegeben hätte, dass Loire etwas mit dem Tod seiner Eltern zu tun hatte, aber er war sich nicht sicher, inwiefern das den reibungslosen Verlauf der Quest sicher stellen würde, um den es hier auch ging... ganz davon abgesehen, dass der Schwarzhaarige bestimmt so auf eine mögliche Anschuldigung von Souta reagiert hätte, dass dieser die Lüge nur wieder entdeckt hätte. Stattdessen war es vielleicht einfacher und sinnvoller, die Schlussfolgerungen des Kettenmagiers durch eine Erklärung zu unterbrechen, immerhin schloss er hier von seinem Verhalten bei einer Quest auf dasjenige eines Jugendlichen, beinahe noch Kindes. Als er noch ganz klein gewesen war, hätte man auch niemals erwartet, was aus ihm werden würde, da er schüchtern und lieb gewesen war, all das, was er heute nicht mehr (oder nur noch sehr selten) war. "Du vergleichst gerade das Verhalten eines Zwanzigjährigen mit dem eines Vierzehnjährigen, Souta.", meinte er deswegen mit ruhiger Stimme und rutschte ein wenig auf der Stelle herum. Seine Erfahrung mit Lügen und deren Aufnahme war, dass die meisten Menschen eher bereit waren, Halbwahrheiten zu glauben. Also musste er vielleicht ein paar unwichtige Randdetails einspeisen, die wirkungsvoll genug waren, um seiner Aussage Wirkung zu verleihen, wie er das damals auch gemacht hatte. Seraphim hatte nicht wirklich gelogen, wenn man dieses Wort auf die Goldwaage legen würde, er hatte nur nicht alles berichtet, was vorgefallen war und das war vielleicht Verschweigen von Tatsachen, aber keine Lügen. Vielleicht sollte er es dabei halten... er blickte zur Seite und brach damit ihren Augenkontakt ab, seufzte und stützte die Unterarme auf den Knien ab. "Zwei Rippen gebrochen, eine angeknackst, Platzwunde am Kopf, Blutergüsse im Gesicht und an den Handgelenken und eine leichte Gehirnerschütterung." Auch das war nicht die gesamte Wahrheit, aber sie schmückte seine vorherigen Aussagen doch noch viel besser aus, da sie diese mit ein paar unangenehmen Details gleich viel lebhafter wirkten. Er blinzelte und blickte wieder zu Souta zurück. "Meine Eltern...", er stockte, dacht darüber nach, ob es sinnvoll war, weiter zu reden oder ob ihn das nichts anging, "Loire ist ein viel zu... guter Mensch, um bei ihrer Ermordung teilgenommen zu haben." Das Wort wurde ausgespuckt, als sei es der Teufel, denn er konnte sich noch genau an die Argumentation des Mannes erinnern. Böses musste man austreiben, Böses hatte Schmerzen verdient, Bösem durfte man Böses antun, um Gute zu beschützen... selbst wenn die Bösen noch fast Kinder waren, die irgendwann zu Erwachsenen wurden, die halbe Panikausbrüche bekamen, wenn sie in die Nähe der Guten kamen. Was war Souta eigentlich, wenn man in solchen Termini dachte? Zwar waren seine Frauengeschichten sicherlich alles andere als orthodox, aber er war doch ansonsten jemand, der Menschen half, statt sie beim Stolpern auszulachen... "Sag mal Souta... ähm... hältst du mich für schlecht? Für... böse?" Er wusste gar nicht, warum er das fragte, aber nun wo es raus war, fieberte er einer Antwort geradezu entgegen. Er hatte sich nie um die Worte des Schwarzhaarigen von damals gekümmert, weil es Dinge gegeben hatte, die seine Aufmerksamkeit mehr gefesselt hatten, aber jetzt, wo er Souta wieder und wieder in seine Nähe brachte, machte er sich über seine Logik ein wenig Sorgen.

Einen ewigen Moment lang herrschte Stille auf dem Dachvorsprung. Vögel zwitscherten in den entfernten Bäumen, der Wind strich an ihnen vorbei und die Wolken am Himmel zogen unbeirrt ihre Kreise. Und inmitten all dieser schönen Dinge versuchte ein Rothaariger darüber nachzudenken, ob sein Freund ein böser Mensch war. Das war nicht leicht. Soutas erster Impuls war gewesen, zu verneinen, um sich schnell wieder auf das eigentliche Thema zu konzentrieren. Bei der Erwähnung der Verletzungen waren nämlich stark gemischte Gefühle in ihm aufgestiegen, die er nicht ganz zuordnen konnte. Auf der einen Seite war da sicherlich Mitgefühl und Wut darüber, dass ein erwachsener Mann ein Kind so verprügeln konnte, dass es noch Jahre später dermaßen geprägt davon war. Ein Kind, dem man die Eltern genommen hatte, auf traumatisierende Art und Weise, das von einem Drachen aufgezogen worden war und das sich nach einem Leben in der Wildnis ganz allein zurechtfinden hatte müssen. In gewisser Hinsicht war es eine beunruhigende Vorstellung, de vierzehnjährigen Seraphim vor seinem geistigem Auge zu sehen, und Souta hatte geradezu geistesabwesend nach oben gegriffen und seine Augenklappe gerichtet, unter der es plötzlich gekribbelt hatte. Auch Souta war verdammt jung gewesen, als man ihm eines seiner eindringlichsten Merkmale verpasst hatte, auch er war alleine gewesen. Zwar hatte er sich aus Schuldgefühlen von seiner Familie abgewandt, doch das bedeutete nicht, dass sie sich wirklich so unähnlich waren, wie man das vielleicht denken mochte. Im Augenblick schwieg der Kettenmagier, um darüber nachzudenken, dass es vor nicht allzu langer Zeit irgendwo einen Weißhaarigen gegeben hatte, der unschuldig und rein gewesen sein musste, bis grausame Menschen ihm alles nahmen, was er gekannt hatte. Oft bezog der Rotschopf all das Drama auf sich selbst, hielt sich für denjenigen von ihnen, der ein verkorkstes Leben geführt hatte, doch während ihn der Tod seiner Schwester vollkommen aus der Bahn geworfen hatte, war Seraphim ganz alleine gewesen. Natürlich, er hatte dafür großartige Macht bekommen, doch das war es sicherlich nicht wert, derartigen Schmerz zu erfahren. Kinder sollten nicht mit solcher Trauer konfrontiert werden, und sie sollten auch keine Qualen leiden müssen. Menschen hatten ein Recht darauf glücklich und unbeschwert aufzuwachsen, mit Liebe und Unterstützung. Es machte Souta wütend, dass das nicht geschehen war, aber vor allem stimmte es ihn traurig. Was auch immer dieser Mann mit ihm getan hatte, es musste nachhaltige Wirkung gezeigt haben und hatte ganz offensichtlich etwas an Seraphim verändert. Er fragte sich, ob er böse war – oder schlecht, wenn das denn daselbe war – und nun sollte Souta über ihn urteilen? Oder nicht? Erwartete er von ihm, von seinem Freund, dass er nun zu ihm hielt und ihm diese Flausen aus den Kopf schlug, die sich plötzlich gebildet hatten? Nun, sollte er es wahrheitsgemäß beantworten, so konnte er wohl nicht einfach verneinen, denn das wäre nicht richtig. Seraphim war sicherlich ein böser Mensch. Er hatte Spaß daran, wenn Leute litten, er erfreute sich daran, auf den Gefühlen seiner Gesprächspartner herumzustampfen und stocherte gerne in Wunden herum. Er war egoistisch und skrupellos und hatte einige Leben ausgelöscht, all das war sicherlich nichts, was man auf einer positiven Skala verbuchen könnte, denn das konnte nicht einmal der optimistische Souta gut reden. Manchmal machte Seraphim ihm Angst mit der Kälte, die er heraufbeschwören konnte, aber das Problem an dieser Sache war, dass er ihn nicht einfach in eine Schublade stecken konnte, weil es nämlich eine Ausnahme gab ... Oder mehrere, je nachdem. Es passte nicht zusammen, dass eine Person zu einer solch reinen Emotion wie Liebe fähig war, wenn sie böse oder schlecht war ... Deshalb würde seine Antwort nicht so einfach ausfallen können. Souta zog die Beine an und lehnte sich leicht zu Seraphim hinüber, damit er die Hand ausstrecken und mit de Fingerkuppen an seiner Schläfe entlangfahren konnte. Sanft streichelte er über eine weiße Haarsträhne und schob sie hinter das blasse Ohr, wohinter sie jedoch sofort wieder hervorsprang, mit einer Spannkraft, die geradezu übermenschlich war. “Ich kann mir vorstellen, dass eine ganze Menge Leute dich für böse und schlecht hält.” Er sagte das sehr neutral und betrachtete das Profil des Älteren, als hätte er immernoch wie vorhin das Wetter als Thema und keine charakterliche Durchleuchtung seines besten Freundes. “Wenn du mich fragst, dann hat man dir Böses angetan. Versteh mich nicht falsch, es tut mir sehr Leid für dich, dass du diese Dinge durchgemacht hast und du hast sicher einige Sachen gemacht, die ich nicht allzu gut finden würde, aber es könnte mir nicht egaler sein ...” Er seufzte leise und legte sich dann auf den Ziegeln zurück, um in den blauen Himmel zu schauen und sich ordentliche Worte zusammenzulegen, die sich nicht allzu kitschig anhörten. “Denkst du ich weiß nicht, worauf ich mich eingelassen habe? Klar bist du ein Arsch, aber was interessiert mich das? Grill Babies, wenn es dich glücklich macht ... Und frag nicht so blöd.” Souta biss sich für einen Moment auf die Lippe und linste dann unter halb geschlossenem Auge zu Seraphim hinüber, ein wenig zögerlicher, als zuvor, was man allerdings nicht in seiner Stimme hören konnte, die sich im Tonfall kaum geändert hatte. “Ich bin verliebt und daher parteiisch.”