Souta schaffte es tatsächlich, dem Weißhaarigen ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern, weil er das Zögern des Anderen nicht bemerkte. Ja, es sollte ihm eigentlich weiterhin egal sein, was der Rest der Menschheit von ihm dachte, solange er Souta hatte, nicht wahr? Was zählte schon die Meinung eines Schwarzhaarigen mit übersteigertem Gerechtigkeitsgefühl, wenn er einen viel hübscheren, viel tolleren Rothaarigen hatte, der zu ihm hielt? Zwar hatte er Loire im Grunde recht gegeben, aber im gleichen Atemzug erklärt, dass es ihm egal war. Er wusste ja nun auch selbst, dass er nicht gerade moralisch hochwertig handelte, aber darum ging es ihm ja auch nicht. Vielleicht hielt ihn auch Souta für schlecht, aber gleichzeitig hatte er gesagt, dass er in ihn verliebt war und das war praktisch das verbale Äquivalent von fallen gelassenen Kleidungsstücken für den Weißhaarigen. Im Grunde genommen war es sogar noch besser, weil es schneller passierte, dass sich Souta vor ihm entblätterte, als dass er so etwas in der Art sagte. Auch das war traurig, aber irgendwie ein ganz alltägliches Phänomen, was sie beide anging. Ihnen fehlte einfach ein wenig der Scham, die die meisten Menschen in Bezug auf ihren Körper besaßen und waren stattdessen emotional ein wenig zurückgeblieben, doch damit konnte man arbeiten. Zudem gefiel es Seraphim gerade sehr gut, dass er es scheinbar geschafft hatte, das Thema seiner Überreaktion erneut unter den Teppich zu kehren, sollte Souta jetzt nicht doch noch weiter fragen. Es war für ihn deutlich einfacher, zu akzeptieren, dass sein Freund verstehen konnte, wenn man ihn für böse hielt und sich mit diesem darüber zu unterhalten, als jetzt in die Untiefen seiner Vergangenheit abzugleiten. "Mhm...", murmelte er und entspannte sich ein wenig. Wenn man in diesem Fall Loires Logik folgte, dann war Souta bestimmt keiner von den Bösen, oder? Er war nur ein etwas verwirrter Guter, der seine Macken hatte, also war er in jedem Falle außer Gefahr. Natürlich könnte man ihm sicherlich sowieso nichts tun, aber das waren Dinge, die dem Dragonslayer nun einmal durch den Kopf gingen. "Ich glaube nicht, dass gegrillte Babys so gut schmecken würden..." Allerdings grillte man doch auch Lamm, was im Grunde genommen wenig anderes war. Eigentlich war das ziemlich grausam, wenn man so drüber nachdachte, Tiere zu züchten, um sie dann noch in der Kindheit abzutöten, um sie zu essen. Andererseits war so das Leben und in der Wildnis überlebten sowieso nicht viele Tiere ihre Jugend, weil sie in dieser Zeit leichte Beute waren. Darum kümmerten sich viele Elterntiere verstärkt um ihren Nachwuchs, weil sie sich eben diser Risiken bewusst waren... seine Mutter hatte sich bestimmt auch gut um ihn gekümmert und zum Dank konnte er sich kaum noch an sie erinnern. Er wusste nur noch, dass sie mit ihm weggerannt und schließlich auf ihn gestürzt war. Gut, dass sie nicht wirklich ein Drachen gewesen war, denn er mutmaßte, dass er es nicht überstehen würde, wenn sich Grandine auf ihm niederließ. So ein königliches Schuppentier wog nun einmal seine hunderte von Kilogramm. Seraphim drehte sich ein wenig, sodass er auf den auf dem Dach liegenden Rothaarigen herunter sehen konnte und ihm fiel wieder einmal auf, was für ein Glück er mit ihm eigentlich haben musste. Irgendetwas an dem Kettenmagier faszinierte ihn, auch wenn das wahrscheinlich schrecklich irrational war. Sein manchmal geradezu kindliches Verhalten ging ihm ganz schön auf den Geist, aber in Momenten wie diesen war er sehr zufrieden mit seiner Art, weil er auf so angenehme Art ignorant sein konnte. Es gab sicherlich Menschen, die nicht so einfach ignorieren würden, was er manchmal für Mist machte... auch wenn er wahrscheinlich keine Babys grillen würde, viel zu viel Dreck am Ende. "Ich hab dich lieb, Souta-chan...", murmelte er und richtete den Blick danach wieder auf die Umgebung. Er durfte sich hier nicht allzu sehr ablenken lassen, denn sonst würde er noch mögliche EInbrecher verpassen. Vielleicht kamen aber auch gar keine, immerhin hatte er sich extra abschreckend positioniert.

Souta hatte sich noch nicht ganz entschieden, ob er diese entspannte Ruhe und damit auch Seraphims emotionale Gesundheit akzeptieren sollte. Eigentlich war seine Neugierde nicht wirklich gestillt worden, stattdessen hatten sie nur eine andere Frage beantwortet, welche allerdings nichts mit den Gründen für das Verhalten des Weißhaarigen zutun hatte und ihn deshalb auf dieser Ebene nicht weiterbrachte. Allerdings war das hier gerade sehr friedlich und angenehm, was der Rotschopf durchaus schätzte und nur ungerne zerstörte, indem er unnötig in den Wunden des Älteren bohrte, die ihn vielleicht gar nichts angingen. Im Grunde genommen hatte er es versucht und dafür wohl deutlich mehr bekommen, als jeder andere, womit er zufrieden sein müsste. Wahrscheinlich sollte er jede weitere Interaktion zwischen Seraphim und dem Schwarzhaarigen genau verfolgen, um eigene Hinweise zu sammeln und sich daraus die richtige Lösung zu basteln. Sobald er eine interessante Theorie hatte, konnte er sie ja immernoch in einem unachtsamen Moment über den Dragonslayer hermachen und ihn damit überfallen, was sicherlich nicht gerade taktvoll und einfühlsam war, doch das waren ja generell keine Eigenschaften, die man Souta zuschreiben konnte. Er war neugierig und dafür würde er auch in Kauf nehmen, sich zumindest eine Weile mit Seraphim zu streiten. Irgendwie würde er schon noch erfahren, was hinter der blassen Stirn vor sich ging, früher oder später. Im Augenblick erschien es ihm jedoch passender, sich nicht allzu sehr darauf festzubeißen, weil er sonst womöglich keine Gelegenheit mehr haben würde, den Älteren zu bearbeiten, weil der sich am Ende noch von ihm absetzte, um seiner nervigen Fragerei zu entgehen, womit er vor einer Sackgasse stehen würde. Nun … Eigentlich war ihr Auftrag ja auch nicht, sich mit den emotionalen Tiefpunkten des Himmels Dragonslayers auseinanderzusetzen, sondern ein paar Artefakte zu beschützen. Dafür hatten sie einen sehr geeigneten Ort gewählt, von dem sie alles überblicken konnten, selbst wenn Souta im Moment mehr Interesse an den Schäfchenwolken hatte als an irgendetwas Anderem. Außerdem war es hier ziemlich langweilig, wenn er so darüber nachdachte. Sie hatten nicht viel Platz, um sich zu bewegen, durften sich nicht zu sehr ablenken und Nahrung gab es hier oben auch keine, da konnte er nicht einmal seine Hibbeligkeit irgendwie besiegen oder dämpfen. Also erhob sich der Kettenmagier mit einem etwas gewagtem Sprung aus dem Liegen heraus, rutschte ein wenig auf den Ziegeln, fing sich jedoch sofort wieder und begann dann, über den kleinen Vorsprung zu balancieren, als wäre er ein Seiltänzer. Unter Umständen könnte er sicherlich irgendwo seine Peitsche einhaken und tatsächlich von einem Ende zum Anderen spazieren, doch das würde er noch nicht tun, solange ihm der lebensbedrohliche Abgrund wenige Zentimeter neben seinen Füßen für den Nervenkitzel ausreichte. Er hatte Hunger, ihm war langweilig und wahrscheinlich würden diese Diebe sich vor Nachtanbruch sowieso nicht zum Gebäude wagen, alles andere würde sie als extrem dumm entlarven und dafür musste man nun wirklich keinen S-Rang Magier anheuern. Kurz überlegte Souta, ob es irgendwie angebracht wäre, mit seinem Schwert ein paar Löcher in das Dach zu pieksen, die man sicherlich nie ihm zurechnen könnte, weil er es amüsant fand, wenn es dem Schwarzhaarigen auf dem Kopf schiffte, doch er beherrschte sich, drehte eine Pirouette und hoppste ein wenig herum. „Ich hätte Lust auf Grillfleisch...“

Mit besorgtem Blick verfolgte Seraphim, wie Souta über das Dach balancierte, bereit, sofort loszustürzen und ihn aufzufangen, sollte das nötig werden. Er mochte es nicht, wenn der Rothaarige solche Dinge tat, auch wenn er genau wusste, dass er sich schon nichts tun würde, weil er viel zu geschickt dafür war. "Pass auf, ja?", meinte er deswegen, aber beließ es dabei, weil er sich denken konnte, dass Souta es nicht besonders schätzte, wenn man sich zu sehr um ihn sorgte. Tatsächlich schien er dem Schicksal noch einmal von der Schippe gesprungen zu sein, denn Souta begann nicht weiter auf ihn einzudringen. Vielleicht hatte er ihm geglaubt, dass eine solche Tracht Prügel bei einem Jugendlichen solch ein Verhalten auslösen konnte und unter Umständen würde das sogar stimmen, wenn es nicht Seraphim gewesen wäre. Es war ein großes Glück, dass er ihm nie erzählt hatte, dass er bereits weitaus schlimmeres abbekommen hatte, denn das hätte diese Geschichte vollkommen unglaubwürdig gemacht. Das bedeutete, dass es nur noch mehr gab, das Souta niemals wissen durfte, aber es kam sowieso selten genug vor, dass er von seinem Leben erzählen sollte, also musste er das ja auch nicht tun. Solange das keine Probleme machte, konnte er alles wieder in die Tiefen seines Geistes verdrängen und gut war. Er hatte wirklich Glück mit Souta, fiel ihm auch gerade wieder auf, denn wie oft traf man schon einen gleichzeitig hübschen und so geschickten und ausdauernden Menschen wie ihn, was ja durchaus Eigenschaften waren, die von großem Vorteil waren... leider war er ihm überlegen, was seine Muskelkraft anging. Seraphim mochte keine Männer, die stärker waren als er, weil ihm das ein zu großer Unsicherheitsfaktor war. Da gab es nämlich das kleine Problem, dass er sich nicht in gewisse Rollen drängen lassen wollte, was deutlich einfacher war, wenn man die entsprechende Kraft besaß, doch zum Glück hatte Souta das auch noch nie versucht. Er war sich nicht sicher, wie er darauf reagieren würde, aber aller Wahrscheinlichkeit nach wäre das in dieser Umgebung gerade tödlich. Er folgte Soutas Bewegungen und schlussfolgerte, dass dieser scheinbar große Langweile hatte. Das war nicht gut, weil der Rothaarige zu der Sorte Menschen gehörte, die sich neue Herausforderungen schafften und dabei schon einmal gerne auf die Fresse flogen. Das war auf dem Boden vielleicht lustig anzusehen und hatte immerhin einen gratis heulenden Souta mit dabei, was Seraphim ja durchaus ansprechend fand, aber auf einem hohen Dach war das lebensgefährlich. Darum mochte sich der Andere nicht kümmern, aber Seraphim wollte ihm nicht unbedingt die Knochen richten müssen. Hatte er nicht zuvor gefragt, ob sie einen Abstecher in die Küche machen könnten? "Wie wäre es, wenn du dir was zu essen organisierst, ehe du dir den Hals brichst?", fragte er also, auch deswegen, weil ihn seine Abwesenheit weiterhin vor Fragen schützen würde. Normalerweise genoss er seine Anwesenheit ja, aber gerade brauchte er eher ein wenig Zeit zum Nachdenken, Zeit für sich allein, Einsamkeit, um sich zu vergewissern, dass er noch immer alles unter Kontrolle hatte. Und wenn sich das mit der Raubtierfütterung in Einklang bringen ließ, war es doch umso besser. Er hatte für sich festgestellt, das Souta bestimmt nichts passieren würde, weil er ja zu den Guten gehörte, also konnte er ihn auch alleine herumlaufen lassen. Ganz davon abgesehen, war der Rothaarige übermenschlich geschickt und stark und so schnell, dass er fast mit Blitzen wettlaufen könnte... da musste er sich wohl wirklich keine Sorgen machen.

Pfff … Als könne Souta sich an einem Dachvorsprung den Hals brechen. Für einen Moment hatte der Kettenmagier vergessen, dass er eigentlich ganz vorsichtig mit dem Dragonslayer sein sollte, weil dieser nicht so gut drauf war und geheime Informationen über sein früheres Leben verarbeitete, während er zufällig mit dem Äquivalent des Geistes der vergangenen Teenagerzeit konfrontiert war, um eine Augenbraue zu heben und den Weißhaarigen mit einem Gesicht zu betrachten, aus dem man sicherlich Arroganz gewinnen konnte, wenn man nur einen Becher darunterhielt. Es war eine Sache, seine Besorgnis auszudrücken, das konnte man ja noch als süß beschreiben, und Souta war natürlich auch mehr als froh, dass sich Seraphim nicht zur Glucke taugte, die ihn ständig verfolgte und auf ihn achtete, aber irgendwie erschien dieser Kommentar so schrecklich unpassend. Er würde sich nicht einmal dann verletzen, wenn er auf den Händen hier herumspazierte, dazu war er einfach zu geschickt. Manchmal versuchte Souta zwar durchaus, Möbelstücke mit seinen Zehen zu verrücken oder rammte sich Tischkanten in die Weichteile, weil er zu schnell um die Ecke bog, um sich dann wimmernd in Richtung Himmelsmagier zu robben, aber das war etwas ganz Anderes als ein kleiner Höhenflug. Wenn es mit der Arbeit bei der Gilde einmal nichts mehr wurde, konnte er sich ja dazu entscheiden zum Zirkus zu gehen oder so. Die Leute dort waren mit Sicherheit sehr liberal und einen Einäugigen konnte man immer gebrauchen. Wahrscheinlich würde er in Pluderhose absolut zum Anknabbern aussehen, weil man diese ja meist mit einer kurzen Weste kombinieren konnte, die viel von seinem Oberkörper zeigte. Barfuß, mit seiner gebräunten Haut und einem Mini-Pferdeschwanz … Hm, irgendwann mussten sie mal eine Quest irgendwo erledigen, wo er sich heißen Temperaturen entsprechend kleiden konnte. Obwohl das Seraphim sicherlich zu einem Hummer machen würde, wäre es die ganze Sache doch wert, um seine Kinnlade dabei zu beobachten, wie sie über den Boden schliff … Leider war er im Moment nicht so unglaublich verlockend, dass er als Ablenkung getaugt hätte, weswegen sich gerade zwei Parteien in Souta stritten. Irgendwie hatte er gerade spontan Lust bekommen, Seraphim für seinen Kommentar hier oben zu zeigen, wie beweglich er tatsächlich war und wie wenige Sorgen er sich machen musste, dass er abstürzte, andererseits war Essen so eine Art Zauberwort, was sich sogar über den ausgeprägten Spiel- und Sexualtrieb des Magiers stellen konnte und dies auch regelmäßig tat. Wenn er so zurückrechnete, hatte er seit dem Zug nichts mehr gegessen und das war schon eine ganze Weile her, also war es höchste Zeit, dass er etwas Anderes zwischen die Beißer bekam als einen schnöden Apfel. Irgendwo musste es hier doch eine Speisekammer geben und wenn er dem Schwarzhaarigen schon nicht ins Gesicht schlagen konnte, so war er vielleicht dazu in der Lage, seine Nahrungsmittelvorräte zu dezimieren. Nicht, dass er das absichtlich tat, aber zur Not konnte man sich ja immernoch darauf berufen, dass die Verpflegung seiner Arbeitskräfte zum guten Ton gehörte. Abgesehen davon war ihm weniger wichtig, was die Gilde von seinen Taten hielt, was wohl auch der Grund war, wieso er zwar eine tolle Waffe, aber nicht mehr Verantwortung in Form eines Ranges bekommen hatte. Dafür hatte er in der letzten Zeit andere Dinge geübt, die er nun anwenden konnte, war das nicht großartig? Souta schnaubte Seraphim in Ermangelung einer schlagfertigen Antwort lediglich theatralisch an und streckte dann den Arm aus, welcher leicht zu leuchten begann und sich dann drastisch verlängerte. Mit einem Sprung segelte Souta über den Abgrund, schwang sich an seinem kurzfristig zu einer Kette mutierten Gliedmaße affengleich auf einen niedrigeren Vorsprung und landete dann graziös wie immer auf der Erde, wo er sich den nicht vorhandenen Staub von der Kleidung klopfte und das Haus betrat. Wo bewahrten Menschen normalerweise ihre Nahrungsmittel auf … Blöd, dass sie keine Pläne bekommen hatten, so musste er wohl erst ein paar Räume checken, bis er den Richtigen gefunden hatte ...

Zum Glück hatte der Himmelsmagier damit gerechnet, dass Souta auf seine Unterstellung leicht beleidigt reagieren , sodass er nun nicht bestürzt deswegen war. Das passierte schneller, als man denken könnte, wenn man ihn kannte und dummerweise wusste der Rothaarige das. Im Allgemeinen war es für ihn sehr leicht, Seraphim zu Dingen zu bringen, die er sonst vielleicht nicht getan hätte, wenn er seine Karten richtig ausspielte, aber wenn ich der Dragonslayer darauf vorbereitete, bekam er wenigstens kein schlechtes Gewissen, wenn er nicht spurte. Gerade war es sowieso für ihn besser, wenn der Kettenmagier auf dem Boden in Sicherheit war und seinen Hunger stillen konnte. Er brachte hier oben auch nichts, wenn er nur herumhampelte, denn so würde keiner der Magier einen möglichen Angreifer bemerken, wenn er Seraphim ablenkte. Der Weißhaarige seufzte, nachdem Souta weg war und stand wieder auf, um sich zum höchsten Punkt des Daches zu begeben. Manchmal war es besser, allein zu sein. Er konnte den Wind über seine Haut wehen fühlen, wie er durch seine Haare streichelte und den Geruch des Hauses von ihm entfernte. Damals hatte diese Aufgabe das Wasser eines kleinen Baches übernommen, auch wenn es nicht einmal einen Bruchteil davon hatte wegwaschen können. Wasser mochte ein gutes Reinigungsmittel sein, aber es konnte keine Gefühle ertränken. Ihm war der halbe Körper aufgrund des eisigen Wassers eingeschlafen, aber er hatte es begrüßt, weil die Kälte auch seine Schmerzen betäubt hatte. Am nächsten Morgen hatte er zurück zu dem Treffpunkt mit seiner Mutter gemusst, was sich als deutlich komplizierter als erwartet herausgestellt hatte, wenn man nur humpeln konnte und danach hatte er erklären müssen, was passiert war. Selbstverständlich hatte Grandine nicht lange gebraucht, um die Wahrheit herauszufinden, aber weil der weißhaarige Junge sich hartnäckig geweigert hatte, darüber zu reden, hatte sie ihn nur in ihr heilendes Licht gehüllt und es als Lebenserfahrung abgeschlossen. Sie hatte ihn immerhin gewarnt, dass so etwas passieren konnte, wenn er seine Finger nicht bei sich halten konnte und er hatte ihr wie so oft nicht gehorcht, also war er selbst daran schuld gewesen. Außerdem hatte er ihr schlecht sagen können, welcher der Menschen in diesem Dorf das nun gewesen war, weil sie kaum in einem Dorf auftauchen wollte und ungehemmt Haus um Haus zerstören konnte, nur weil man ihrem Ziehsohn Gewalt angetan hatte. Für sie waren solche Dinge wahrscheinlich nur sekundär von Interesse, weil das einfach zu den Dingen gehörte, zu denen sie keine Beziehung hatte. Sie war einfach ein ziemlich unantastbares Individuum und das machte ihr Verständnis von solchen trivialen Dingen unmenschlich schlecht... allerdings war das wohl bei vielen Drachen so, dass sie unmenschlich gelassen bleiben konnten. Zumindest hatte sie verstanden, warum er sich in den folgenden Nächten ganz eng an sie geschmiegt hatte, obwohl ihre Schuppen kalt und hart waren. Wahrscheinlich würde er das heute Abend mit Souta tun, ihn als menschliches Kuscheltier missbrauchen und ihn bis zum nächsten Morgen nicht mehr loslassen, auch wenn er sich nicht sicher war, inwiefern er das gut aufnehmen würde. Normalerweise tat er das nämlich nur nach eindeutigen Aktionen, die heute vielleicht flach fallen würden, da er keine Motivation hatte, sich aus einer gefühlt meterdicken Schicht aus Stoff zu pellen.

Währenddessen suchte sein Teddysouta die Villa unter ihnen nach Essbarem ab und verhielt sich dabei ziemlich suspekt. Zumindest sah das der schwarzhaarige Riese so, der bereits einige Zeit im Hintergrund herumlungerte und die Bewegungen des Einäugigen beobachtete. Er verhielt sich vollkommen still, wie ein im Schilf lauernder Leopard und versuchte herauszufinden, was der Magier genau suchte. Das ganze geschah viel zu heimlich, als dass es dem Auskundschaften des Hauses dienen konnte, aber da Seraphim nicht bei ihm war, musste man wohl kaum vom Schlimmsten ausgehen. "Kann ich dir irgendwie helfen, Souta?", fragte er schließlich mit freundlicher Stimme und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

So ganz ohne seinen privaten Drachen war es eigentlich keine allzu schlechte Idee, sich in der Nacht an Souta zu kuscheln. Seraphim konnte an ihm nicht nur emotionalen Beistand finden, jeder andere Mensch war außerdem ziemlich sicher in seiner Gegenwart. Es mochte nicht immer ganz klar werden, weil der Rothaarige durch die einnehmende Persönlichkeit seines Freundes, der Wirbelstürme beschwören und Wände mit einem Handwischen einreißen konnte, geradezu in den Schatten gestellt wurde, aber eigentlich war der junge Mann mit der Augenklappe ziemlich gut als Beschützer geeignet. Er war schnell, geschickt und ganz davon abgesehen hatte er gewisse Reflexe, so dass er Bedrohungen relativ leicht ausschalten konnte, sobald sie sich zeigten. Die einzige Lücke in diesem Plan war die Tatsache, dass sich Soutas Schlaf extrem daran anpasste, wo und unter welchen Umständen er eingeschlummert war. Wenn er alleine war, schlief er extrem schlecht, warf sich oft hin und her und erwachte manchmal schon zitternd, bevor er überhaupt in die Traumwelt eintauchen konnte. Schlief er allerdings neben einer anderen Person, war das Ganze drastisch umgekehrt. Souta konnte innerhalb von Sekunden an, auf und unter seinen Mitmenschen einschlafen, egal ob er beim Lesen auf dem Sofa einnickte, aufgeheizt und verschwitzt auf die Laken fiel oder im Kreise verschiedenster Arme einschlummerte. Allerdings war er wahrscheinlich wirklich nicht allzu gut für Kuschelstunden und Löffelchenliegen geeignet, weil er sich, sobald er eingeschlafen war, nämlich sehr aktiv bewegte. Seraphim hatte die Angewohnheit, auf magische Weise seine Decke zu verlieren und es war schon das ein oder andere Mal vorgekommen, dass sich der Kettenmagier am Morgen nicht nur verschlafen, sondern auch verknotet vorgefunden hatte. Dazu kam noch, dass Souta schnarchte und eine gewisse Affinität zum Sabbern hatte, was vermutlich nicht so attraktiv war, doch bisher hatte sich noch niemand beschwert, weil alle Menschen, mit denen der Rotschopf sein Bett teilte entweder vorher positiv geprägt worden waren oder großzügig über seine kleineren Macken hinwegsahen. Abgesehen davon waren seine Atemgeräusche nachts auch nicht so laut, dass man sich ernsthaft gestört fühlen könnte ... Zumindest glaubte er das. Trotz allem war er allerdings ein sehr guter Beschützer, was mitunter daran lag, dass er Erfahrung damit hatte, sich Bedrohungen wacker zu stellen. Wahrscheinlich war er deshalb auch furchtlos und unbeschämt, als er sich umdrehte und direkt in das Gesicht ihres Auftraggebers blickte, der ihn irgendwie trotz der Tatsache, dass er von dem Kettenmagier beleidigt worden war, gar nicht so unfreundlich behandelte. Woran auch immer das liegen mochte, er wusste es nicht, doch es interessierte ihn auch nicht übermäßig. Wo er sich bei jeder anderen Person gefreut hätte, dass er jemanden gefunden hatte, der ihn auf den richtigen Weg bringen konnte, entglitten ihm einen Augenblick lang seine Gesichtszüge und er konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie er einen Teenager schlug, der sich nicht wehren konnte, wie er auf einen sich krümmenden Jungen eintrat und dabei lächelte ... So wie Souta, der gerade eine Idee gehabt hatte. Ein wenig verlegen kratzte sich der Rotschopf deshalb am Hinterkopf und legte seine andere Hand auf den flachen Bauch, um nicht doch noch aus Versehen zuzuschlagen und seiner folgenden Aussage auch symbolisch unter die Arme zu greifen: “Ich hatte Hunger und ... Habe ehrlich gesagt nach etwas Essbarem gesucht.” Das klang sicherlich unverschämt, aber was sollte er schon machen, früher oder später erfuhren alle Menschen von seinem Phantombandwurm, so war eben der Lauf der Dinge. “Ich ... Sie hätten nicht zufällig Zeit, mir den Weg zu zeigen?” Eigentlich wollte er so wenig Zeit wie möglich mit diesem Kerl verbringen, allerdings war er nach der letzten Informationsladung irgendwie interessiert, was für eine Art von Mensch Wehrlose verprügelte. Loire hatte auf ihn nicht bösartig gewirkt, wenn er ehrlich war, vielleicht etwas überheblich und selbstgefällig, aber eben nicht wie ein typischer Schurke. Womöglich würde er ja endlich erfahren, was an dieser Sache so faul roch, wenn er ein Gespräch mit diesen Typen führte und ihn ein wenig länger aushielt.

Während der Dragonslayer auf dem Dach seinen Gedanken nachhing und sich nebenbei einen kleinen Snack gönnte, stand Souta in der Villa unter ihm ihrem Auftraggeber gegenüber, gegenüber dem er einen Groll hegte, obwohl er sich kein Fehlverhalten bei Souta erlaubt hatte. Die Wahrheit war nämlich, dass Christophe Loire ein sehr zuvorkommender und insofern eigentlich auch netter Mensch war. Inzwischen arbeitete er auf hohem Posten für die Regierung, aber so hatte er seine Karriere nicht angefangen, sondern mit etwas, das Souta doch sehr ähnlich war, selbst wenn dieser das nicht wissen konnte. Auf die tatsächlich etwas dreiste Frage des Einäugigen zog er die Augenbrauen hoch und stellte fest: "Ich nehme aber an, dass du vorher fragen wolltest, ob du dir davon etwas nehmen kannst." Das war keine Frage gewesen und es wurde recht deutlich, dass er einen Essensklau nicht besonders gut geheißen hätte, aber gleichzeitig schien er auch nicht darüber streiten zu wollen, was vielleicht passiert wäre. Er hatte ihn ja noch vorher getroffen, sodass nichts unrechtmäßiges geschehen war. Loire lächelte und streckte die Hand zur Seite aus, wie um dem Kettenmagier den Vortritt zu lassen. "In diesem Fall geht es her entlang." Er wartete, bis Souta zu ihm aufgeschlossen hatte und setzte sich dann selbst in Bewegung. Nach ein paar Schritten drehte er den Kopf zu dem Rothaarigen und musterte ihn kurz, ehe er wieder nach vorne blickte. "Du wirkst recht kräftig für einen Magier... was für eine Magie übst du aus?", fragte er mit interessierter Stimme und bog danach nach rechts ab, scheinbar um eine Abkürzung durch ein großes Zimmer mit Kamin zu machen, in welchem ein großes Gemälde an der Wand hing, das eine junge Frau in einem türkisfarbenen Kleid zeigte. Plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen und räusperte sich. "Bevor ich es vergessen, dein... Kollege... ist noch auf Posten, denke ich? Ansonsten wäre es unklug, beide meine Wächter abzulenken." Schwarze Augen blickten zu Souta hinüber, Loire wartete offenbar auf eine Antwort. Das Zögern in seinem Satz war recht offensichtlich gewesen, sodass man davon ausgehen durfte, dass die Bezeichnung Kollege nur ein Platzhalter für etwas anderes sein sollte. Ob es sich dabei eher um eine Schmähung oder um eine Vermutung gehandelt hätte, war zwar unsicher, aber ein Lob würde es wohl kaum gewesen sein, nicht, wenn es um Seraphim ging.

Besagter Dragonslayer war soeben auf dem Dach zu der Erkenntnis gekommen, dass er Souta dazu überreden musste, dass er seine Mutter besuchte. Nicht Seraphims, sondern die des Rothaarigen selbst, auch wenn er wusste, dass er sich von ihr losgesagt hatte, weil ihn Schuldgefühle wegen des Todes seiner Schwester quälten. Irgendwie wurde der Weißhaarige gerade emotional und hatte das Gefühl, er müsse ihm erklären, wie wichtig eine Familie war, wenn man schon eine hätte. Gut, dass der Rothaarige gerade nicht anwesend war, denn so hatte er noch Zeit, das ganze zu überdenken. Man wollte immerhin nicht den Zorn des Kettenmagiers auf sich ziehen, auch wenn dieser sicherlich höchstens ablehnend reagieren würde, nicht aber wütend. Das war auch eine schöne Eigenschaft von Souta, seine Gutmütigkeit, solange sein Magen voll war. Auch deswegen war es besser gewesen, ihn nach unten zu schicken - hätte ja keiner ahnen können, dass er mit Lore zusammen stoßen würde. Hätte Seraphim das gewusst, hätte er sicherlich nicht so ruhig auf seinen vier Buchstaben sitzen können.

Natürlich hätte Souta sich erkundigt, ob er von den Nahrungsmittelvorräten des Schwarzhaarigen naschen durfte – das war ja wohl etwas, was zum guten Ton gehörte und alle wussten, dass der Rotschopf ein überaus höflicher und rücksichtsvoller Zeitgenosse war. Na ja. Eigentlich hatte er eher darauf gehofft, eine Küche zu finden und der dort arbeitenden Person mit seinem Charme eine Mahlzeit zu entlocken, weil das Einzige, was sein Verlangen nach gutem Essen noch steigerte dasjenige Essen war, welches er nicht selbst zubereiten musste. Die Kochkünste des Kettenmagiers waren nämlich stark limitiert und endeten gerne einmal in Chaos. Vielleicht war es deshalb ständig pleite, weil er sich immer alles bestellen oder fertig kaufen musste … Jedenfalls sah man im Gesicht des mutmaßlichen Diebes keinerlei Scham oder Reue über seine Tat, stattdessen freute er sich eher darüber, dass der Kerl ihn zu seinem Lager oder seiner Kochstube bringen würde, damit er dort das leibliche Wohl wiederherstellen konnte, das bei ihm ja schon innerhalb weniger Stunden in großer Gefahr schwebte. Souta folgte dem Mann, oder ging eher etwas vor ihm, was ihm recht unbehaglich vorkam. Er bewegte sich ungerne mit dem Rücken zu Personen, denen er nicht vertraute, weil er sie so nicht im Auge behalten konnte. Bei ihm war das zusätzlich noch schwer, weil er rechts einen gigantischen toten Winkel hatte, der in solchen Situationen wirklich äußerst hinderlich war. Wie es schien, würde er diesen lästigen Umstand in Kauf nehmen müssen, wenn er wie geplant mit dem Riesen reden wollte, der ehrlich gesagt wirklich nicht wie ein Bürohengst aussah. Eine Weile überlegte er, wie er das Thema am besten anschneiden konnte, doch Christophe kam ihm zuvor und stellte seinerseits Fragen, alle sehr interessiert und höflich. Er benahm sich wirklich nicht so, wie er das von ihm erwartet hätte und hatte sogar über seinen Fauxpas mit dem Herumschnüffeln hinweggesehen, was Souta allgemein eher verwirrte. Wieso war er so nett und freundlich, wo er doch eigentlich biestig und gemein sein sollte, um in das Schema zu passen? Unter anderen Umständen wäre dieser bodenständig wirkende Typ sogar sympathisch für den Rotschopf, doch soweit würde es nicht in tausend Jahren kommen, solange er seine Meinung über ihn nicht gänzlich änderte. Und das würde schwer werden, weil er Seraphim deutlich mehr Glauben schenken würde als diesem Typen, sollte es zu einer Diskussion der beiden kommen … Er war also recht kräftig? Wollte dieser Kerl ihn veräppeln oder so? Jeder Blinde sah wohl, dass er kein Magier war, schließlich schleppte er hier einen halben Waffenladen mit sich herum … Doch er blieb freundlich, also nahm auch Souta das eher als Interesse auf und ignorierte die Tatsache, dass Lore vielleicht einfach blöd war oder ihn vielleicht sogar verspotten wollte. „Ich bin kein richtiger Magier. Ich meine, Ketten und Feuer, klar, aber ich bevorzuge den fairen Kampf Mann gegen Mann.“ Ja, das war eventuell ein Seitenhieb, aber ganz verkneifen konnte er sich das wirklich nicht. Solange er nicht allzu sehr ins Detail ging, würde das auch sicherlich nicht weiter auffallen. Interessanter war die hübsch gekleidete Frau an der Wand und die zweite Frage des Mannes. Man konnte sich nicht so recht entscheiden, ob das abfällig oder neugierig war, doch das Stocken vor Seraphims Betitelung war ziemlich offensichtlich und weckte in Souta den Drang, die Dinge richtig zu stellen. Beinahe aus Reflex wollte er alles leugnen und abstreiten, bis ihm einfiel, dass das eine Lüge wäre. Das passierte ihm öfter, aber er schaffte es langsam, sich nicht mehr allzu sehr anmerken zu lassen, was er von ihrer neuen Konstellation hielt. Grundsätzlich war es ja sehr angenehm, aber gegenüber anderen darüber zu reden war noch immer kompliziert. „Das hier ist nicht unsere erste Quest“, meinte er deshalb und schaute zu dem Schwarzhaarigen hoch, ehe er ähnlich wie bei Seraphims Kommentar über seine Turnübung die Augenbraue nach oben zog. „Wir verlassen unseren Posten nicht einfach so und ich werde auch dorthin zurückkehren, wenn ich etwas gegessen habe. Ich bezweifle, dass mein Freund währenddessen einen Ausflug macht. Wer ist das auf dem Bild?“ Das Thema war für ihn erledigt, schließlich waren sie keine Baby-C-Rangmagier mehr und das sollte Lore eigentlich wissen ... Also lieber zu anderen Themengebieten, aus denen er vielleicht ein paar mehr Informationen fischen konnte.

Wäre Seraphim anwesend gewesen und hätte sein grundsätzlich eher mangelhaftes Selbstbewusstsein in Anwesenheit von Loire mitgespielt, dann hätte ihm Soutas Satz sicherlich ein breites, ehrliches Lächeln auf das Gesicht gezaubert. Obwohl er wusste, dass es keinen sprachlichen Unterschied zwischen Freund und Freund gab und sie sicherlich schon immer das eine davon gewesen waren, hätte er sicherlich auch das andere hineininterpretiert, egal, wie Souta das nun gemeint hatte. Seraphim war ja grundsätzlich kein naiver Mensch, aber wenn Souta auch nur im Entferntesten auf ihre Beziehung anspielte, war er sofort Feuer und Flamme und hätte ihm wahrscheinlich alles abgekauft, auch wenn das so vielleicht gar nicht stimmen würde. Er hatte sich lange Zeit darüber geärgert, dass er keine Chance hatte, wirklich bei Souta zu landen, weil dieser kein wirkliches Interesse an ihm hatte, hatte sich sogar manchmal ob des Geschlechts gegrämt, welches ihm Mutter Natur verpasst hatte und dann wieder über Soutas lächerlich heterosexuelle Ausrichtung. Als es dann schließlich so weit gekommen war, dass seine Gefühle aufflogen, hatte der Kettenmagier ihn kurzzeitig verlassen, sodass er nun, wo sie wirklich und wahrhaftig zusammen waren, im Grunde genommen ziemlich klammerte. Er wollte die kleine Stimme in seinem Kopf immer seltener wahrhaben, die ihm flüsterte, dass Souta sicherlich nicht spontan schwul geworden war und dass er ihn vielleicht nur ausnutzen könnte, weil er so zufrieden damit war, dass er ihn bei sich hatte. Er hatte zu viel Sorge vor erneuter Distanz, um ihn zu sehr zu bedrängen oder ihn gar über die Dinge auszufragen, die ihn bedrückten, denn das könnte ihn ja erneut verscheuchen, sodass er wieder ganz allein da stünde. Wäre diese Angst nicht, würde er zum Beispiel in Erfahrung bringen wollen, ob der Kettenmagier wirklich, ganz wirklich, auch nur ansatzweise die Gefühle für ihn hegte, die er ihm jeden Tag hinterher warf... wobei er dabei zusätzlich noch Sorge vor einer negativen Antwort hatte, vielleicht, weil er sie irgendwo in sich bereits erahnte.

"Dein Freund?", fragte Loire und seine Stimme klang kurzzeitig ein wenig schärfer, als wolle er noch hinzufügen, dass er hoffte, dass seine vorherige Warnung nicht untergegangen sei. Doch er besann sich eines besseren und blickte zu dem Gemälde der Frau hinüber. Der Ausdruck, der kurz über sein Gesicht huschte, ehe er sich wieder fing, hätte als Schmerz interpretiert werden können. "Meine Frau, als wir uns kennen gelernt haben... sie verstarb bei der Geburt unserer totgeborenen Tochter. Wollen wir dann weitergehen?" Auch das war keine Frage, denn er setzte sich sofort in Bewegung, ein wenig hastiger vielleicht, als wolle er dem gemütlichen Raum mit dem lebensgroßen Portrait entfliehen, den Kettenmagier im Schlepptau. Wer hätte gedacht, dass überproportional ausgeprägte Beschützerkomplexe gegenüber der Familie meistens sogar einen Grund hatten? Wäre Seraphim jedoch anwesend gewesen, so hätte Loire wahrscheinlich weder geantwortet, noch hätte der Himmelsmagier auch nur die Spur Mitleid gezeigt, weil ihn derartige Geschichten nicht interessierten. Wahrscheinlich war das auch der Grund, warum sie so gar nicht miteinander harmonisierten, was eine eigentlich sehr ironische Tatsache auf den Tisch stellte: Wäre Seraphim dem Schwarzhaarigen auf anderem Weg begegnet und vielleicht ein- oder zwei Jahre früher, hätte dieser ihn wahrscheinlich adoptiert, um ihn aus dem Wald herauszuholen. "Pass gut auf deine Familie auf, Souta... sonst ist es irgendwann zu spät.", meinte der Schwarzhaarige, ohne sich zu ihm umzudrehen oder stehen zu bleiben und schritt einen weiteren Gang entlang.

Wäre Souta ein wenig dramatischer, ein wenig mehr darauf bedacht, das Mitleid seiner Mitmenschen zu erheischen, hätte man nun vielleicht soetwas wie „Ich habe keine Familie“ von ihm zu hören bekommen, aber glücklicherweise behielt er solche Gedanken allgemein für sich – abgesehen davon, dass sie nicht ganz der Wahrheit entsprachen. Der Kettenmagier mochte zwar niemanden besitzen, zu dem er abends heimkam und er hatte auch keinen Kontakt zu seinen biologischen Verwandten, seit seine Stimme begonnen hatte, tiefer zu klingen, doch für den Rotschopf war Familie sowieso ein Begriff, den man nicht durch Blut definierte. Das kam ihm sehr gelegen, da er dadurch zum Beispiel auch seinen Vater aus seiner Definition von Verwandtschaft schmeißen konnte, während er andere gerne einmal hinzufügte, sobald sie sich sein Vertrauen verdient hatten. So gesehen bestand Soutas Familie momentan aus genau einer Person, die momentan alleine auf dem Dach saß und ganz nach dem Motto des Schwarzhaarigen seinen Schutz und seine Zuneigung genießen durfte. Es hatte ihn ein wenig verwundert, dass Loire ihm einfach so intime Erinnerungen erzählt hatte, die mit seiner Frau und seiner Tochter zutun hatten und ihm vermutlich mehr als alles andere schmerzten. Auch das passte nicht in sein Bild von ihm … Seit wann waren böse Menschen zu solchen Gefühlen fähig? Erwartete er nun, dass er auf seinen Ratschlag antwortete, als er sich in Bewegung setzte, oder war das nur eine Aufforderung zum Schweigen gewesen? Auf die Betonung des Wortes „Freund“ würde sich der Kettenmagier jedenfalls nicht weiter stürzen, sondern einfach alles ignorieren, bis er unverblümt gefragt wurde. Man musste ja nicht unbedingt lügen, solange man sich einfach vornahm, eben nicht die Unwahrheit zu sagen, wenn man direkt damit konfrontiert wurde, oder? Über seine Familie würde Souta wahrscheinlich keine Worte verlieren, weil er das nur sehr ungerne tat. Zum Einen hätte ein wenig Ehrlichkeit sicherlich gut geholfen, um eine emotionale Verbundenheit zu dem Größeren vorzutäuschen und sich dadurch Informationen zu erschleichen, andererseits wollte er nicht, dass dieser Kerl ihn mochte oder gar bemitleidete. Vielleicht konnte man einen Mittelweg finden, der nicht zuviel verriet? Der Kettenmagier spazierte hinter dem Anderen her und bemerkte kaum, dass er an einen seiner Fingernägeln herumkaute, bis er den Mund öffnete, um zu sprechen. „Ach, ich will sowieso keine Kinder.“ Das klang für ihn untypisch emotionslos (und war auch nicht zwingend wahrheitsgemäß), allerdings war das ein Phänomen, das man bei Souta öfter beobachten konnte. Seine Vergangenheit war ein unschönes Thema für ihn, deshalb ging er mit einer Ernsthaftigkeit an das Subjekt heran, die man so nicht von ihm kannte. Bei dieser Sache war er nicht nur ein wenig näher am Wasser gebaut als sonst, sondern auch stur wie ein Ziegenbock, weswegen schon die Hölle zufrieren müsste, damit er sich beispielsweise mit seiner Muter versöhnte oder er gewisse Prinzipien über Bord warf. Die Tatsache, dass eben diese ihn wahrscheinlich nicht einmal dafür hasste, was damals geschehen war und ihn sehr sicher mit offenen Armen empfangen würde, war ebenso wenig tröstend wie erleichternd. Sobald die Sache mit seiner Schwester sich klären würde, konnte sich Souta nämlich nicht mehr hinter der Schuld als Universalausrede verstecken und würde tiefer bohren müssen, um seinen Selbsthass zu ergründen, was nicht nur unangenehm war, sondern unter Umständen auch erschreckend. Manchmal wollte man eben nicht wissen, wie finster und kaputt man vielleicht wirklich war, er handhabte das eher nach der Masche, bei der man alles unter den Teppich kehrte oder in einen nahen Behälter stopfte. Solange Platz da war, würde es schon niemandem auffallen … „Aber machen Sie sich keine Sorgen, ich passe gut auf das auf, was ich habe. Wohnen Sie hier eigentlich allein?“