Leere hatte Naomi ihrer Träume beraubt, bis ihr Körper sich wieder so weit erholt hatte, dass er aus seinem komatischen Zustand in einen ruhenden gewechselt war. Dann erst nahm sie auch Ren wieder wirklich war, dessen Nähe bisher nur wie ein warmer Schleier gewesen war, an den sie sich geklammert hatte, doch da war mehr. Ein schnelles aber doch beruhigendes Herz, eine Hand, die sich beruhigend über ihre gelegt hatte und diese hielt. Sie fühlte sich behütet und besser als zuvor. Ihr Gesicht hatte sich eng an die Brust des Magiers geschmiegt und mit jedem Atemzug konnte sie wahrnehmen, dass er da war. Sein wunderbarer Geruch stieg ihr in die Nase und es war angenehmer als der schale Geruch von menschlichem Leben, dem sie sonst ausgesetzt war, übertüncht von Deodorant und schrecklich stinkendem Parfum, von dem manchmal scheinbar zu viel genommen wurde. Irgendwas jedoch berührte sie am Kopf, es war etwas Fremdes, nicht hart, aber ungewohnt, weshalb sie aufschreckte und die Augen aufschlug. "Entschuldigen sie Miss", ein älterer Herr, der scheinbar neben ihnen gesessen hatte, war wohl gerade im Begriff aufzustehen und seine Jacke hatte beim Anziehen ihren Kopf berührt. Nichts wovor man sich als fürchten musste, aber Naomi war eben sehr schreckhaft geworden, wenn es um ihren Schlaf ging.
Kurz winkte sie ab und kuschelte sich dösend zurück an den Freund, der ebenfalls etwas Ruhe gefunden zu haben schien, bis sie sich die Frage stellte, wo sie eigentlich waren. Eine Lautsprecherdurchsage gab ihr Aufschluss darüber, sie würden gleich Oak Town erreichen, das Ziel ihrer Reise, weshalb sie vorsichtig ihre Wange an Rens Hand rieb. "Wir sind gleich da Akuma", sie erinnerte sich, dass er sie gebeten hatte, ihn nicht Ren zu nennen, wenn andere dabei waren, daran würde sie sich halten, immerhin machte dies die Tatsache, dass sie den Namen dennoch wusste zu etwas Besonderem und ihr gefiel dieser Gedanke doch sehr. Zufrieden stellte sie fest, dass er scheinbar wie gewohnt ihre Hand gehalten hatte, es war schön zu sehen, dass er sich ebenfalls erinnerte. So viele wunderbare Erinnerungen auf einmal ließen ihr ein wenig das Herz flattern, weshalb sie liebevoll lächelte, bevor sie sich langsam aber sicher vom Schoß ihres Freundes als der Zug in seinen Bahnhof einrollte. Doch die Hand, welche sie sicher hielt, diese ließ sie nicht los, sie wollte nicht verloren gehen, nicht in einer fremden Stadt und besonders nicht von Ren. Mit einem recht ungemütlichen Ruckeln kam der Zug zum Stehen, der einige der Passagiere zum Wanken brachte, doch Naomi hatte ihren Fels in der Brandung.
Sanft ließ sie sich von dem taumenlden Alten vor sich gegen Ren drücken, dort war sie sicher, dort fühlte sie sich wohl und angenehm geborgen. Dennoch war es schön, als sich die Menschen in Bewegung setzten und sie endlich aus dem Zug aussteigen und auf den Bahnsteig gelangen konnte. Beim Aussteigen jedoch musste sie sich von der Hand des Riesen lösen, etwas was sie nur widerwillig tat, aber die Konstruktion dieser Fahrgelegenheit verlangte dies scheinbar von ihr. Nun stand sie auf dem Bahnstieg und wartete, dass er wieder neben ihr stand.

Entgegen seiner Erwartungen war Ren in einen erstaunlich tiefen Schlaf gefallen. Ursprünglich wollte er nur noch einmal kurz die Augen schließen und die Ruhe genießen, doch da war er schon recht schnell in einen recht tiefen Traum versunken, an den er sich hinterher glücklicherweise nicht erinnern würde. Nun hatte er seinen Kopf nur leicht an den der Blondine gelehnt und schlief ruhig atmend vor sich hin. Eigentlich hatte Ren in letzter Zeit recht viel Ruhe gehabt und war nicht sonderlich müde, doch gerade fühlte er sich ausnahmsweise mal wohl genug, um einfach mal die Seele baumeln zu lassen und sich nicht den Kopf mit nichtigen Sorgen zermartern zu lassen. Auch wenn es ihm selbst nicht so bewusst war, sein Körper reagierte sofort, als Naomi begann sich zu bewegen und er war nur noch im Halbschlaf. Als das Mädchen ihn also anfasste, öffneten sich die silbernen Augen sofort und er war hellwach. Er blickte ihr ins Gesicht, während sein Herzschlag sich vor lauter Schreck beschleunigte und blinzelte einige Male bis er realisierte was hier passiert war. Auch ihre Worte machten in seinem Kopf jetzt erst so richtig Sinn. Sie waren gleich da? Richtig, Oak Town. Da war ja was… Seufzend richtete der Akuma sich auf und schnappte sich die Taschen der beiden, als er bemerkte, dass das Mädchen seine Hand noch immer nicht losgelassen hatte. Die beiden standen nun im wackelnden Zug, genau wie massig andere Leute, wodurch es relativ eng wurde. Ren schien dies allerdings so gar nicht zu stören, abgesehen davon, dass er sich ständig umsah, ob ihm nicht jemand zu nahe kam. Das Wackeln und Ruckeln des Zuges störte den Hünen recht wenig. Er musste sich nicht einmal wirklich festhalten um das Gleichgewicht zu halten, da eine solche Erschütterung ihm nicht viel ausmachte. Dass es Naomi da anders ging, merkte er deutlich daran, dass sie es schwer hatte und sich an ihn drückte. Ren beschloss nichts weiter zu tun als ihre Hand weiterhin zu halten, bis sie an der Zugtür angekommen waren…
Als sich besagte Tür öffnete, stürmten viele Passagiere nach draußen und wäre Ren nicht der starke Riese der er eben war, wäre selbst er vermutlich einfach umgestoßen worden. Fast peinlich genau achtete der Hüne darauf, dass niemand dazu kam seine Begleiterin zu schubsen und ließ sie immer vor sich gehen, wo sie vor herannahenden Passagieren geschützt war. Zum Aussteigen musste sie wohl oder übel mal seine Hand gehen lassen, denn ganz so lang war sein Arm nicht, um das hinzubekommen. Als sie auf dem gepflasterten Boden des Bahnhofes standen, wich Ren ein Stück von der Tür weg und sah sich erst einmal um. Oak Town war wieder eine neue Stadt für den jungen Mann. Darum musste er sich zunächst orientieren. Nie zuvor hatte er einen solchen Nadelwald sehen können und generell war es hier deutlich grüner als der Hüne es gewohnt war. Skeptisch blickte er durch die grüne Gegend und sah dann hinunter zu Naomi, wo er deren Hand wieder ergriff. Dann ging er gemeinsam mit dem Mädchen von dem Bahnsteig hinunter in Richtung des Stadtzentrums, wo er sich nun so überhaupt nicht auskannte. „Ich würde sagen, dass wir, bevor wir hier richtig loslegen, uns einmal umhören sollten, was die Passanten dazu zu sagen haben… Vielleicht unterhält sich ja auch ohne Nachfrage jemand darüber…“ Ren kratzte sich mit der freien Hand am Hinterkopf und sah sich um wo man am besten langgehen konnte. Dann übernahm er die Führung und ging in die Richtung, wo er das Zentrum der Stadt vermutete. Während sie zu laufen hatten, kam Ren eine Frage in den Sinn, die ihm nun auf der Zunge brannte. Allerdings war er eigentlich zu stolz, um nach solchen Dingen zu fragen. Darum sah er sie mehrmals kurz wortlos an, bis er fast schon nebensächlich murmelte: „Sag mal… Gehst du eigentlich so mit allen Menschen um?“ Sie verstand hoffentlich was er meinte. Es ging ihm absolut nicht um ihre freundliche Art, sondern viel mehr darum, dass sie unwahrscheinlich viel Körperkontakt zu anderen suchte… Dass es ihm dabei hauptsächlich um den Umgang mit männlichen Personen ging, konnte er sich eigentlich sparen zu sagen. Frauen sprangen sich öfter an den Hals, als Ren es überhaupt verstehen konnte. Aber auch Naomis Verhalten war speziell. Er selbst konnte das nicht nachvollziehen und fragte sich irgendwie, ob das etwas mit ihm zu tun hatte. Was er für eine Antwort darauf bevorzugte, konnte er aber schwer sagen… Wie würde man darauf wohl reagieren?

Als er zu ihr auf den Bahnsteig gekommen war, griff er nach ihrer Hand, eine gewohnte Geste, die sie sehr zu schätzen wusste. Eben im Zug hatte er auch ganz selbstverständlich auf sie aufgepasst, mit seinen breiten Schultern ihre zarte Gestalt abgeschirmt. Wenn sie sich recht erinnerte, hatte er sogar mit ihr im Zug geschlafen. Auf ihrer letzten Quest waren sie auch Zug gefahren und da hatten sie ein merkwürdiges Streitgespräch gehabt, nie hätte sie bei dem Anfang geglaubt, dass sie irgendwann an seiner Brust liegend schlafen würde. Es tat gut zu wissen, dass es für sie einen Menschen wie ihn gab. Was ihre Informationen anging, schienen sie in diesem Fall sogar noch weniger zu wissen, als vorher, denn hier hatten sie nicht mal einen wirklichen Ansprechpartner, an den sie sich für ein paar Informationen wenden konnten, denn scheinbar mussten sie alles aus der Luft sieben. Keine wirklich tolle Sache, denn das war schon bei dem letzten Unterfangen nicht einfach gewesen und da wussten sie zumindest, woher sie Informationen bekommen konnten. Nun gut, in diesem Fall reichte wahrscheinlich auch eine normale Zeitung und das Gerede der Leute, aber wie fand man in einer so großen Stadt heraus, wem genug man eigentlich zuhören musste, um die richtigen Dinge zu hören? Naomi hatte keine Ahnung.
Wo sie gerade beim Zuhören war, hatte sie Ren gerade wirklich vernommen? Klar im Zentrum der Stadt war es laut und er hatte ganz schön in den nicht vorhandenen Bart gemurmelt, aber es hatte danach geklungen, als hatte er sie gerade gefragt, ob er etwas, oder vielmehr jemand Besonderes für sie wahr. Das Herz des Mädchens machte einen eigenartigen Sprung und sie wollte unbedingt sofort einfach ja sagen, aber das hätte seine Frage nicht ausreichend beantwortet. "Nein es gibt auf dieser Welt nur drei Menschen, denen ich auf vergleichbare weise begegne. Der erste Mensch ist wohl mein Papa, jemand den ich über alles Liebe. Der Zweite ist mein Engel, wobei ich das beschränken muss, weil er seine Grenzen hat und ich ebenfalls. Sagen wir es unterliegt seiner eigenen kleinen Etikette, in der alles in Ordnung ist, solang ich meine Position als sein Kuscheltier nicht überschreiten möchte und dann gibt es dich", sie hielt seine Hand etwas enger, "Wenn ich ehrlich bin, am Anfang hatte ich doch ein wenig schiss, weil du so rau gewirkt hast, aber du hast einen mehr als liebenswerten Kern und ich bin froh, dass du ihn mir gezeigt hast. Ich versichere dir, dass auch wenn ich gerne meine Zuneigung teile, so ist meine Liebe wirklich etwas, was man nicht leichtfertig geschenkt bekommt."
Wenn sie sich so reden hörte, wenn sie Seraphim so etwas sagen würde, dann würde ihn dies wieder zum Lachen bringen und er würde sie darüber belehren, dass er absolut kein Interesse an ihr hatte, weil es für ihn kaum etwas gab, was Liebe in Form von großer Zuneigung verkörperte. Bei ihm war es so, entweder man wollte jemanden ganz, oder gar nicht, wobei er bei ihr da schon eine gewisse Ausnahme machte, aber das war wohl alles, was man von ihm erwarten konnte. Dennoch wandte sie leicht verlegen ihren Kopf zur Seite, war es doch so, dass sie Ren in der Tat sehr liebte, weil er ein Mensch war, bei dem sie sich wohl und sicher fühlte. So sicher, dass sie in einem überfüllten Zug schlafen konnte und das sogar mit großem Erfolg. Automatisch hatte er begonnen sie zu beschützen und das tat er auch jetzt und das sogar, ohne dass sie ihn bat, er tat es einfach und es schien ihn sogar zu kümmern. Dank dieser vielen Gedanken bekam Naomi von der sich gerade total veränderten Umwelt noch nicht so viel mit.

Es dauerte nicht mal eine Minute, da stellte Ren schon wieder seinen eigenen Verstand in Frage, weil er einer anderen Person eine solche Frage gestellt hatte. Nun entschloss er sich dazu seine Zunge etwas im Zaum zu halten für die nächsten Minuten. Immerhin hatten sie sich hier auch auf einen Job zu konzentrieren und Ren sollte sich generell nicht allzu sehr mit dem Zwischenmenschlichen befassen. Da begab er sich ja ohnehin auf ein Gebiet, das er sowieso nicht verstehen konnte… Dennoch folgte auf seine Frage natürlich eine Antwort und er kam nicht drum herum sich diese anzuhören, obwohl er es gar nicht mehr so wirklich wissen wollte. Als er ihr zuhörte, konnte er nicht anders, als ihre Antwort gedanklich in Frage zu stellen. So richtig konnte er sich nicht vorstellen, dass Naomi nur ihm und wenigen anderen Personen so gegenüber war. Immerhin hatte das Mädchen nahezu von Anfang an, trotz jeder Warnung, Kontakt zu dem Hünen gesucht. Und er war nicht gerade der Typ, auf den Menschen blind und glücklich zugingen. Als sie dann jedoch aufzählte, mit wem sie so umging, ärgerte ihn dies noch mehr. Seinen eigenen Vater zu lieben war eine Sache, die er zwar nicht nachvollziehen, aber zumindest vom Verstand her begriff. Wieso sie aber dem Typen, den sie als ihren Engel bezeichnete, folgte, verstand Ren so gar nicht. Sie hatte ihm doch erst vor kurzem erzählt, dass dieser Mann noch gefährlicher war als Ren. Warum also ließ sie sich auf so jemanden ein? Ob sie wohl eine Vorliebe für „böse Jungs“ hatte? Was das für Grenzen waren, die ein Mensch zog, der noch sadistischer war als er, wollte der Akuma gar nicht wissen… Was das wohl für ein Mann war? Ren hoffte ihn niemals treffen zu müssen… Wenn der wüsste…
Als sie seine Hand fester drückte, merkte er nur wieder, was dies für ihn für eine Bedeutung hatte: Kaum eine. Selbst diese harmonische Art von Körperkontakt löste in ihm nichts aus. Der einzige Gedanke war, und das kam von seiner Vergangenheit, das Gefühl eingepfercht zu sein, wenn man ihn festhielt. Doch dieses ließ sich erstaunlich gut unterdrücken. Bei Naomi hatte er nun immerhin keine Angst mehr davor geschlagen zu werden, weil er sich nichts erlaubte, was für das weibliche Geschlecht offenbar unter die Tabuzone fiel. Nur darum ging das alles so „einfach“, auch wenn es irgendwie komisch war. Naomi sprach von einem liebenswerten Kern, aber Ren konnte dies nicht nachvollziehen. Zugegeben, er war nett zu ihr. Vermutlich netter als zu den meisten Menschen, denen er bisher begegnet war. Aber warum sollte man einen Menschen „lieben“ nur weil er erträglich und sogar ein wenig nützlich war? Auch das Wort Liebe brachte ihn nicht besonders weit… Die einzigen Menschen, welche ihm wirklich etwas bedeutet hatten, waren die beiden Jungen, die ihn aus der Wüste gerettet hatten. Nicht nur deswegen, sondern auch weil sie ihn wie einen dritten Bruder behandelt hatten. Zurückgelassen hatte er sie trotzdem… Ob sie ihm darum böse waren? Damals waren sie es nicht… Vielleicht sollte Ren doch noch mal in die Wüste gehen, um mit seiner Vergangenheit abschließen zu können, oder? Auf jeden Fall hatten ihn diese Gedanken wieder einmal in ein tiefes Loch gezogen, welches Naomi sicher nicht gefallen würde…
„Zuneigung… Liebe…“, wiederholte er mit einem makaberen Grinsen. „Versteh mich nicht falsch, ich respektiere dich als Menschen, aber absolut gar nicht wie du für andere empfindest. Das sind alles Emotionen, die dich nur aufhalten und verletzen werden… Sieh dir doch an was dir die Liebe zu deinem Vater gebracht hat… Ihm geht es schlecht, darum geht es dir schlecht und du sitzt in der Hölle fest. Und wer weiß was dir diese Beziehung zu dem „Engel“ bringen wird…“ Die silbernen Augen waren kalt, als sie wieder zu dem Mädchen hinabblickten. Auch die Liebe zu ihm würde sie nicht glücklich machen. Sicher, das bisschen Körperkontakt, was sie sich wünschte, bekam sie ganz bestimmt irgendwie. Nur würde ein kaputtes Kind wie Ren ihr vermutlich trotz allem niemals das geben können, was sie wirklich wollte. „Ich denke nicht, dass ich mal für dich so empfinden kann, wie du es für mich tust. Und schon damit bekommst du wieder nicht das, was du dir wünschst, nicht? Der einzige Mensch, der mir wirklich etwas Vergleichbares bedeutet hat, war derjenige, bei dem ich mich nun danach sehne seine toten, leeren Augen zu sehen, nachdem ich ihn selbst getötet habe…“ Er stockte und schien die Menschenmasse um sie herum völlig auszublenden. „Und man glaubt, dass solche Emotionen dafür sorgen, dass man sich lebendig fühlt… Dabei ist es erst der Hass, der dafür wirklich sorgt…“ Diesmal drückte er ihre Hand fester. „Was ich damit sagen will, ist, dass du je öfter du das tun wirst, vermutlich auch enttäuscht werden wirst und ich dir genau aus dem Grund, dass ich das nicht will, nie das geben kann, was du dir von mir wünschst.“ Das mochte nun ziemlich herzlos klingen… Oder sagte er das gerade, weil er ihr nicht wehtun wollte? So genau hatte er selbst gar nicht mitbekommen, wie er in diese Situation gelangt war und er hatte auch nicht wirklich darüber nachgedacht… Ein wenig fatal, ganz bestimmt…

Naomi war gerade geflogen, wie ein kleiner Vogel. Unter den Flügelchen der Auftrieb eines Glücksgefühls. Nun hatte man mit einem Gewehr auf sie gezielt und ihr genügend Schrot in den Körper geschossen, um den Körper zu schwer zum Fliegen zu machen. Danach hatte man ihr die Flügel aus dem Leib gerissen, damit sie nicht mehr versuchen sollte. Heiß fieberte der blutende Körper des Kindes unter dieser Tortur. Als sich dann kühlendes Nass über sie ergoss, erhoffte sie sich blind die rettende Kühlung, bevor ihr Körper doch noch zerbersten würde. Doch das Gegenteil traf ein, man spickte sie mit Bratspießen an denen köstliche Dinge zu finden waren, von denen sie nichts essen konnte, weil sie zu weit weg wahren. Als auch der Letzte tief in ihrem Körper verwurzelt war, der nunmehr einem zerpflückten Nadelkissen glich, kam der letzte Punkt, man zündete sie an, damit das Essen auch wirklich gar wurde. Der mentale Schrei in ihrem Kopf ließ sie kurz zucken. Weine wollte sie jetzt, den Schmerz loswerden, unbedingt sich davon befreien, doch ihre Augen waren trocken, leer geradezu. Ihr kleines Herz zog sich zusammen, weil auch er sie nicht lieben wollte. Wieso denn nicht, was tat sie denn falsch, war sie so wenig liebenswert? Vielleicht gab es einfach Menschen, die nicht geliebt wurden.
Die Menschen, welche sie gezeugt hatten, hatten sie weggegeben, warum auch immer, die Gastleute hatten es nicht gewusst, sie sagten irgendein Gast hätte sie einfach dagelassen. Rio, der wahrscheinlich der einzige Mensch war, der sie wirklich liebte, hing irgendwo zwischen Leben und Tod und konnte ihr nicht mehr zeigen, dass es noch so war. Vielleicht hasste er sie inzwischen auch, weil sie nicht gut genug aufgepasst hatte. Wahrscheinlich hätte sie damals den Kampf gegen Lia ausfechten sollen, dann wäre sie jetzt vielleicht zu Asche verbrannt oder zumindest durch Brandnarben so entstellt, dass man sie lieber versteckte, als vorzuzeigen. Ihre freie Hand wanderte an die Seite, wo sich die Narbe befand, die sie aus dem Kampf mit den Puristen davongetragen hatte. Ob die Geisel, die unten gestorben waren sie ebenfalls hassten? Sie hätte dort bleiben können und einer mehr hätte gehen können, hatte sie die Leute nicht sogar aussortiert? Zeitdruck hatte sie genötigt und einer hatte es tun müssen. Dennoch folgten ihr die Gesichter der Zurückgelassenen. Sie hatte deren Familien besucht und ihnen von dem aufopferungsvollen Tod erzählt. Diese Menschen waren geliebt worden, wenn man von ihrem Tod berichten würde, Jonathan würde wohl ihr Zimmer als Zweitraum haben wollen. Das Mädchen fühlte sich leer, hohl wie eine leere Kiste.
Sie hatte schweigend vor sich hin gelächelt, während ihr diese Gedanken durch den Kopf schossen, dass dieses Lächeln falsch war, dürfte jeder wissen, der sich ein wenig mit ihrer Mimik beschäftigte. Dann hob sie den Blick, der inzwischen doch etwas wässrig geworden war, ohne dass sie es bemerkt hatte, weshalb sie versuchte es mit unnatürlicher Fröhlichkeit zu übermalen: "Das ist doch in Ordnung, nur weil ich dich sehr mag, heißt das nicht, dass du ebenso empfinden musst. Wäre ja merkwürdig, wenn wir einfach die Gefühle von anderen für uns übernehmen würden. Dann gäbe es gar keine Überraschungen mehr im Leben, aber ich muss dir sagen, dass ich mich auch ohne Hass lebendig fühle, jeder hat wohl seinen eigenen kleinen Antrieb", doch Liebe war es nicht. Schmerz ließ das Kind immer weiter gehen, in der Hoffnung, dass er mit jedem neuen Schritt vielleicht etwas kleiner wurde, doch das war ein Irrtum, mit jedem neuen Schritt wurde er größer, aber sie war zu weit gegangen und einen Weg zurück gab es nicht. Ein neuer Strom aus Menschen kam auf den Bahnsteig, wahrscheinlich würde gleich ein Zug eintreffen, sie konnte den Prellbock sehen, an dem er zur Not zum Stehen kommen würde.
Ihr Griff um die Hand des Mitmagiers hatte sich gelockert, als sie sich umdrehte, um den kommenden Zug anzusehen. Ein merkwürdiges Gefühl erfasste sie, als sie das stählerne Gefährt auf sich zukommen sah und dann versetzte ihr etwas einen Stoß. Er war eigentlich nicht sehr fest, aber es reichte um das kleine, recht schwach Mädchen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Rens Hand fester greifen? Was wenn ihn das mitriss? Unwahrscheinlich, aber möglich, wollte sie das riskieren? Nein, das wollte sie nicht, auch wenn er sie dafür wahrscheinlich schimpfen würde, also ließ sie los, die kleinen Finger rutschten zwischen den großen weg und das blonde Mädchen stürzte vom Bahnsteig auf die Schienen. Schreie von hysterischen Frauen zerrissen die Luft. "Nicht schon wieder ein Anschlag!" Moment waren sie nicht hier um einen Mörder zu fassen? Naomi hatte keine Ahnung, nach welchem Prinzip dieser vorging, aber vielleicht hatte er die Magier erkannt, die trug ihr Zeichen am Arm relativ offen, sie so loszuwerden war sicher eine nette Idee, besonders, weil es nichts gebracht hätte, Ren zu schubsen. Als sie sich aufrichtete, kam gerade mit extrem quietschenden Bremsen der Zug vor ihrer Nasenspitze zum Stehen. Vom Schock etwas neben sich verneigte sich das Mädchen zum Führerhaus und zog sich mit wackeligen Armen wieder auf den Bahnsteig, wo sie sich einfach auf den Boden fallen ließ.

Irgendwo ganz tief drinnen hatte er gewusst, dass er Naomi mit seinen Worten wehtun würde. Warum er es dann trotzdem gesagt hatte? Das wusste er nicht. Ren hatte ein komisches Gefühl gehabt, welches ihm Unbehagen bereitete und er hatte die Sorge, dass er dem ein Ende setzen musste. Ohne großartig seinen Verstand zu benutzen, hatte er Naomi wieder eine Grenze aufgezeigt, was vermutlich sehr unüberlegt und herzlos von ihm war, denn er wusste sehr wohl wie sehr sie gerade ohnehin schon litt. Noch schlimmer machte er es vermutlich damit, dass er versuchte sie dort herauszuholen und ihr im Endeffekt doch nicht wirklich half. Er hätte einfach nur so tun könne als wäre alles in Ordnung und es für sich behalten können. Sie in der Hoffnung zu lassen, dass sie ihn vielleicht irgendwann bekommen könnte, wäre vermutlich das Netteste gewesen, was er hätte tun können. Weshalb ließ er es dann nicht einfach so? Warum musste Ren ihr diese Illusion so unbedingt nehmen? Vermutlich war das nur sein Selbstschutz… Der Akuma fürchtete, dass er jemals noch einmal eine andere Person mögen könnte. Wenn er also dafür sorgte, dass andere Menschen gar nicht auf die Idee kamen ihm nahe zu treten, dann würde es auch keiner weiter versuchen. Nur dieses Mädchen war verflucht hartnäckig und ließ sich von allen bösen Worten des Mannes nicht abbringen. Und selbst jetzt wo er ihr wieder versuchte aufzuzeigen, wie selbstzerstörerisch ihr Verhalten war, lächelte sie immer noch. Ren biss die Zähne zusammen… Er musste sich eingestehen, dass er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er ihr damit wehtat, denn eigentlich wollte er das ja nicht… Und dieses Lächeln war auch nicht echt, das sah sogar er. Absichtlich sah er weg, weil er merkte, dass sie sich schlecht fühlte. Weil er sie reden hörte, bemerkte er auch, dass sie offenbar nicht wollte, dass er das weiß. Sie versuchte ihr Unbehagen mit Verständnis zu überspielen und er nahm es einfach hin. Was sollte er sagen? Dass es ihm leid tat? Das würde ihr nicht mehr bringen und vermutlich wieder eine Hoffnung wecken, die er gerade absichtlich zerschmettert hatte… Für sich selbst beschloss er einfach zu nicken und darauf zu hoffen, dass sie erst einmal ihre Arbeit machten und darüber nicht mehr sprachen. Er war so dämlich… Wieso hatte er ein solches Thema nur angefangen?

Als er weitergehen wollte, bemerkte auch er, dass der Bahnsteig immer voller wurde. Er hatte Naomi noch immer an der Hand, aber empfand es als unpassend sie gerade fester zu packen oder zu versuchen sie sonderlich zu beschützen, nachdem er es ja gewesen war, der sie gerade verletzt hatte. Auch ihn überkam ein unangenehmes Gefühl, als Naomi sich umdrehte und plötzlich etwas Dunkles in seinen Augenwinkel kam. Danach überschlugen sich die Ereignisse, denn Ren war langsam… Er merkte, dass der Griff des Mädchens sich nicht nur lockerte, sondern auch, dass ihre Hand völlig aus seiner rutschte. Der Schatten neben ihm verschwand so schnell wie er gegangen war. Dennoch war er dumm genug gewesen sich danach umzudrehen und da hörte er schon Menschen laut schreien. Als er sich umdrehte und sah, dass Naomi fiel, versuchte er nachzukommen und ihre Hand zu packen, doch es reichte nicht. Er musste dabei zusehen, wie die Blondine auf die Gleise fiel. Vor lauter Schock blieb Ren wenige Sekunden stehen und konnte sich nicht regen. Das konnte doch nicht wahr sein… Nach allem was er gerade zu ihr gesagt hatte… Würde dies das Letzte sein, was er zu Naomi sagte? Als er wieder zu sich kam, begann er dem Bahnfahrer zu signalisieren, dass er halten sollte, weil Ren sich nicht sicher war, ob er die Blondine sehen konnte, wenn sie so weit unten lag. Es schien auf jeden Fall zu funktionieren, denn der Bahnführer betätigte die Notbremse, woraufhin der Zug sehr schnell mitsamt schrecklich lauten Geräuschen zum Stehen kam. Das dies etwas mit ihrem Auftrag zu tun hatte, kam dem Akuma noch gar nicht in den Sinn. Zu besorgt war er um seine Begleiterin, um deren Leben er gerade bangen musste. Mit weichen Knien ging Ren näher an die Gleise heran und sah wie Naomis Hände sich an den Rand legten, bevor sie sich hochzog. Erleichtert blickten die silbernen Augen die Blondine an und er ging in die Knie vor ihr, wo er sie auffing, bevor sie auf den Bahnsteig fallen konnte. Dafür hatte er weder Worte noch irgendeinen Gesichtsausdruck übrig. Ren sah absolut anders aus als zuvor und doch zeigte sich weder der große Schock noch die Angst von eben in seinem Gesicht. Immer noch wortlos nahm Ren Naomi in den Arm und drückte sie einmal an sich, was wohl der erste annähernd liebevolle Körperkontakt von ihm aus war. Dann stand er auf, setzte sie auf seinen Arm und ging einfach. Die Leute starrten ihn an, einige tuschelten ob es ihr wohl gut ging und mehr, doch Ren ignorierte das einfach. Er schleppte Naomi einfach weg, denn hier konnte er gerade nicht bleiben… Erstens wusste er nicht, ob sie vielleicht noch einmal angegriffen wurden und zweitens musste er einen freien Kopf bekommen und das klappte hier ganz sicher nicht. Während er sie nun schweigsam in seinen Armen herum trug, verließen die beiden den Bahnhof und irgendwann sagte er ziemlich leise: „Es tut mir Leid, dass ich das gesagt habe… Ich… will dir nicht wehtun und ich will nicht, dass dir etwas passiert…“ Plötzlich wurde er ganz still und überlegte was er sagen wollte. Es war ja nicht so, dass er sie hasste… aber so etwas wie Liebe kannte er auch nicht. „Ich hasse dich nicht… Im Gegenteil ich mag dich. Und du bist in diesem Sinne schon etwas Besonderes für mich, weil ich bisher niemanden wirklich mochte… Aber ich kann niemanden lieben und ich glaube auch nicht, dass es gut ist für Menschen so starke Gefühle für einander zu entwickeln… und ich kann damit nicht umgehen.“ Nun hörte er auf. Je mehr er sprach, desto mehr Ärger machte er sich. Damit Naomi erst einmal wieder zu sich kommen konnte, war er lieber still und trug das Mädchen in eine abgelegene Gasse, wo sie hoffentlich keiner so schnell finden würde…

Sie fiel, nicht auf die kalten Fliesen des Bahnsteigs, sondern in die warmen Arme ihres Begleiters. Ihr Körper bebte, als er sie an sich drückte. Es war ein merkwürdiges Gefühl, weil sie nicht wusste, ob sie glücklich sein sollte, oder weinen, weil es eigentlich nur eine Lüge war, wollte er sie doch nicht so nah haben. Kurz blickte sie hoch und sah das leere Gesicht ihres Begleiters, es war etwas sehr Merkwürdiges, weil es absolut keine Deutung seiner Gefühle zuließ. Wobei man natürlich vermuten konnte, dass er genau so unter Schock stand wie sie selbst. Mit ihren kleinen Händen suchte sie wieder an ihm Halt, denn sie hatte Angst. Der Tod war eigentlich etwas, was ihr inzwischen doch recht schmackhaft gemacht worden war, doch er sollte nicht dabei sein. Als das Raunen des Bahnhofes leiser wurde, konnte sie seine Stimme hören, es war mehr ein Flüstern, aber dennoch hörbar. Es tat ihm leid und sie legte ihr Gesicht an seinen Hals: "Das ist schon in Ordnung, so bist du eben, ich wollte auch nicht weinen, aber es hatte eben sehr danach geklungen, als ob du mich mit aller Macht loswerden wolltest, wie ein Tier das man schlägt, damit es sich gegen einen wendet." Wie ein kleiner geschlagener Hund, in der Tat, das war ein netter Vergleich.
"Ich wollte eigentlich nie mehr, ich weiß, dass es vermessen ist, Liebe von jemandem zu erwarten, der selbst kaum weiß, was es bedeutet geliebt zu werden. Es liegt nicht an mir das zu ändern, ich kann es auch nicht, meine Kräfte schwinden Rapide und etwas anderes bemächtigt sich meiner. Ich kann es fühlen und es wird nicht mehr lange wehren, dann bin ich weg und was dann übrig ist, das bin ich nicht mehr. Ich habe Angst davor, aber mein Vater verlässt diese Welt bald und mein Engel fliegt bereits so hoch über mir, dass ich ihn kaum noch sehe, denn er hat Liebe gefunden, aber die gehört auch nicht mir", sie blickte zu ihrem Begleiter hinauf, "Dass du mich nicht hasst, mich sogar magst ist das größte Geschenk was ich je erhalten habe und es wird wahrscheinlich auch das Letzte sein. Kurz habe ich gehofft, dass der Zug nicht zum Halten kommt, aber da es eh schon das Ende der Schienen war, wäre er so oder so nicht in der Lage gewesen mir etwas anzuhaben, es sei denn, der Zugführer wäre ein Trottel gewesen. Doch viel wichtiger ist, ich will nicht, dass du es siehst."
Nun gut bei manchen Situationen wäre das wahrscheinlich nicht machbar: "Nun ja, ein so erbärmlicher Abgang wäre mir vor dir extrem peinlich und das will ich mir zumindest ersparen, so lang es in meiner Macht steht. Ich habe übrigens Angefangen deine Magie zu studieren, ich beherrsche leider noch keinen einzigen Zauber, weil ich in letzter Zeit sehr nachgelassen habe, aber bald kann ich es sicher", merkwürdige Themenwechsel, aber das musste sein, sonst suchte sie sich eventuell doch noch einen anderen Zug zum davor werfen, wobei hier wohl dahinter besser war, denn die Züge mussten ja aus dem Bahnhof wieder heraus.

Erst als sie in der Gasse richtig angekommen waren, kam Ren zum stehen. Der Hüne lehnte sich an eine Mauer und sah auf die langen, blonden Haare des Mädchens hinunter. Die Gasse war wirklich nicht schön und so dunkel, dass man fast vergessen konnte, dass es eigentlich Tag war, aber genau hier fühlte Ren sich gerade am sichersten und er beruhigte sich etwas. Er atmete schwer, denn das was eben passiert war, hatte Ren ganz schön berührt. Vermutlich mehr als er es bisher erlebt hatte. Still lauschte er den Worten von Naomi und ihm wurde erst so richtig bewusst, wie er sich in seinem Hass ausgedrückt hatte. Das stimmte schon. Immer wenn er über Liebe und Zuneigung zu sprechen hatte, verband er das mit seiner Familie und was er von dieser zurückbekommen hatte, waren alles andere als gute Gefühle. Ren war es nicht gewohnt jemanden zu mögen oder zu lieben und wenn es in seinem Leben dazu gekommen war, dann war es nur eine Abart davon, die in Hass endete. Vermutlich war er darum so fanatisch… Dass er Naomi loswerden wollte, stimmte da nicht einmal. Es wurde ihm nur gerade bewusster, was er getan hatte. Weil er so empfand, versuchte er dem Mädchen dasselbe einzureden, weil er damit gut zurechtkam. Und damit sie nicht mehr so leiden musste, wollte er sie auf denselben Weg führen… Dass dies für sie nicht das Richtige ist, hatte er vermutlich in seinem Zorn gar nicht überdacht.
Es war noch schlimmer als er vermutet hatte… Stumm hörte er zu, ohne sie zu unterbrechen oder seinen momentanen Gefühlen Luft zu machen. In ihm regte sich schon einiges, wenn sie so sprach, aber er brauchte Zeit um zu überdenken, wie er dies nun weiterlaufen lassen wollte. Langsam ließ er sich an der Wand herunterrutschen, bis er auf seinem Allerwertesten am Boden saß und Naomi auf seinen Schoß setzte. Es war ein wenig komisch so zu reden und da sie hier ohnehin keiner stören würde, ging das für ein paar Minuten schon klar. „Ich glaube nicht, dass Menschen viel Liebe zum Leben brauchen… Zwar habe ich gelernt, dass auch der Mensch in mir Kontakte zu anderen Menschen braucht, aber es kommt dabei nicht immer nur darauf an, dass man sich um den Hals fällt und romantische Gesten austauscht. Ich kann das selbst nicht, weil ich nie etwas in der Art erfahren habe. Der einzige Mensch, der mich liebte, war meine Mutter, die bei meiner Geburt starb. Davon habe ich also nie etwas gehabt… Und mein Vater wartete nur darauf mich loszuwerden zu quälte mich bis zum Letzten. Ich habe geglaubt, dass er mich liebt, egal wie sehr ich ihn gehasst habe. Die Aufmerksamkeit war es wert…“ Kurz stoppte er und lehnte seinen Kopf gegen die Wand. „Ich habe lange niemandem mehr getraut und keinen mehr gemocht. Vermutlich suche ich mir auch immer merkwürdige Menschen aus. Das Mädchen das vor dir mir irgendwie nahe war, war drei Mal stärker als ich und zeigte mir ihre Sammlung an Äxten und Zweihandschwertern. Wenn ich nur daran gedacht hätte sie anzufassen, wäre ich nicht mehr gewesen… Sie verschwand aber und ich hielt es erstrecht nicht mehr für nötig irgendjemanden zu mögen.“ Dann senkte er seinen Kopf jedoch wieder und sah Naomi sehr ernst an. „Dass du es geschafft hast mir wichtig genug zu sein, dass ich dir beinahe auf die Gleise nachgesprungen wäre, ist eine große Leistung. Mir ist eigentlich nichts wichtiger als mein eigenes Leben und wenn ich daran denke, dass du hättest dort sterben können, wird mir schlecht. Ich mag nicht dieses niedliche, kleine Ding was du hin und wieder vorgibst zu sein, sondern die ernste junge Frau, die ein zwar eine schwere Zeit erlebt und trotzdem genug an ihrem Leben hängt, um weiter zu gehen und auf bessere Zeiten zu warten. Deine Dunkelheit und Dämonen sind es für mich wert dich zu schützen und mich um dich zu kümmern… Auch wenn es nicht die Liebe ist, die dein Engel für irgendjemanden empfindet, kannst du dir sicher sein, dass ich dich beschützen und darauf achten werde, dass es dir gut geht.“ Wieder stoppte er kurz und strich dem Mädchen über die Haare, als er sogar ein wenig lächelte. „Aber im Gegenzug dafür, darfst du dich nicht verändern und nicht verschwinden, okay?“ Jetzt tat er genau das, was er eigentlich geplant hatte nicht geschehen zu lassen. Aber was sollte er auch anderes tun, wenn sie davon sprach, dass ihr Leben ihr nichts mehr wert war… Er wollte ja doch nicht einfach, dass sie alles hinwarf. Sollte sie ihn an der Nase herumführen, könnte er dagegen immer noch etwas tun… Plötzlich wurde sein Blick wieder ernster, als er seine Hand auf ihre Augen legte, damit sie nichts mehr sehen konnte. „Und weil du für mich nun mehr Dämon als alles andere bist, ist das auch keine menschliche Geste, klar?“, murmelte er, bevor er ihr mit der anderen Hand die Haare von der Stirn wischte und sie, mit seinen rauen Lippen, dorthin küsste. Was Menschen daran so toll fanden, würde er wohl nie begreifen…

Während sie geredet hatte, war Ren an der Wand hinuntergerutscht und nun saßen sie hier in dieser dunklen Gasse, sicher vor allem, was ihnen draußen vielleicht passieren konnte. Es war schön dunkel und Naomi fühlte, wie sie automatisch an ihm halt suchte. Er war immer noch so herrlich warm und scheinbar hatte er auch einiges zu erzählen, denn es sprudelte nur so aus ihm heraus. Dann erklärter er, dass er scheinbar einen merkwürdigen Geschmack hatte, was Freunde oder Menschen im Allgemeinen anging und Naomi gab ihm stillschweigend recht. Aber dennoch, er hatte sich sie ausgesucht, jeder der sie traf hatte sie bisher gemocht. Bis auf Tascha, da war sie sich nicht sicher. Wegen dieser Gildenkollegin und ihrer fehlenden Aufmerksamkeit wäre Naomi fast Opfer einer Räuberbande geworden. Nun allerdings verschwanden die Gedanken über Natascha wieder, denn Ren sah sie ernst an. Auf die Gleise nachspringen, keine so gute Idee, fand zumindest Naomi, auch wenn es in der Tat irgendwie beruhigend wäre, nicht alleine gehen zu müssen. Wo war eigentlich seine Hand. Er hatte sie den Weg getragen, aber jetzt wo sie mehr an ihm lehnte, wollte sie seine Hand wieder halten. Weshalb sie ihre Hand auf die Suche schickte, sich in seine zu schieben und sich dort mit den größeren Fingern zu verhaken.
Dann allerdings sagte er etwas, was sie regelrecht befreite, sie musste nicht niedlich sein, damit er sie mochte, es verhielt sich sogar gegenteilig, er mochte sie besonders dann, wenn sie diesen Mantel aus Niedlichkeit ablegte und die Dunkelheit ihrer Existenz nicht weiter verschleierte. Wahrscheinlich waren sie sich näher als man vielleicht erwarten mochte, wenn man sie von außen sah. Dann geschah etwas sehr Merkwürdiges, dieser Moment hatte eine Intensität, von der sie kaum geglaubt hatte, dass sie jemals existieren würde, ihr Herz schien vor Aufregung bersten zu wollen, als er ihr eröffnete, dass er sie beschützen würde. Er war ein Dämon und sie hatte ihn scheinbar beschworen, mit irgendwas an sich gebunden, und sei es nur ein Band, was scheinbar schon immer zwischen ihnen existiert hatte und nun war er ein dämonischer Beschützer, so lang sie der Mensch blieb, den er so ... nicht liebte, mehr mochte oder wertschätzte. Die zweite Auflage war, dass sie nicht verschwand, weshalb sie kurz bestätigend nickte. "So lang ich einen Dämon wie dich habe, wie könnte ich da verschwinden", kurz musste sie Lächeln, es war mehr Erleichterung, dass ihr Leben seinen Wert wiedergefunden hatte und wenn es nur für ihn war, er war es mehr als wert.
Seine Hand entglitt ihren Fingern und legte sich über ihre Augen. Diese schloss sie einfach, da es nun über ihnen dunkel war, machte es keinen Unterschied ob sie offen oder geschlossen waren, doch was würde nun passieren? Sie konnte fühlen, wie er ihr den Pony aus dem Gesicht strich, auch noch nichts Außergewöhnliches, wenn er ihr nicht zuvor die Augen verschlossen hätte. Aber hatte er nicht eben etwas gesagt von wegen Geste? Sie wäre ein Dämon so wie er? Dann allerdings, bevor Naomi die Bedeutung der Worte wirklich erfasste konnte, konnte sie diese fühlen. Nun gut, es waren seine Lippen, da war sie ganz sicher. Leicht amüsiert stellte sie fest, dass sie rau waren wie Schmirgelpapier, aber genau das machte sie unverkennbar. "Danke", sie blieb einfach so sitzen, regungslos mit den Augen geschlossen, diesen kleinen Moment in ihr Herz marmorierend. "Ich bin froh, dass du der Dämon bist, der mich gefunden hat."

Auch wenn Ren es nicht zugeben würde, erleichtere es ihn sehr, dass Naomi von dem Gedanken abließ, dass es für sie keinen Platz mehr auf dieser Welt gab. War er wirklich die Person, die ihr einen Grund zum Weitermachen verschaffte? Dazu war er nicht gemacht, aber er könnte nicht ansehen, wie ein anderer Mensch das für ihn kostbarste Gut überhaupt wegwarf. Das Leben… Ren selbst hatte oft genug ansehen müssen wie grausam diese Welt war und doch hatte sie auch ihre schönen Seiten, die einen all das, was man glaubte nie vergessen zu können, einfach hinter sich lassen konnte. Auch wenn es nur Momentaufnahmen waren, so waren sie doch kräftig genug, um einem Menschen den Antrieb zu geben, den er benötigte. Selbst hatte er sich geschworen, dass ein anderer Mensch ihm nie wieder etwas bedeuten sollte und dass er sich nicht mehr darauf einließ eine Beziehung zu jemandem einzugehen, dennoch hatte er es nun getan. Was ihn da geritten hatte, realisierte er noch immer nicht wirklich, auch wenn er sich davor fürchtete. In der Regel war er kein Lügner und schon gar nicht wenn es um solche Sachen ging, denn wenn er ihr so etwas ins Gesicht log, dann konnte er sie auch gleich direkt wieder vor den fahrenden Zug stoßen. Sie war ihm dankbar, lächelte ihn an und das gab ihm das Gefühl, trotz all seiner Zweifel, dass er das Richtige tat. Und wenn es ihm selbst den Hals kosten sollte? Daran wollte er nicht denken. Er war stark. Niemals würde er sich unterkriegen lassen und wenn er unterlag, dann musste er einfach nur noch stärker werden. Shikkari, sein Nachname, war etwas, das ihm unlieb war, weil er es von seinem Vater hatte… Doch genau das hatte er vermutlich tatsächlich von ihm. Auch sein Erzeuger war, soweit er sich erinnern konnte, ein riesiger und kräftiger Mann gewesen. Mental würde ihn Ren, von seiner Sicherheit und Stabilität her, niemals erreichen können. Ob es daran lag, dass der Mann wahnsinnig war oder ob es Ren war, konnte man schätzen, wie man wollte. Jedenfalls stand Shikkari wohl für die Stärke, die in dem Hünen ruhte, so wie das Wort schon sagt… Auch seine Mutter war bis zum Letzten eine starke und stolze Frau gewesen. Ren durfte nicht aufgeben bevor es anfing, denn dann würde er nie weiterkommen. Wer nicht kämpft, hat bereits verloren…

War es vielleicht das, was sein Vater an schönen Frauen geschätzt hatte? Sie trieben einen in Situationen, in denen man sich nie geglaubt hätte und doch gaben sie einem den Willen und Mut dazu weiterzugehen und Licht ins Dunkle zu bringen. Ob das ein lachender Schritt in die Kreissäge war, würde sich wohl zeigen müssen. Nachdem er sie auf die Stirn geküsst hatte, zog er die Hand wieder von ihren Augen herunter und grinste sie verlegen an. Wobei das Grinsen nur daher rührte, dass er versuchte seine Scham zu verbergen. Er hatte noch nie jemanden geküsst! Da war wohl ein bisschen Schamgefühl angebracht, oder?! „Du musst unbedingt besser auf dich achten!“ Plötzlich schwenkte die Laune des Mannes um und er guckte Naomi grimmig an. „Ich denke wir sind nicht willkommen hier und das wollte man uns direkt zeigen… Das nächste Mal lässt du mich aber nicht los, klar? Ich gehe nicht davon aus, dass sie so etwas bei mir versuchen werden… Und wenn doch, dann achte darauf, dass dir dabei nichts passiert, ja?“ Dass sie ihn losgelassen hatte, konnte er nicht wirklich verstehen. Der Gedanke daran, dass sie nur nicht wollte, dass ihm etwas passierte, kam ihm nicht. Wie auch? Er wog locker doppelt so viel wie Naomi. Mit aller Kraft der Welt hätte sie ihn kaum mitreißen können und selbst wenn, dann hätte er sich dagegen gestemmt. Er war ja nun kein Fliegengewicht! Was aber vor allem wichtig war, war dass sie nicht versuchen sollte ihn vor etwas zu schützen, sondern lieber aus der Bahn ging, damit sie ihm dann unversehrt helfen konnte. Es brachte ja wenig, wenn sie beide einem Angreifer ausgeliefert waren und er hielt es für sinnvoller, wenn er das Ziel körperlicher Attacken war, denn er hielt schon mehr stand als die zierliche Blondine. Vorsichtig strich er ihre Haare wieder zurecht, die er ja eben durcheinander gebracht hatte und fragte ruhig: „Meinst du wir können weitergehen? Oder brauchst du noch ein paar Minuten Ruhe?“ Nach allem wollte er sie ja nicht hetzen. Sie wäre eben fast von einem Zug überfahren wurden, da konnte man schon ein wenig mehr als nur Herzrasen und Schweißausbrüche kriegen…