Souta hätte Seraphim nun gerne vorgehalten, wie niedrig die Wahrscheinlichkeit war, dass er sich auf ihrer mysteriösen Reise zu ihrem Ziel unüberwindbaren Gefahren ausgesetzt sehen würde, alleine schon, um seiner vorherigen Frage zu entgehen, auf die es nur zwei mögliche Antworten geben konnte, die wahrscheinlich beide eher negativ waren. Normalerweise ignorierte der Rotschopf solche Sticheleien, wie er das eben bei allem tat, was er sich selbst nicht wirklich beantworten konnte oder wollte. Er war zu zufrieden mit seinem aktuellem Leben, seiner Arbeit und seiner Einstellung, als dass er in nächster Zeit soetwas wie eine Sexualitätskrise gebrauchen könnte, deshalb würde er dieses Thema auch weiter umgehen und vermeiden, so lange er damit durchkam. Wenn man dieses Problem zwischen ihnen einfach wegignorierte, verschwand es vielleicht ganz von selbst wieder oder ließ sich erneut aufrollen, wenn er sich emotional dafür bereit fühlte. Momentan war dies jedoch nicht der Fall, denn das schlechte Gewissen von vorhin vermischte sich immernoch mit dem unangenehmen Gefühl, das er bei Jones bekam. Dieser eigenartige Mann hatte es nicht nur geschafft, ihn zu verwirren und die genau richtigen Knöpfe an ihm gedrückt, sondern irgendwie auch noch fertig gebracht, dass er sich hier mit seinem Freund stritt … oder beinahe gestritten hätte. Es erschien Souta fast schon zu zielsicher, wie er in seinem Herzen herumbohrte und genau das lieferte, wofür der Kettenmagier barfuß über glühende Kohlen laufen würde. Man hatte ihn ja generell schnell in der Tasche, wenn man ihm zur Rettung unschuldiger Zivilisten rekrutieren wollte, setzte man aber auch noch eine kleine Schwester oben auf seinen Auftrag, hatte man in etwa die Wirkung eines Vorschlaghammers, mit dem man auf Erdnüsse hämmerte. Ihre ganze Situation verursachte bei dem Rothaarigen Bauchschmerzen, aber sie war nun einmal auch etwas, was sie nicht einfach abwarten konnten. Bei jedem anderen Thema hätte er die Sache vielleicht abgebrochen und die Quest für erledigt erklärt, aber so wie es gerade lag, würde er nicht verschwinden können ohne zu wissen, ob Nora in Lebensgefahr schwebte oder nicht. Selbst wenn die wunderschöne Frau nur ein Trugbild gewesen sein sollte, er musste Gewissheit haben, denn sollte er jetzt gehen und dann von ihrem Ableben erfahren, weil er Jones nicht genug vertraut hatte, würde er sich das nicht verzeihen können. Souta war im Gegensatz zu Seraphim nicht einmal ansatzweise abgehärtet, wenn es um den Verlust von Menschenleben ging, was wohl wieder bedeutete, dass er tatsächlich seinen Verstand über Bord geworfen hatte, um auf sein Herz zu hören. Vielleicht mochte es an seiner dringenden Bitte oder an seinen Worten gelegen haben, vielleicht wusste der Himmelsmagier auch einfach, dass er ihn im Notfall nicht davon abhalten konnte, auf eigene Faust nach Nora zu suchen und hatte das kleinere Übel gewählt. Es gefiehl dem Rothaarigen überhaupt nicht, wie Seraphim seine Antwort formulierte, aber auch Souta musste manchmal akzeptieren, dass er wahrscheinlich nichts Besseres aus seinem Freund herausbekommen würde. Dann musste er sich eben etwas bedeckt halten und durfte sich diesmal nicht verletzen, wie schwer konnte das schon werden … Betrachtete man die letzten Quests, so erschien ihm der Einwand des Himmelsmagiers gar nicht so aus der Luft gegriffen, denn wenn er sich recht erinnerte, war er in den letzten Monaten erstochen, angeschossen und verprügelt worden, was alles in allem nicht unbedingt eine Bilanz war, die man aufrecht erhalten wollte, doch so gesehen war auch Seraphim nicht immer ganz heil davongekommen. Inwiefern Souta möglicherweise daran Schuld war, ließ sich momentan allerdings nicht beantworten, ohne den Rotschopf in einen völlig neuen Abgrund des Selbsthasses zu stürzen, also überging er das Ganze einfach komplett und seufzte einen Seufzer der Erleichterung. Ob Seraphim ihm noch böse war, wusste er nicht, aber er war ihm scheinbar immernoch wichtig genug, um seinetwegen einer Frau mit dem Tode zu drohen, was in ihrer verkorksten Beziehung wahrscheinlich einen Schritt in die richtige Richtung markierte … „Ich verspreche dir, dass mir nichts passiert. Ich werde auf mich Acht geben und brav sein und nur das Blut meiner Gegner an die Wände malen.“ Der letzte Satz mochte ein wenig makaber klingen, war aber eher als Scherz gemeint, weil er nach all diesen ernsten Worten das Lächeln des Dragonslayers vermisste. Souta mochte es nicht, wenn dieser sauer auf ihn war oder wegen einer anderen Sache schlechte Laune hatte, weil der Kettenmagier mit solchen Menschen nichts anfangen konnte. Mit leicht zögernden Schritten kam er auf den Älteren zu und blieb vor ihm stehen, streckte eine Hand aus, um über dessen verschränkte Arme zu streichen, ließ es aber dann doch. „Es tut mir Leid...“, meinte er, ein wenig kleinlaut, schon zum zweiten Mal an diesem Tage und bemühte sich sehr, herüberzubringen, dass er durchaus bemerkt hatte, wenn er sich daneben benahm und es ihm nicht vollkommen egal war, auch dann nicht, wenn er so tat, als würde ihn das schlechte Gewissen kein bisschen jucken. Zum Schluss versuchte er es mit einem entschuldigendem, leicht schüchternem Lächeln und dem vorsichtigem Aufbau von Blickkontakt. „Liebst du mich noch?“

Würde sich Seraphim auch nur halb so sehr ereifern, wenn ihm sein Gegenüber vollkommen egal wäre? Würde er mit Minato oder Maenor auf dieser Quest sein, hätte er der Aktion grünes Licht gegeben, um sich dann hinter dem Betreffenden zu halten und ihn bei Bedarf ins Messer laufen zu lassen, aber hier war die Gefahr, dass sich Souta noch verletzte, einfach zu groß. Aufgrund der Aussage eines Kriminellen in ein ungesichertes Gebiet vorzudringen war nicht unbedingt clever und er würde es auch unter keinen Umständen tun, wenn er sie beide nicht für stark genug hielt, die möglichen, negativen Konsequenzen stemmen zu können. Selbst wenn das eine Falle war, blieb die Frage, ob die Hinterhältler überhaupt eine Chance gegen die beiden hatten, was der ganzen Sache natürlich ein wenig Schrecken nahm. Zur Not würde er Souta schnappen und rausfliegen, Nora hin, Nora her, obgleich ihm die Vorstellung alles andere als gefiel, sich wieder einmal unter Tage begeben zu müssen. Warum nur waren diese Art von Verstecke immer in irgendwelchen Gruften, Höhlen oder dergleichen gelegen? Wie wäre es mal mit einem Baumhaus oder einem luftigen Schloss, damit Seraphim keine Probleme mit der Umgebung bekam – oder war das zu auffällig oder teuer? Vielleicht sollte man eine Finanzhilfe für Kriminelle ins Leben rufen, nur damit man ein angenehmeres Kampffeld hatte… der Weißhaarige hörte sich die Beteuerungen seines Partners an, dass dieser auf sich Acht geben würde und seufzte. Hatte er das nicht schon so oft gesagt und sich dann dennoch verletzt? Erinnerungen an einen aus dem Schrank steigenden Illusionsmagier kamen in ihm hoch, Bilder von einem halbtoten Kettenmagier, der aus einer selbst zugeführten Wunde blutete, verursacht von einem Mann, den Seraphim nicht dafür hatte strafen dürfen, weil jemand dazwischen gegangen war. Andererseits wäre auch Seraphim wohl dazwischen gegangen, wenn jemand versucht hätte, Souta nach einer Dummheit ans Leder zu gehen… immerhin war es unabhängig vom Level seiner Blödheit, wie gern er ihn hatte. „Spiel nicht den Helden und wir kommen schon klar.“, antwortete er auf die Anmerkung, was der Kettenmagier vorhatte. Ein Lächeln blieb dennoch aus, denn er wusste genau, dass der Rothaarige hier dick auftrug, immerhin war er im Grunde seines Herzes beinahe Pazifist. Der einzige, der mit Blut an Wände malen würde, wenn Souta etwas geschah, würde Seraphim sein und im Idealfall wäre es dann das einer dummen Frau mit Namen Nora. Damit würde er nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen, sowohl einen potenziellen Nebenbuhler, als auch eine Lektion für den Kettenmagier. Wenn man sein Freund war, hatte man gefälligst am Leben zu bleiben oder es setzte was. Da würde Seraphim dann eher noch lernen, mit Geistern zu kommunizieren, als ihn abzuschreiben, so sehr konnte er klammern. In gewisser Weise war Seraphim also gar nicht so ein untreues Wesen, wenn man vereinzelte, kurzzeitige Flirts überging, denn loslassen würde er Souta selbst dann nicht, wenn der sich von ihm lossagte und eine Familie gründete. Keine gute Idee war das deswegen, immerhin wollte man den Dragonslayer sicherlich nicht als Stalker haben, der auch nicht davor zurückschreckte, Frauen und Kinder zu verletzen.
Violette Augen musterten Souta einen Moment, wie er vor ihm stand, ehe Seraphims Kopf einen Ruck nach vorne machte und sein Atem über Soutas Ohrmuschel strich. „Natürlich liebe ich dich noch, Souta-chan. Aber genau deswegen wird Nora sterben, wenn du mir durch deine Blödheit meinen Geliebten nimmst.“ Er ging wieder ein wenig auf Abstand, besann sich eines Besseren und küsste Souta auf die Stirn, ehe er sich in Richtung Tür wandte. „Würdest du diese Natalia noch nach ein paar Details fragen? Vielleicht wissen wir danach, wo die Haken sind, denn die gibt es unter Garantie.“

Es bereitete Souta eine geradezu wunderbare Freude, das Wort „Geliebter“ aus Seraphims Mund zu hören, allerdings nicht aus den Gründen, die man vermuten könnte. Sein Herz klopfte nicht aufgeregt, als der Weißhaarige ihm wieder einmal seine Liebe gestand, er bekam auch keine weichen Knie und schmachtete nicht ausreichend viel, um davon beeinflusst zu werden. Die traurige Wahrheit war wohl eher, dass es den Rothaarigen deutlich mehr gefiehl, solche Titel zu ernten, als die unsterbliche Zuneigung von den blassen Lippen abzulesen. Ein Geliebter hatte eine verruchte, verbotene Note, während ein Freund eher an Keksebacken im Winter erinnerte, an kuschelige Sofaabende und wenig spektakuläre nächtliche Aktivitäten. Pärchen säuselten sich Nichtigkeiten ins Ohr, Geliebte wanden sich übereinander, wurden voneinander angezogen und gaben sich ihren niederen Bedürnissen hin … Nicht, dass Souta in irgendeiner Weise etwas dagegen hatte, umsorgt zu werden und sich den Bauch streicheln zu lassen, nachdem man ihn bekocht hatte, doch wenn man ihn vor die Wahl stellte, so würde die Freizeitgestaltung der körperlicheren Beziehungen selbst bei einem Spitzenkoch wie Seraphim den Vorzug bekommen. Der junge Mann stand mit leichtem Lächeln vor seinem Dragonslayer und verzog das Gesicht leicht, als dieser ihm Blödheit unterstellte, denn das war nicht nett. Eigentlich traf es auch gar nicht auf ihn zu … Souta bevorzugte emotional und impulsiv, aber blöd hatte einen ziemlich gemeinen Nachgeschmack, den er sicherlich als verletzend empfunden hätte, wenn man damit nicht manchmal sogar Recht hatte. Auch der Rotschopf hatte schon bemerkt, dass sein Vorhaben nicht ungefährlich und wahrscheinlich vollkommen unnötig war, aber er hatte nun einmal einen Entschluss gefasst und ließ sich von diesem so schnell nicht mehr abbringen. Dennoch war er froh, dass sich Seraphim einsichtig zeigte – früher oder später musste man das bei ihm sowieso – und auch wenn es ihm so gar nicht gefiel, dass er Nora bedrohte, schluckte er dies hinunter. „Warte.“ Nach dem Kuss auf seine Stirn setzte er ihm nach, legte die gebräunten Hände auf die Wangen und quetschte ein bisschen, bis dessen Mund an einen Fisch erinnerte und der Ernst aus dem Gesicht des Himmelsmagiers verschwunden war, zugunsten einer recht witzigen Grimasse. Mit einem Grinsen kam er näher, doch gleichzeitig sanken seine Hände zurück und lagen schlussendlich nur noch fein wie Schmetterlinge auf dessen Gesicht, bevor er den Kopf schieflegte und die Lippen auf ihre helleren Gegenstücke drückte. Der Kuss dauerte so lange an, wie er benötigte, um seine Hände sich in seinen Haaren treffen zu lassen und sicherzugehen, dass wirklich jede Faser seines Mundes von Sams Geschmack befreit war, dann drehte er sich selbst zur Tür und durchquerte sie mit fröhlichem Federschritt.

Die Polizei von Marokkasu Town hatte für Natalia einen Verhörraum freigeräumt, in den man sie vorerst geparkt hatte, direkt neben den von Jones', dessen Wache sie mit den Augen verfolgte, als sie den Instruktionen eines Beamten folgten, der ihnen den Weg gewiesen hatte. Im Gegensatz zu ihrem Meisterdieb hatte man die blonde Frau wahrscheinlich nicht wegen ihrer Verbrechen hier eingebuchtet, sondern um sie zu schützen. Das arme Wesen saß auf dem Stuhl und zitterte so sehr, dass man sich wundern mochte, dass das Wasserglas, welches man ihr gebracht hatte, keine Wellen warf. Ihr Blick wirkte leicht verzweifelt und ihre Haare waren so sehr zerzaust, dass kaum Zweifel daran blieb, wie oft sie sich durch ihre Frisur gefahren sein musste, seit sie hier angekommen waren. Bei Seraphims Anblick weiteten sich ihre Augen noch ein Stückchen, wie aus Furcht oder Respekt, wobei das natürlich lächerlich war, und sie wandte sich Souta zu, kaum dass dieser sich diesmal mutiger ihr gegenüber gesetzt hatte. „Ihr dürft keine Zeit verlieren, wenn sie Nora haben ...“, murmelte sie und schien aufgrund ihrer erstickten Stimme beinahe dem Schluchzen nahe. „Ich sage euch alles, was ihr wollt, aber …“ Ihre Augen glitten furchtsam zur Wand, welche sie von Jones trennte und sie blickte zu Boden, selbst dann noch, als Souta ihre eisigen, bibbernden Hände in die seinen nahm und beruhigend über ihre Fingerknöchel streichelte. „Wir kümmern uns um Nora. Gibt es irgendetwas, was du uns sagen kannst, was uns helfen könnte?“
„Ich weiß nicht … Ihr dürft sie nicht unterschätzen …! Sie haben keine Skrupel und töten euch, wenn sie euch in die Finger bekommen! Sie werden jetzt glauben, dass ihr mit Jones unter einer Decke steckt und nicht mit euch verhandeln. Entweder man ist auf ihrer Seite oder man wählt Jones, einen Mittelweg gibt es nicht …“
„Jones hat also eine persönliche Fehde mit ihnen?“
„Jones ist der Grund, wieso sie sich verstecken müssen … Er hat all ihre Informationen, ihre Standorte und ihre Verstecke verraten, um bei den anderen gut dazustehen und ich glaube, dass er die Gang übernehmen wollte … Aber ich weiß nicht, ob er es je soweit geschafft hat. Ich bin geflohen, sobald ihr Zerfall feststand … wenn sie mich finden, werden sie mich ...“ Der Rest ging in unkontrollierbares Schluchzen über.

Warum weinten Menschen? Man spülte überschüssige Hormone aus, reinigte das Auge, ließ die Sicht verschwimmen und desinfizierte das Auge. Auf psychischer Ebene gab es da auch noch den Faktor, dass man signalisierte, dass man überfordert war und nicht selten konnte man damit eine emotional nicht gefestigte Bedrohung abwenden, indem man in ihr Mitleid entfachte. Zu schade war es da nur, dass Seraphim auf derart peinliche Dinge gar nicht erst reagierte, weil es ihn nicht interessierte, was aus dieser Frau wurde. Sie hatte ihm bisher noch nichts gebracht… andererseits wagte Seraphim zu bezweifeln, dass Souta und er ihr einen Gefallen getan hatten, sie in ein Gebäude mit Sam Jones zu stecken, der ja offenbar ziemlich was gegen sie hatte. Der Dragonslayer hatte die durchdringende Ahnung, dass es eine bescheuerte Idee war, diese Gruft auszuräumen, weil sie damit das eigentliche Ziel ihrer Operation zurück ließen… und er glaubte einfach nicht an die Kompetenz dieser Beamten. Ganz davon abgesehen hörte sich das, was Natalia ihnen da erzählte, wenn man das unter Schluchzen hervorgepresste so nennen konnte, eher so an, als würde sie Jones dafür nutzen, seine persönlichen Fehden aufzuräumen. Für diesen Kerl würde Seraphim aber nicht einmal einen halben Finger krumm machen, sodass er, wäre Souta nicht, garantiert nichts in dieser Richtung unternommen hätte. Der Kettenmagier hatte sich von der Geschichte mit der kleinen Schwester einlullen lassen, also musste er das nun mitausbaden. Er würde das schon irgendwie kompensiert bekommen, spätestens am Abend, wenn sie allein waren.
Hätte es den Dragonslayer irgendwie gejuckt, was aus Natalia werden würde, hätte er ihr vorgeschlagen, mit ihnen zu kommen, weil das sicherlich weniger riskant war, als mit Jones Wand an Wand zu sitzen, aber obgleich ihm dieses Risiko bewusst war, schwieg er diese Möglichkeit tot. Es ärgerte ihn viel mehr, dass sie unter Umständen ihr Ziel verlieren würden, weil sie ihn allein ließen, aber der Kettenmagier musste ja diese abartig soziale Ader besitzen. Statt reinzureden bedachte er Soutas Hände, die sie zu beruhigen suchten, mit einem neidischen Blick und fragte schließlich: „Den Anderen? Gibt es noch eine dritte Partei?“ *Und reiß dich zusammen, Weib…* Manchmal war es wirklich nachteilig, mit Souta zu reisen, der ärgerlich werden würde, wenn er solche Menschen zu schlecht behandelte… dabei hatte sie es wirklich nicht besser verdient, nutzlos wie sie war. Sie beide würden es sein, die ihre Köpfe ausstreckten, damit man darauf herumhackte, nicht sie und da brachte sie es nicht einmal fertig, vernünftig zu reden? Wenn man ihren Worten Glauben schenkte, waren das hier Existenzialängste, doch bemerkte sie etwa nicht, dass sie ihre Chancen damit sogar noch minimierte? Sie beiden waren wahrscheinlich die einzigen, die sie retten konnten und sie ließ sie immer noch zum Teil im Dunkeln? Dummes Mädchen. So jemand war es vielleicht gar nicht wert, beschützt zu werden. „Und wenn Jones doch offenbar auch gegen dich ist, warum liegt dir dann an Noras Wohlergehen?“ Hoffentlich kam jetzt nicht dieser gutherzige Freundinnenkram, der davon ausging, dass man Menschenleben retten musste, wo immer das möglich war. Das war Quatsch, Menschen starben jeden Tag und im Grunde zögerte man es mit einer Rettungsaktion nur heraus. Außer, wenn es Souta war, dann musste man natürlich sofort losrennen.

Souta und Seraphim passten – was ihre jeweiligen Elemente anging – eigentlich nur unter Vorbehalten zusammen. Wie jeder wusste, kam Wind sehr gut mit Feuer zurecht und machte es einem Wanderer beispielsweise schwerer, ein Lagerfeuer zu anzufachen oder eine Kerze zu entzünden. In etwa so war auch der Himmelsmagier ganz gut darin, die rothaarige Naturgewalt zu bändigen, die manchmal über die Stränge schlug und furchtbar unüberlegte Dinge tat, zu denen die Emotionen sie getrieben hatten. Wurde das Feuer allerdings zu groß, dann wurde es vom Wind eher noch angefacht und sah jede Bemühung des Beruhigens als zusätzliche Provokation an, noch ein wenig heftiger auf den Putz zu hauen. Es war ein schmaler Grat, auf dem die beiden Magier wandeln mussten, und obwohl sie sich kämpferisch und in anderen Aspekten sehr gut ergänzten, hätte Souta seinen Freund wahrscheinlich quer durch das Zimmer gekickt, wenn er dessen Gedanken hätte lesen können. Der Kettenmagier hatte nicht nur ein Problem damit, wenn einem das Schicksal seiner Mitmenschen völlig egal war, er konnte jene auch absolut nicht ausstehen, die sich für überlegen oder besser hielten, nur weil sie zufällig nicht in derselben Situation waren. Natalia hatte offensichtlich einige schlimme Dinge durchgemacht, zu deren Entschärfung der Dragonslayer nicht unbedingt beigetragen hatte, daher war ein wenig Mitgefühl und das Halten ihrer Hand das Mindeste, was Souta für sie tun konnte. Er hatte bisher noch nicht die Gelegenheit gehabt, sie ausführlich kennen zu lernen und musste nun erkennen, dass sie trotz geröteten Augen und verschniefter Nase wirklich hübsch war. Unter anderen Umständen hätte er sie alleine deshalb an seine Brust gezogen und sie fest an sich gedrückt, aber verschiedene Lehren vergangener Zeiten hatten ihn daon überzeugt, mit übermäßigem Körperkontakt erst einmal zu sparen, sofern dieser sich nicht an seinen Freund richtete. Da er Seraphim hier jedoch nicht anfassen konnte und dieser keinen Trost benötigte, streichelte er weiter die kalten, zitternden Hände der armen Blondine und warf dem Himmelsmagier auf seine bohrenden Fragen einen etwas giftigen Blick zu. Vielleicht sollte er ihm das nächste Mal einen Handrasenmäher besorgen, damit er auch physisch über ihre Gefühle mähen konnte … Wie schaffte man es nur mit so wenig Empathievermögen durch das Leben … Natalia schluchzte weiter, schien sich jedoch nach ein paar Sekunden wieder zu fangen und bekam einen Schluckauf, welcher sie jedoch nicht davon abhielt, zu sprechen. Souta tätschelte ihre Hand weiterhin und kam sich ein wenig blöd dabei vor. „Nein … Sie haben uns von der Straße rekrutiert, damals. Wir haben alle schlimme Dinge getan und waren dumm. Jung und dumm … Aber Sam war anders. Er hat sich in den Kopf gesetzt, sich an die Spitze der Bande zu stellen und hat begonnen, Intrigen gegen unseren alten Boss zu spinnen. Ich sollte seine rechte Hand sein und Nora ...“ Sie stockte und schüttelte dann den Kopf. „Er hat all diese Informationen an die Polizei verkauft oder geschickt, ich weiß nicht … und es dann so gedreht, dass unser ehemaliger Anführer als Verräter dastand, versteht ihr? Er war grausam und gemein, ich dachte, dass Sam besser wäre … Aber unser Boss war nicht dumm. Natürlich wusste er, dass er unschuldig war und der ganze Plan ging nach hinten los. Ich weiß nicht genau, was passiert ist, ich habe mich abgesetzt, als es chaotisch wurde – und ich bin nicht stolz darauf. Ich glaube, dass er mir nie verziehen hat, dass ich ihn … und Nora … in Stich gelassen habe. Aber ich hatte keine Wahl!“ Sie wimmerte leise und schlug die Hände vors Gesicht, denn Souta hatte sie losgelassen und betrachtete sie stirnrunzelnd. Unschuldig war diese Frau sicherlich nicht … Opportunistisch vielleicht. Und nun trieb sie das schlechte Gewissen um, aber sie war zu feige, um es selbst zu machen? Vielleicht war sie ja wirklich der Abschaum, für den Seraphim sie gehalten hatte … Nur ein Grund mehr für Souta, Nora zu retten, denn diese erschien ihm immer mehr wie jemand, der in die größenwahnsinnigen Pläne ihres Bruders hineingezogen worden war. In dieser Geschichte gab es nur Böse und ihr Ziel war es herauszufinden, wer von den Beteiligten am vertrauenswürdigsten war. Wie auch immer sie es drehten und wendeten, an einem Besuch in diesen Tunneln kamen sie nicht vorbei … „Okay. Du bestätigst mir also, dass Nora wirklich existiert und es möglich ist, dass sie zusammen mit meinem Schwert in diesem letzten Versteck festgehalten wird?“ „Ich bin mir ganz sicher, dass sie dort sein wird ...“ „Dann sollten wir nicht noch mehr Zeit verlieren!“

Um es noch einmal offiziell zu sagen, Seraphim ließ sich auf diese ganze Unternehmung nur ein, weil Souta es wollte. Er selbst hatte kein Interesse daran, dass Nora gerettet wurde und er hatte auch kein Ehrgefühl, dass ihn verpflichtete, eine kriminelle Organisation in Marokkasu Town auszuschalten, wenn es nicht seine Aufgabe war. Mit dieser Stadt verband ihn nicht viel gutes, also musste er ihr auch nichts gutes tun und obgleich er immer daran interessiert war, bei der Regierung gut dazustehen, glaubt er nicht, dass sie jemals davon Wind bekommen würde. Was sich in der Gosse herumtrieb, war denen doch egal und eigentlich hatte der Dragonslayer auch keine Lust, dort hinab zu tauchen. Aber da war ja noch der Feuermagier mit seinem leidenschaftlich für das Gute brennenden Herzen, das ihn anleitete, gegen die Bösen ins Feld zu ziehen... würde er ihn nicht lieben, fände er dieses Verhalten richtiggehend pathetisch, doch so musste er wohl oder übel akzeptieren, dass es seinen Freund wurmen würde, wenn sie Nora nicht halfen. Das wiederum war kein gutes Vorzeichen für Aktivitäten, die Seraphim nicht missen wollte, also... bis man eben in den sauren Apfel. Er seufzte, blickte Souta leicht gequält an, als dieser ihn mit einem giftigen Blick bedachte und folgte ihm schließlich aus der Zelle, die er hinter ihm wieder schloss. Oh Gott, Menschen. Wenigstens war diese Natascha recht attraktiv, auch wenn das Heulen sie schrecklich entstellte. Es gab einfach nur wenige Menschen, die sogar beim Weinen noch hübsch aussahen, aber nicht alle konnten eben sein wie Souta. Gut, dass er ihn nie gefragt hatte, wann er das erste Mal gemerkt hatte, dass er sich auf starke Weise von dem Kettenmagier angezogen fühlte, denn er war sich nicht sicher, wie die Antwort angekommen wäre. Tatsächlich war es in einem Restaurant gewesen, in dem sich ein heulender Kettenmagier an ihn geklammert hatte, weil er sich den gesamten Rücken aufgeschnitten hatte. Eine heroische, aber stupide Rettungsaktion eines leicht geistig behinderten Mädchens, mit dem er danach doch nicht im Bett gelandet war. Tja... wofür brauchte man solche auch, wenn man so etwas wie ihn haben konnte?
Als die beiden Magier sich vor der Polizeistation befanden, angelte Seraphim nach Soutas Handgelenk und versuchte ihn zu sich zu ziehen. "Bist du sauer auf mich?", fragte er in nachdenklichem Tonfall und strich mit seinem freien Zeigefinger über Soutas Wange. Er persönlich hatte zwar nicht das Gefühl, irgendetwas falsch gemacht zu haben, aber er wusste ja, wie empfindlich anders die Meinung des Kettenmagiers gegenüber humanitären Unternehmungen war. Souta war der Ritter in strahlender Rüstung, Seraphim dagegen mehr der Tyrann im Hintergrund. Dass die beiden ausgerechnet Kühlschrank und Bett miteinander teilten, war objektiv gesehen wirklich ein Wunder und bedarf daher öfter einer Klärung. Er würde sich nicht für Souta zu einem Menschenfreund verändern, aber das war auch eigentlich nicht nötig, solange er ihn liebte und gut zu ihm war, oder? Sollten ihm nicht in diesem Falle alle anderen Menschen egal sein, wenn es ihn nicht selbst betraf? Wie sollte er hunderte anderer Leute einkalkulieren, wenn es nur eine Person von Interesse für ihn gab?

Viel mehr als die Frage, ob er denn sauer auf Seraphim war, störte Souta die Tatsache, dass dieser in seinem Gesicht herumstreichelte, weswegen sich das grüne Auge auch erst einmal in alle Richtungen bewegte und die Passanten betrachtete, auf der Suche nach jemanden, der sie seltsam anstarrte. Die meisten gingen mit gesenkten Köpfen oder mit Taschen bepackten Armen die Straßen der Hauptstadt entlang und interessierten sich nicht die Bohne für zwei Männer vor der Polizeistation, selbst wenn diese außerordentlich hübsch und mächtig waren. Nachdem er sich also eingehend davon überzeugt hatte, dass niemand sie beobachtete und er einen prüfenden Blick auf sein gepacktes Handgelenk geworfen hatte, schaute er in violette Augen und hatte wie immer, wenn sie sich so gegenüberstanden das Gefühl, als würde irgendwie von ihm erwartet, dass er zu dem Himmelsmagier aufblickte. Das funktionierte allein deshalb nicht, weil sie körperlich relativ gleich groß waren – Souta war ein bisschen größer! - außerdem waren solche unterwürfigen Gesten einfach nicht sein Stil. Für ein paar Sekunden starrte er den Dragonslayer an, blendete sämtliche Passanten, ihren Auftrag und die umgebenden Gebäude aus, bis nur noch sein Gegenüber in seinem Blickfeld existierte, da fiel ihm plötzlich wieder ein, dass man ihn etwas gefragt hatte und er zuckte leicht zusammen. Hatten sie das nicht erst vorhin in dem abgeschottetem Verhörraum geklärt? Sie waren eben sehr verschieden und Souta würde sich nicht beherrschen können, den Älteren auf seine Unmenschlichkeit hinzuweisen, womit er ihn wahrscheinlich nervte, aber das war ihm egal. Neben seiner Schnelligkeit und seinem großem Herzen war Souta durchaus auch für seine Beharrlichkeit bekannt. Er war zwar nicht so anhänglich wie Seraphim und konnte wohl eher als flexibel und entscheidungsfreudig bezeichnet werden, aber wenn das Rothaar etwas wirklich wollte, dann setzte es sich daran fest und ließ sich von nichts und niemandem aufhalten. Nicht, dass er nun unbedingt wollte, dass sein Freund ein lieber und netter Zeitgenosse wurde, aber ein wenig mehr Verständnis für seine eigene Person war immer wünschenswert. Wobei er selbst ja auch nicht gerade zuvorkommend war, was dessen manchmal etwas grausame Pläne anging … Er hatte schon wieder vergessen, auf seine Frage zu antworten, nicht wahr? Souta seufzte leise und nahm den Finger von seiner Wange. „Nein, ich bin nicht sauer … Ich finde, dass du netter zu … Natalie? … hättest sein können, aber das ist jetzt auch egal.“ Sein Namensgedächtnis war furchtbar, aber wenigstens war er nahe dran und erinnerte sich an diejenigen, auf die es auch wirklich ankam. Schließlich beugte sich der Kettenmagier leicht nach vorne und überlegte es sich im letzten Moment doch anders, weil sie hier auf offener Straße in der Hauptstadt standen und er gewisse Grenzen einzuhalten hatte. Statt eines Grinsens legte sich ein sanfter rosaroter Schimmer auf seine Wangen und er wandte sich wieder um, während er versuchte, sich an die Ortsbeschreibung von Jones zu erinnern.

Als Souta auf dem Weg einen Touristenführer fragte, ob es eine zerfallene und verlassene Kirche in der Stadt gab, lotste man sie widerwillig zum einzigen Gebäude, welches auf diese Beschreibung zutraf. Sie mussten eine Weile latschen, bis zu einem der weniger schicken Außenbezirken der Großstadt, der technologisch noch etwas hinter der blühenden Innenstadt zurückstand. Hier wimmelte es von Schmutz und zugenagelten Häusern, außerdem roch es irgendwie modrig, was vermutlich aus einem der Kanälen hier kam, dessen Deckel irgendwie abhanden gekommen war. Souta fühlte sich recht heimisch hier und hatte sofort den Eindruck, dass man hier ganz wunderbare Wachposten aufstellen konnte, die durch den Gestank und die Fensterbretter gut getarnt waren, doch obwohl er äußerst auf der Hut war und nebenbei ziemlich auffällig aussah, hielt sie niemand auf und es waren auch keine verdächtigen Geräusche zu hören. Die beiden Magier mussten fast die gesamte Straße überwinden, bis sie zu einer wirklich sehr heruntergekommenen Kirche kamen, um die man vor vielen Jahren einmal einen eindrucksvollen Eisenzaun gezogen hatte, der einen Friedhof beherbergte, der heutzutage ungenutzt und verlassen war. Die Grabsteine waren ebenso heruntergekommen wie die Fassade und die Buntglasfenster waren zerbrochen oder – was wahrscheinlicher war – von abenteuerlustigen Kindern eingeworfen worden. Im Tageslicht sah das Gebäude jämmerlich aus, als würde es unter den Mühlen der Zeit schon eine Weile vor sich hinächzen, aber nachts war es sicher sehr eindrucksvoll und gruselig. Der Kirchturm hatte schon bessere Zeiten gesehen und etliche Ziegel lagen herum, außerdem waren die Gräber ziemlich überwuchert. Keine Menschenseele wollte in einer solchen Umgebung leben oder sich durch das hohe Gras wühlen, aber davon abgesehen war es ein ziemlich ideales Versteck. Angeblich sollte es hier eine Gruft geben, doch die Tatsache, dass man sie immernochnicht aufhielt, war Souta noch immer suspekt. Man musste wissen, wer sie waren, wenn sie die Kommunikationskette nicht abgebrochen hatten, indem Seraphim die Tölpel in der Gerichtsmedizin vermöbelt hatte, war es doch merkwürdig, dass man sie einfach so passieren ließ. Außer natürlich, man ging davon aus, dass sie den Eingang sowieso niemals finden würden. „Warst du schon einmal in einer Kirche?“, fragte Souta und schaute interessiert zu den nur noch grob erkennbaren Abbildern verblichener Heiliger auf, die irgendjemand aus irgendeinem Grund verehrt hatte. Angeblich gab es ja sogar Klöster mit Nonnen und Mönchen, die ihr ganzes Leben einer Religion widmeten … Irgendwie albern. „Ich glaube, dass ich mal auf einer Hochzeit war, als ich klein war ...“ Souta erinnerte sich blass an Gelächter, Blumen und, dass irgendjemand ihn auf die Schultern genommen hatte, doch er verscheuchte diese unangemessenen Andenken wieder und schaute sich stattdessen genauer um. Mit einem leichten Lächeln kickte er eine merkwürdig grelle Getränkedose weg, die ihm irgendwie bekannt vorkam. „Lass uns unsere unbedingt hier feiern, die Atmosphäre ist so malerisch!"

Tja, Seraphim war nun einmal kein besonders netter Zeitgenosse, wohlbemerkt nicht, weil er nicht wusste, wie das soziale Gefüge der Menschen funktionierte, sondern, weil er sich bewusst dagegen entschied, dieses zu bedienen. Es war so unhandlich und unbequem, wenn man allen freundlich gegenüber sein musste, so tun sollte, als würde man ihre Fehler (zum Beispiel den ihrer Existenz, wenn man schon einmal dabei war…) übersehen, dass er lieber das Risiko einging, dass sie ich nicht mochten. Diejenigen, an denen er interessiert war, behandelte er schließlich auch besser. Selten konnte man den Umgang mit ihm wirklich als Norm einordnen, aber trotz aller Sonderheiten konnte er auch angenehmer sein. Souta war eine Ausnahme, Natalia war es nicht. Zumal hatte sich diese Tusse dann auch noch nervig angestellt, geheult und ihnen eindeutig Informationen verschwiegen. Er glaubte ihr immer noch nicht, egal was sie sagte, sie schaffte es einfach nicht, ihn zu überzeugen. Vielleicht lag es daran, dass sie so über die Maßen emotional wirkte, aber etwas an ihr ließ ihn auf weitere Lügen oder Halbwahrheiten tippen… es mochte also stimmen, dass Lügner ihresgleichen enttarnen konnten. Der Weißhaarige schummelte selber des Öfteren, obgleich er wusste, dass sein Freund das nicht leiden konnte. Aus schierer Not hatte er diesem lange Zeit vorenthalten, dass er ihn liebte, weil er Angst gehabt hatte, ihn zu verlieren – und am Ende hatte er sich über dieses gelogene Desinteresse aufgeregt. Kleine Notlügen vereinfachten den Alltag allerdings ungemein, also würde er wohl kaum davon abfallen… doch andere Menschen hatten gefälligst dann die Wahrheit zu sagen, wenn diese wichtig für ihn selbst sein könnte.
Seraphim blickte einen Moment enttäuscht, als Souta ihn doch nicht küsste. Eigentlich hatte er sich schon daran gewöhnt, dass der Kettenmagier nach wie vor Probleme damit hatte, ihre Beziehung in die Öffentlichkeit zu tragen. Wahrscheinlich war Souta auch nicht allzu bereit, Homosexualität zu akzeptieren, also erwartete er ein ähnlich intolerantes Verhalten von der Welt. Oder aber er sah seine eigene Männlichkeit und damit sein Selbstbildnis in Gefahr, doch eigentlich müsste er sich nur umgucken, um den Fehler in seiner Gleichung zu finden: Seraphim selbst war ganz offen bisexuell und gefühlt halb Oshibana wusste sogar, wen er jetzt schon wieder abgeschleppt hatte, ob nun männlich oder weiblich. Es gab deswegen sicherlich nicht weniger Leute, die ihn als außerordentlich dominant beschreiben würden und sicherlich keinen, der ihn als Tunte darstellen würde. Es kam immerhin oft genug vor, dass ausgewachsene Männer ein Problem mit ihrer Weltansicht bekamen, wenn er erst einmal loslegte. Was war es denn anderes mit Souta gewesen, immerhin hatten sie doch anfangs auch nur Eis gegessen… man konnte also davon ausgehen, dass die Reaktionen auf Souta ähnlicher Natur sein würden, obgleich dieser einige Eigenschaften hatte, die man durchaus auch als feminin beschreiben konnte. Wie dem auch war, es blieb der bittere Beigeschmack der Peinlichkeit, die ihre Verbindung Souta scheinbar bereitete. Sein Freund sollte niemand sein, für den er sich schämen musste. Obwohl er Lust hatte, sich selbst vorzubeugen und ihm den Kuss zu stehlen, den er ihm schuldete, war er nett genug, dies zu unterlassen. „Ach, die war hysterisch.“, winkte er stattdessen ab und setzte sich mit ihm zusammen in Bewegung. Der Drang, nach seiner Hand zu greifen, blieb, wurde aber unterdrückt.
Die Kirche, an der sie schließlich ankamen, hatte ihre besten Zeiten schon weit überschritten. Der Gott, dessen Haus dies darstellen sollte, musste wohl eine klägliche Gestalt abgeben, mit hohlen Wangen und eingefallenen Augen vielleicht, schütterem Haar und klaffenden Zahnlücken, den eingeschlagenen Scheiben gleich. Wie sollte man Respekt vor etwas haben, Ehrfurcht gar, der von so einem Bauwerk auf Erden repräsentiert wurde? Seraphim wusste es nicht, aber er dachte auch nicht lange darüber nach. Soutas Frage nach seiner Anwesenheit in Kirchen wurde belächelt, trotz der eigentlich positiven Antwort. Ja, der Dragonslayer war schon in Kirchen gewesen, aber eher in ihrer Funktion als architektonisch interessantes Haus, weniger als Ort der stillen Andacht. Religion war nicht seine Welt, Kunst dagegen war zumindest ein interessanter Zeitvertreib. Der letzte Satz des Kettenmagiers warf ihn dagegen relativ abrupt aus der Bahn, wenn er auch nicht wusste, wieso. Das offensichtlichste wäre gewesen, dass er einfach gar nicht daran dachte, jemals zu heiraten, schon gar nicht einen Mann oder Souta im speziellen. Diese Theorie war nett, aber entsprach wohl auch nicht der Wahrheit, wenn man bedachte, dass der Dragonslayer dermaßen besessen von dem Anderen war, dass er ihn wahrscheinlich nie wieder gehen lassen würde. Insofern wäre es wohl denkbar, dass er ihm irgendwann einmal einen Antrag machte… irgendwann, zu einer anderen Zeit. Was ihn erschreckte, war wohl eher die Ironie in Soutas Stimme – obgleich hier wohl wirklich niemand irgendetwas feiern würde. Da das sehr offensichtlich war, beschloss er, auf den Zug aufzuspringen. „Nur, wenn du dann ein weißes Kleid trägst, Souta-chan~“

Es mochte wirklich an der 'malerischen' Atmosphäre dieses Trümmerhaufens vor ihm liegen, vielleicht auch einfach am Stress der vergangenen Stunden, der Angespanntheit, dass hier überall Gegner lauern konnten, welche sich noch nicht zeigen wollten, oder einfach an dem Fakt, dass er bisher nur einen mickrigen Hot-Dog gegessen hatte … aber für einen kurzen Moment überlagerte das Bild von Souta im Hochzeitskleid die Gedanken des Kettenmagiers und ließ ihn schockiert zurück. Wahrscheinlich war es seine eigene Schuld, dass er einen solchen Witz gemacht hatte und dafür nun die Quittung bekam … Denn ein Witz war es gewesen. Zwar gab es durchaus Menschen, die mit zwanzig Jahren heirateten, wenn sie sich gefunden hatten und sicherlich waren sie ein ausgezeichnetes Paar, weil sie über ihre Beziehung hinaus auch noch beste Freunde waren, aber ob er mit diesem Typen vor einem Altar treten wollte, war eine ganz andere Frage. Erstens war er ein Kerl, was man ja noch ignorieren konnte, weniger jedoch die Angelegenheit mit der ewigen Treue … Außerdem wollte Souta Kinder haben, was er sich bei einem Partner wie dem Weißhaar allerdings abschminken müsste – und zwar nicht nur aus biologischen Gründen. Nein, heiraten würden sie wohl in nächster Zeit nicht. Außerdem war sich der Feuermagier nicht ganz darüber im Klaren, dass er einen Vertrag für's Leben eingegangen war, als er sich dem Titel eines festen Freundes verpasste, doch das würde er wohl auch noch zu gegebener Zeit erfahren und seine Reaktion darauf würde vermutlich sehr interessant ausfallen … Dennoch gab es gerade keinen Grund zum Schmollen oder zum Verrücktwerden, denn auch wenn seine Erscheinung in einem Brautkleid furchtbar peinlich wäre, stand er über solchen Dingen und lächelte dem Älteren stattdessen mit ungebrochenem Stolz zu, als hätte er dessen Kommentar gar nicht vernommen. „Dann habe ich ja einen echten Drachen zur Schwiegermutter ...“, meinte er mit breitem Grinsen. Er wusste, dass Seraphim es gar nicht gerne hatte, wenn er über seine gigantische, schuppige Ziehmutter spöttelte, aber man stelle sich das nur einmal vor … Oder vielleicht auch lieber nicht. Nicht, dass er diese allmächtige Wesenheit nicht irgendwann treffen wollte, aber das konnte auch warten, schließlich mussten sie eine Quest erledigen. Souta trat zum Tor der Kathedrale und inspizierte das verrostete, vermutlich seit Äonen nicht mehr benutzte Schloss. Richtig, sie mussten irgendwo eine Gruft finden, in welche sie hinabsteigen konnten, doch wie in aller Welt sollten sie in einem solchen Trümmerhaufen die lohnenswerten Eingänge herausfiltern? Mit einem Seufzen strich er über die Oberfläche der Tür und betrachtete seine nunmehr leicht dreckigen Finger, als er einen gedämpften Laut von einem der Grabsteine hörte. In atemberaubender Geschwindigkeit drehte er sich um, bereit, jedem Pfeil, jeder Kugel und jeder Granate auszuweichen, doch was mit erschreckender Präzision auf seine Stirn zugeflogen kam, überraschte ihn auf dem falschen Fuß, so dass das unbekannte Flugobjekt volle Kanne zwischen seine Augen krachte und zumindest das rechte neben Irritation auch mit leichter Feuchtigkeit füllte. „Aua...“, machte er wimmernd und rieb sich eine sich schnell rötende Stelle am Kopf, ehe er nach unten schaute und einen hübschen, schweren Apfel erblickte, der zu seinen Füßen lag. War das der Angriff? Hatten sie es jetzt mit Feinden zu tun? Aber wieso schossen sie mit Essen um sich? Und wo war das überhaupt hergekommen?!

Souta hatte allerdings einen Vertrag fürs Leben abgeschlossen, als er einwilligte, Seraphims erster fester Freund zu werden, denn der Dragonslayer hatte nicht die Absicht, ihn jemals wieder ziehen zu lassen. Auch wenn der Rothaarige wahrscheinlich nur einen Bruchteil der Stalkertendenzen seines Freundes bemerkt hatte, so waren diese geradezu furchterregend, wenn man sie sich einmal wirklich ins Gedächtnis rief. Seraphim hatte schon in Schränken gehockt, während Souta mit einer neuen Eroberung auf seinem Bett Sport betrieben hatte, beobachtete ihn gerne beim Schlafen und das eine Mal, dass er ihm wochenlang ausgewichen war, hatte er sich vollkommen entgegen seiner sonstigen Angewohnheiten betrunken. Er konnte nicht mehr ohne den Kettenmagier leben und der Dragonslayer war niemand, der das Wohl von anderen auf so krasse Weise über sein eigenes stellte, dass er Souta einfach so ziehen ließ. Nein, er würde bei ihm bleiben, notfalls würde er ihm wirklich einen Antrag machen und ihm seinen Namen aufzwingen, wenn das sicher stellte, dass er bei ihm blieb. Es konnte nichts auf der Welt geben, was er mehr wollte, als diesen jungen Mann, selbst wenn der ihn manchmal fast zur Verzweiflung trieb. Er konnte so anders sein, wie er wollte, Seraphim verzehrte sich dennoch nach ihm. Niemals würde er ihn frei lassen; selbst wenn er dem roten Vogel Freiheit vorgaukeln musste, damit er nicht zu singen aufhörte, war sie doch nur ein durchsichtiger Käfig. Da er in diesem aber gut bekocht, gestreichelt und behütet wurde, war das sicherlich in keinem Falle das Worst Case Szenario, wenn man ihn fragte.
Ein Apfel schoss auf einmal auf die beiden Magier zu und traf Souta an der Stirn. An sich wäre das nichts schlimmes, wenn der Rothaarige nicht so ein Nervenbündel wäre, also beunruhigte ihn sogar schon so eine kleine Verletzung - zumal sie sich hier auf feindlichem Gebiet befanden und er immer noch nicht so sicher war, dass man sie nicht schon längst erwartete. Der Kopf des Dragonslayers ruckte zur Seite und sein Körper reagierte, bevor er wirklich darüber nachgedacht hatte. Mit einer halben Drehung streckte er die Arme aus und schoss eine Druckwelle von sich, die sicherlich niemanden ernsthaft verletzen würde, wohl aber dazu taugte, um einen schmerzerfüllten Laut von hinter einem Grabstein auszulösen, den Seraphim einem männlichen, wenn auch nicht besonders alten Wesen zuschrieb. Mit schnellen Schritten hielt er darauf zu, umrundete ihn und sah sich einem der vorlauten Jungen gegenüber, die sie am Anfang der Quest belästigt hatten. Dieses Mal stank er allerdings ziemlich nach Kanal, was den Dragonslayer pikiert die empfindliche Nase hochziehen ließ - nur kurz jedoch, denn danach passte sich auch seine Nase seiner sonstigen, ziemlich grimmigen Mimik an. Dieser Kerl mochte zwar nur mit einem Apfel geworfen haben, aber er hatte Souta damit getroffen und zuvor hatte er es gewagt, sich über sie lustig zu machen... ob er es immer noch so witzig und unmännlich fand, wenn ihn einer der ach so Schwulen verprügelte? "Was machst du hier, Knirps?" Seine Stimme war kühl, was ganz allgemein zu seiner Ausstrahlung passte - und egal, wie dumm der Jugendliche war, er würde schon bemerken, dass er sich nun besser nicht mit ihm anlegte.