Während Seraphim aufbrach und den Übeltäter lokalisierte, war Souta damit beschäftigt, vorsichtig und mit tränendem Auge über die sich ganz langsam bildende Beule an seiner Stirn zu tasten und ein wenig in Selbstmitleid zu versinken. Das tat aber auch weh! Ein richtiger Krieger warf nicht mit Nahrungsmitteln herum, das gehörte sich nicht. Pfeile, Bolzen, ja vielleicht sogar Wurfsterne, all das hätte funktioniert, aber der Überraschungsmoment war bei dieser seltsamen Wahl einfach zu groß gewesen, so dass der arme Kettenmagier in Tränen ausgebrochen wäre, wenn er sich dessen in der Anwesenheit seiner Feinde nicht geschämt hätte. Um möglichst kompetent auszusehen, drückte er den Mund zu einem strengem Strich zusammen und kämmte die Haare über die gerötete Stelle, womit er sich selbst ein wenig davon ablenkte. Er war schon mit dem Gesicht voraus gegen Wände gelaufen, schlug sich gerne mal an Küchenschränken die Birne an und purzelte nach dem Aufwachen mit erschreckender Regelmäßigkeit durch die Gegend, außerdem war er schon öfter geschlagen worden, als er zählen konnte. Trotzdem tat es weh und war überdies noch peinlich, weil er sich hatte treffen lassen. Mit vor Zorn und Scham leicht geröteten Wangen und einem noch immer schimmernden Auge bückte er sich und hob den Apfel auf, während Seraphim sich kurz verabschiedete und dann mit dem Täter zurückkam. Nachdem er die rote Schale ordentlich geputzt hatte, fixierte er den Jugendlichen mit wütendem Blick, der aufgrund der oben genannten Zustände jedoch ein wenig an Intensität verlor. Kurz überlegte er, ob er diesem Jungen das Obst volle Kanne ins Gesicht schlagen sollte, doch abgesehen davon, dass dieser danach wahrscheinlich kein Gesicht mehr hatte, stand er natürlich über solchen Dingen. Sie brauchten schließlich Informationen von dem Jugendlichen. War das nicht einer von denen, die sie ausgelacht hatten und dann von Seraphim vermöbelt worden waren? Legte es dieser Knirps wirklich so auf eine zweite Runde an? Aber wieso war er hier, zufällig genau dort, wo sie selbst ihre Quest zu einem Abschluss brachten? Der Feuermagier kam ein Stück näher und biss beleidigt in seinen Apfel, wobei er vermutlich eher wie ein grollender Hamster aussah. Das Teil hatte zwar auf dem Boden gelegen, schmeckte aber immernoch gut. So wie das Eis, das ihm draußen mal auf die Straße … Er schob das Apfelstück von einer Wange zur anderen und betrachtete den jungen Mann beim Zittern und Zaudern. „Ich … Bitte tut mir nichts ...“ Gott, war er als Teenager auch so lächerlich gewesen, nicht einmal zu seinen eigenen Streichen zu stehen? Souta befummelte seine Augenklappe und beschloss, sich mental von diesem Thema zu distanzieren. „Alter, DU hast MICH attackiert. Wieso machst du so einen Mist?“
„I-i-ich hatte keine Wahl! Also irgendwie musste ich euch ablenken und es war nur der Apfel da und ich ...“
Ablenken? „Ablenken?“
„Ja, hier … Na ja … Heute morgen kam so ne richtig heiße Schnitte an und hat uns total viel Geld versprochen, wenn wir euch beide ausspionieren und euch von hier fernhalten. Aber dann haben wir euch verloren und jetzt seid ihr doch hier … Ich brauch doch das Geld, Mann! Ich dachte sie ist die Ex von einem von euch oder so, aber dann hab ich herausgefunden, dass ihr Schwucht...“
Souta verzog das Gesicht und nahm noch einen krachenden Bissen von seinem Apfel, wobei er wirklich ganz zufällig die Peitsche an seinem Gürtel berührte.
„Ahhh … Das ist alles zu hoch für mich, ich hab nichts Kriminelles gemacht, wirklich! Geht nicht zu meinen Eltern, bitte ...“ Er jammerte und wimmerte noch eine Weile erschreckend laut vor sich hin und knüpfte dabei den Zusammenhang zwischen diesen Idioten, der Getränkedose und dem Beginn ihrer Quest. Doch wer war diese total heiße Schnitte? Nora? Eine Unbekannte? Sie wussten ja schon, dass Jones seine Schwester auf sie angesetzt hatte, um sie zu beschatten – vielleicht hatte diese sich ja Hilfe geholt? Dennoch sehr merkwürdig … Souta wollte gerade nach einer genauen Beschreibung der Frau fragen, da hörte man es hinter ihnen splittern und klirren, als hätte jemand eine Glasscheibe zerbrochen, kurz darauf gab es ein Schaben, wie Metall über eine andere stabile Fläche. Es kam von der Straße und klang zudem ziemlich dringend, also machte der Rotschopf auf dem Absatz kehrt, warf seinen Apfelstutzen von sich und raste auf den Ort des Geschehens zu. Gerade noch sah er, wie sich einer der Gullideckel vollends über das Loch schob, hechtete dem Metallstück jedoch entgegen und zwängte die Finger in die Öffnung. Da das dumme Ding ganz schön schwer war und er einen unterdrückten Schreckensseufzer hörte, der mit einem energischem Gegenarbeiten des Unbekannten endete, dauerte es eine Weile, bis er Fortschritt verbuchen konnte. Schließlich wurde es ihm zu bunt und er riss das Teil einfach heraus, so dass er ein Plumpsen und ein platschendes Geräusch vernahm, irgendwo inmitten der undurchdringlichen Schwärze des Kanals. Ein kleiner Manaimpuls und eine um sein Handgelenk wirbelnde Flamme später sah er jemanden sich eilig verziehen. „Seraphim! Ich hab den Eingang gefunden!“

Seraphim hasste Kinder. Das war noch nie anders gewesen und hätte wahrscheinlich dadurch verhindert werden können, dass seine echte Mutter nicht gestorben wäre und er so niemals in den Genuss eines weitestgehend elternlosen Daseins geommen wäre. Natürlich war Grandine alles und noch viel mehr, als er sich hätte wünschen können, aber die Drachin hatte ihm eine andere Art von Liebe zuteil werden lassen, als es eine Menschenfrau vermocht hätte. Ein kleiner, widerspenstiger Teil von ihm, wünschte sich beim Anblick von Kindern immer, sie von der Seite ihrer Eltern loszureißen und einfach kurz ihren Platz einzunehmen. Bei diesem nervigen Teenager war es eher der Wunsch, ihn generell aus dem Leben zu reißen, weil er nicht nur feige war, sondern auch noch dreist. Es dauerte zu lange, bis Seraphim verstand, warum dieser blöde Kerl so laut schrie, als er Soutas Fragen beantwortete, vielleicht aber auch, weil er viel zu amüsiert von seiner Theorie war. So abwegig war der Gedanke eigentlich gar nicht, dass seine Auftraggeberin, wer auch immer sie war, eine ihrer Verflossenen war, weil diese wahrscheinlich in ungeheurer Anzahl vorkamen und allein statistisch eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestand. Nicht nur deswegen kommentierte er die Aussage des Jungen, der Soutas passiv-aggressiven Apfelbiss provozierte, mit einem "Hach Junge... diese Beschreibung trifft auf jede einzelne meiner Exfreundinnen zu..." Kurzfreundinnen. Abendverzückungen. Haremsdamen, was auch immer. Die Bezeichnung Freundin für eine von Seraphims Bekannten war eigentlich geradezu lächerlich. Souta setzte gerade zum Sprechen an, wahrscheinlich um ein paar mehr Informationen zu erbeten oder seinen Freund zu schelten, als Seraphim ein Geräusch vernahm, das seinen Kopf herumschnellen ließ. Das scharfe Splittern eines Glases vielleicht, gefolgt von dem rauen Kratzen von Metall über Stein. Seraphim hatte eine Sekunde den Eindruck, einen muffigen Geruch zu riechen, doch es mochte auch Einbildung gewesen sein. Souta warf den Apfelbutzen, den er übrig gelassen hatte, zu Boden und sauste in einem roten Wirbel in Richtung der Geräuschquelle - was den Dragonslayer allein mit dem Teenager ließ. Die Hand des Weißhaarigen schnellte vor und er packte den Kragen des Jungens, zog ihn zu sich. Wind begann um seine Linke zu wirbeln, so schnell, dass die flirrende Luft beinahe sichtbar wurde. "Wage es noch einmal, einen Magier der Gilde Blue Pegasus auszulachen, ihn auszutricksen oder diesen Mann" eine Geste in Richtung Souta, "in irgendeiner Weise zu denunzieren und ich sorge dafür, dass du nie wieder irgendetwas sagst. Verstanden?!" Das letzte Wort schnitt tiefer als jede Klinge, die er abfeuern konnte und als er den Teenager von sich stieß, nahm dieser die Beine in die Hand, schneller beinahe als Souta. Offenbar verlieh auch Furcht Flügel. Gut so.
Der Dragonslayer nickte selbstgefällig und folgte danach Soutas Ruf, der über einem runden Loch im Boden hockte. Seraphim verzog bei diesem Anblick missmutig das Gesicht, denn Höhlen und Tunnel waren die einzige, in den richtigen Momenten aber auch eklatante Schwäche seiner Magie. Er fühlte sich dort unten nicht nur unwohl, sondern würde auch schwächer als hier oben sein... man konnte also nur hoffen, dass Souta dieses Defizit ausgleichen konnte. Die Flamme auf Soutas Hand wurde kurz missmutig gemustert, doch er sagte nichts zu ihr. "Warum können solche Verstecke nicht mal in den Wolken sein...", murmelte er, seufzte dann jedoch und blickte Souta an. "Du solltest vorgehen. Ich sag es nicht gerne, aber nicht nur bist du unsere Lichtquelle, mein Sonnen schein, Höhlen sind einfach ein wenig... nachteilig für mich. Ich bin ein Kind des Himmels und keines der Erde." Tatsächlich hätte er das sogar auch ohne seine Magie gesagt...

Souta hätte Seraphims Worte wahrscheinlich eher in der Art „Geh vor, du hast Licht“ formuliert und den ganzen Mist mit dem Kind des Himmels weggelassen, aber er schenkte seinem weißhaarigen Partner dennoch ein Lächeln auf seine poetische Aussage hin. Obgleich recht umständlich gesagt, war es ein großes Stück für den Himmelsmagier, dass er seine Schwäche zugab. Außerdem wurde es dem Rotschopf ganz kribbelig im Magen, wenn er daran dachte, dass er die Führung übernehmen durfte. Das lag nicht einmal daran, dass es ihn an irgendetwas erinnerte, was an horizontaleren Orten stattfand, sondern an der Aufregung, die Sache lenken zu dürfen und Verantwortung zu besitzen. Für gewöhnlich versuchte sich Souta irgendwie am Amt des Questleiters vorbeizudrücken und schlängelte sich an sämtlichen verantwortungsvollen Positionen vorbei wie ein Aal, allerdings nicht ohne von diesen zu profitieren – man denke daran, dass er zwar das Examen mitgewonnen hatte, allerdings sein Freund den Titel abgreifen durfte, wodurch er gut aus dem Schneider war – aber Seraphim gegenüber besaß er ohnehin schon einen Beschützerinstinkt, der an eine Bärenmutter erinnerte, da machte so ein bisschen Sonnenschein spielen den Kuchen auch nicht mehr fett. Außerdem durfte er den Helden spielen! Zwar hatte der Ältere ihm genau das eigentlich verboten, weil er dazu neigte, sich dabei in Gefahr zu bringen, doch all das waren Kleinigkeiten, die wirklich niemanden interessierten. Souta versuchte noch einen Moment lang aus dem Gesicht des Anderen zu lesen, was dieser mit dem Teenager getan hatte, entschied sich dann jedoch dafür, dass er das eigentlich nicht wissen wollte und machte einen Hüpfer durch den Gullideckel. Der Sturz war tiefer, als er angenommen hatte, weswegen er einen erschrockenen Jappser ausstieß, als er mit den Beinen unsanft in brackigem Wasser landete, das er aufgrund der Dunkelheit zum Glück nicht allzu genau erkennen konnte. Es war hier nicht nur zappenduster, sondern roch auch gewaltig nach Klo, was wohl irgendwie optimal war. Hunde oder andere Spürtrupps würden ihre Probleme haben, hier jemanden zu finden – sofern man denn auf die verrückte Idee kam, hier nach Verbrechern zu fahnden. Souta hob erneut die Hand und spielte flackernde Taschenlampe, so dass sein Gesicht im rötlichen Feuerschein leuchtete. In Ordnung, kein Problem. Wieso durchsuchten sie nicht das größte Abwassersystem Fiores nach einer geheimen Organisation, welche sich hier angeblich irgendwo befinden sollte, wo Seraphim wahrscheinlich nichts als Gülle roch und man kaum sehen konnte … Klang doch spaßig, nicht? „Am besten du bleibst ganz dicht bei mir, hier verirrt man sich sonst“, meinte er trotz der Offensichtlichkeit dieser Tatsache und überlegte, ob er nach der Hand des Älteren greifen sollte, entschied sich allerdings dagegen. Nicht nur war dieser Ort wenig romantisch, man sollte sich nicht behindern, schließlich waren hier irgendwo böse Jungs, die wahrscheinlich ebenso nach ihnen suchten wie sie … oder versuchten, schleunigst zu fliehen. Trotz all der heldenhaften Motive ging der Atem des Rotschopes einen Ticken zu schnell und er klang möglicherweise ein winziges bisschen höher und flehentlicher als sonst, doch das hatte natürlich nichts mit Angst zu tun. Dieser enge, dunkle Tunnel erinnerte ihn einfach an den Geheimgang zu Lord Krayts Schloss und die damit verbundene Falle, welche darin geendet hatte, dass er Amok lief und … Er sollte nicht darüber nachdenken. Sein Flammenarmreif flackerte ein wenig, weil seine Konzentration kurz nachließ, aber er riss sich zusammen und blickte dann ernst und nur ganz leicht verkniffen in die Dunkelheit, ehe er entschlossen die erste Schritte ins Unbekannte machte. Er mochte diesen Ort auch nicht besonders...

Seraphim ging nicht. Wer würde von ihm, dem beinahe allmächtigen Himmels Dragonslayer auch erwarten, dass er sich wie niederes Gewürm im stinkigen Dreckwasser unter der Erde wälzte, seine Füße in Schlamm vergrub und den Gestank der Kloake an sich heranließ? Natürlich schwebte er über der widerlichen Brühe, die den Boden bedeckte, sein weißer Schopf geradezu unnatürlich sauber in der Umgebung. Er wirkte so farblos, als könne Souta sein Feuer erlöschen lassen und seine Haare würden dennoch durch die Dunkelheit scheinen, in einem überirdischen, matten Schemen. Nichts davon bemerkte er freilich selbst und niemand hätte es in so blumigen Worten beschrieben, weil alles sie Umgebende eine andere Sprache sprach. Das Abwassersystem der Stadt war wie alles in Morakkasu durchaus gut ausgebaut, aber dabei hatte man es in den nicht wichtigen Teilen der Stadt belassen. Solange die Kanäle dicht blieben und Unrat und Müll aus der Stadt transportierten, gab es keinen Grund, sie zu warten und das merkte man ihnen auch an. Teile der Wände waren rissig und doch wuchsen nur wenige Pflanzen hier unten, allen voran Moose, die sich mit den Lichtverhältnissen besser arrangieren konnten, als sonnenliebendes Grün. Auch Seraphim liebte das Licht, die wamen Strahlen auf der Haut und die frische Luft, die er auf seiner Dachterrasse so gut genießen konnte. In vielerlei Hinsicht war er wie die Pflanzen dort oben, denn auch er kam sich momentan vor, als würde er in Kürze vergehen. Wenn dieser Ort schon für den Rothaarigen wie eine Kloake roch, wie mochte es dann jemandem ergehen, dessen Geruchssinn den eines normalen Menschen um ein Vielfaches übertraf? Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes wirkte wie versteinert, als er dem Feuermagier folgte, während er alle Konzentration, die er aufbringen konnte, dazu aufwenden musste, sich nicht in hohem Bogen zu übergeben. Er musste sich nicht einmal vorstellen, was da unter seine Füßen alles vorbeischwamm, um seinem Körper zu signalisieren, dass er alles Essbare am Liebsten wieder loswerden wollte. Es schien ihm, als wecke der Gestank urtümliche Reflexe in ihm, die sein Gehirn einfach übersprangen und direkt zu seinem Magen wanderten. Er hasste es, wenn sein Körper nicht auf ihn hören wollte, doch normalerweise war ein Fehlen dieser Kontrolle maximal von guten Gefühlen begleitet, jetzt jedoch... "Warum können die ihr Geheimversteck nicht in einem Meer voll Blumen haben?", motzte er, die schlechte Laune so deutlich aus seiner Stimme zu hören wie sonst selten.
Immerhin hatte die Umgebung den großen Vorteil, dass er bei all dem Ekel ganz vergaß, sich Sorgen zu machen oder gar Angst zu haben. Nichts auf der Welt könnte ihn schlimmer treffen als dieser Gestank, außer vielleicht mit ihm anhaftend einer heißen Frau zu begegnen, die er seinetwegen abschreiben konnte. Niemand würde seinem perfekten Aussehen, seinem Charme, seinen Säuseleien Aufmerksamkeit schenken, wenn er währenddessen stank, als leide er unter wütendem Brechdurchfall. Der Grund, aus dem Menschen schöne Exemplare ihrer eigenen Art lieber mochten, war die Gesundheit, die sie ausstrahlen, gepaart mit dem urtümlichen Bedürfnis, gesunde, lebensfähige Nachkommen zu zeugen und hey - wer könnte sich einen Stinkestiefel als sinnvollen Genspender vorstellen? Seraphim hatte zwar mitnichten vor, viele kleine Wattebäusche in die Welt zu setzen, aber es schmeichelte seinem Ego dennoch nicht, sich vorstellen zu müssen, wie andere ihn wohl sehen mochten. Wenigstens - und das war auch gerade sein einziger Trost - musste Souta sogar noch schlimmer als er riechen. Was das wiederum bedeutete, sollte klar sein: Sobald sie hier fertig waren, würde er den Kettenmagier unter eine wunderschöne, saubere Dusche zerren, ob der wollte oder nicht.

Nach Seraphims Logik mochte Souta zum niederen Gewürm zählen, welches gezwungen war, auf Erden zu wandeln und durch eine stinkige Kanalisation zu waten, doch in gewisser Hinsicht hatte er ihm in dieser Situation wohl auch einiges voraus. In vielen Situationen, zum Beispiel beim Wittern von Feinden und Gift oder beim Einkaufen in einem Gewürzmarkt, war der Superzinken der Dragonslayer wahrscheinlich überaus nützlich, aber sobald man durch einen Kanal watete, drehten sich die Verhältnisse etwas um. Souta war im ärmeren Viertel einer Hafenstadt aufgewachsen, wo es gerne einmal tagelang nach Fisch und abgestandenem Wasser roch, daher verband der Rothaarige mit diesem finsterem, feuchtem Loch eher noch Heimatgefühle als Abscheu, wenngleich es auch für ihn etwas zu sehr müffelte. Er wollte sich gar nicht vorstellen, was für Belastungen sein Freund und dessen feines Näschen in diesem Moment auszustehen hatten, doch andererseits musste der auch nicht durch kaltes Mistwasser waten, also hielt sich sein Mitleid in Grenzen.

Als Seraphim zu motzen anfing, musste er dennoch grinsen und sich ins Gedächtnis rufen, dass dieser Mann von einem wilden Tier erzogen worden war, was man manchmal zu gerne vergaß. Er war wahrscheinlich sein ganzes Leben lang in die Büsche gegangen, wenn er einmal musste, dennoch beschwerte er sich über das hier … Na ja, so genau wollte er darüber nun auch nicht nachdenken. Klogänge waren eine Grenze, die man nicht zwingend überschreiten sollte – auch nicht in einer derart engen Beziehung. Der Rotschopf hielt die Hand erhoben, um möglichst viel erkennen zu können und fragte sich still, wieso es hier nur so verwinkelt sein musste. Sie hatten nicht einmal einen Hinweis, woran sie sich orientieren konnten, nur ein bisschen Licht und den Gestank der Kloake. Er wollte diese Erkenntnis gerade mit Seraphim teilen, schaute nach oben und entdeckte einige Meter weiter vor ihnen etwas Glänzendes an der Decke, was von dieser hing. Misstrauisch näherte er sich dem Objekt und hielt die Hand nach oben, verstärkte den Zauber einen Hauch, auch wenn er das in seinen Manakosten spürte. Etwas dunkles, langes ragte aus der steinernen Decke auf, welches in einer längeren, silbrigen Klinge endete und …
„Mein Baby!“ Mit dem Ausruf, den eine Mutter, deren Kind man aus einem brennenden Haus gerettet hatte auch nicht besser hinbekommen hätte, machte er einen Hüpfer und packte den Griff seiner Waffe mit einer Hand, um das Schwert aus dem Stein zu ziehen, doch es rührte sich keinen Milimeter. Ein paar Putzbröckchen regneten herab, mehr nicht. „Was zum ...“
Der Zauber erlosch und ließ sie für einige Sekunden in Dunkelheit zurück, während man ein Ächzen hörte. Für Augen, welche sich bereits an die veränderten Lichtverhältnisse gewöhnt hatten hing ein Kettenmagier nun sehr akrobatisch kopfüber an der Decke und drückte die Beine dagegen, während er versuchte, seine irgendwie verkeilte Waffe aus ihrem irdenem Gefängnis zu befreien. Schließlich gab es ein Knacken, ein Knirschen und einen überraschten Laut, gefolgt von einem Platschen, welches stinkende Brühe in alle Richtungen verteilte. Ein Husten, ein gedämpftes Wimmern und das Aufflackern einer Flamme später erbot sich Seraphim ein sicherlich sehr erheitender Anblick, sofern er nicht zuviel von der Kanalflüssigkeit abbekommen hatte. Unter ihm saß Souta, von Scheitel bis zur Sohle komplett durchnässt, mit einem angewidertem Gesichtsausdruck und einem festen Griff um seine Waffe, die er vermutlich nicht mehr so schnell loslassen würde. Während sich der Feuermagier aufrichtete und dabei bemerkte, dass kaltes Wasser und weiße Tops nicht übermäßig gut miteinander harmonisierten, weil durch ohnehin schon enges Fabrikat gewisse Dinge deutlicher hervorgehoben wurden, als er das wollte, fluchte er leise und derb vor sich hin. „Ich hasse diese Quest. Das hier ist noch schlimmer als der Tsunami. Es ist dunkel und eng und jetzt werde ich bestimmt krank. Mein Schwert hat ziemlich sicher einen Kratzer und guck, irgendjemand hat die Decke aufgeschlitzt.“ Tatsächlich konnte man eine gerade Linie sehen, welche sich vom ursprünglichen Standort des Schwertes weiter in die Dunkelheit hineinzog, wie eine stumme Einladung.

Souta war nicht der einzige, der langsam aber sicher keine Lust mehr auf diese Quest hatte. Nachdem Souta sein Schwert zurückerobert hatte, stank nämlich nicht nur die Umgebung, sondern auch der Kettenmagier und das gefiel dem Dragonslayer noch ein Stück schlechter. Er würde ihn in seine Badewanne setzen und ihn ordentlich durchschrubben, damit er nur noch nach Shampoo duftete. Souta benutzte scheinbar rein zufälig Vanille als Geruch, einen seiner Lieblingsdüfte und so war das Resultat stets besonders einladend. Das einzig gute an Soutas momentanem Stinkezustand, war die Tatsache, dass er zusätzlich auch noch durchnässt war. Der Kettenmagier war ein körperlich ziemlich trainierter Mensch, sodass es tendenziell immer besser war, wenn man viel von ihm sehen konnte. Wo andere Menschen vor allem durch die Wahl ihrer leidung glänzten, sah der Feuermagier am besten aus, wenn er überhaupt keine anhatte. Seraphim würde ihm ja erlauben, nackt herumzulaufen, aber viele Behörden hatten etwas gegen allzu viel zur Schau gestellte Haut, sodass er sich wohl oder übel einigermaßen zivilisiert geben musste. Dabei gab es nun wirklich nichts, wofür der Kettenmagier sich schämen müsste oder das versteckt bleiben sollte... na ja.
Der Dragonslayer verzichtete zwar darauf, Souta zu umarmen oder zu küssen, weil das zwangsweise mit Dreck verbunden wäre, aber er lächelte ihn dafür umso breiter an, ehe er hauchte: "Wenn du krank wirst, pflege ich dich gesund, Souta-chan~" Nachdem er ihn sauber gemacht hatte, war das gar kein Problem. Im Grunde genommen würde es ihm sogar gefallen, wenn der Rothaarige eine Zeit lang nicht das Bett verlassen konnte, weil er ihn dann immer um sich hatte... das wäre fast so, als würde er ihn als Haustier halten. Ein Souta-Haustier hätte wirklich etwas, man konnte es streicheln, es kuscheln und dafür musste man es nur füttern und ihm ab und an etwas Bewegung verschaffen. Wenn er so darüber nachdachte, musste er Souta immer noch einmal Katzenohren aufsetzen. Doch sie befanden sich hier in einer dunklen Kanalisation, in der diese Art von Spielzeug einfach keinen Platz hatte. Außerdem sollte er sich besser auf ihr Vorgehen konzentrieren, sonst würde er wohl nicht mehr dazu kommen, Souta von der Dreckschicht zu befreien... Fakt war auf jeden Fall, dass das Schwert hier wohl kaum zufällig steckte. Es war eine sehr potente Waffe und niemand würde auf die Idee kommen, es so einfach zurück zu lassen. Die Tatsache, dass jemand das dennoch getan hatte, beunruhigte ihn ein wenig, denn wenn er so darüber nachdachte, konnte das zwei Dinge über ihre Gegner aussagen: Entweder sie waren unfassbar stark oder sie überschätzten sich noch heftiger. Das hier war eine Einladung und eine Stärkung gleichermaßen... das musste doch irgendeinen Grund haben!
Da Seraphim aber nicht einfiel, was dieser sein mochte, seufzte er nur und schwebte danach in Richtung des Schnittes weiter, immer bereit, seine Flugroute drastisch zu verändern. Hoffentlich aktivierte Souta bald wieder seinen Feuerzauber, denn sonst würde er bestimmt demnächst gegen etwas fliegen und das musste er sich nicht geben. Sie würden das hier einfach so schnell wie möglch hinter sich bringen und danach mit einem heißen Kakao ein angenehm heißes Bad genießen.

Schon vom Start dieses Tages an gingen für Souta alle Dinge schief. Er hatte es nicht nur geschafft, seinen Freund zweimal zu verärgern und sich einmal sogar mit ihm zu streiten, sondern war auch erst einem Verbrecher auf den Leim gegangen und hatte dann eine Person verloren, die vollkommen unschuldig war. All das ging auf seine Kappe, so sehr man ihm dies auch ausreden wollte – und zur Krönung dieses absoluten Scheißtages watete er nun auch noch knietief in der Manifestation dessen, was er gerne gen Himmel schreien wollte, bloß konnte er das nicht, weil anstelle weißer Wolken nur Stein und ein einladender Schlitz in der Decke war, der provokativ in die Dunkelheit hineinführte. Das Einzige, was hier weiß und flauschig war, war die Mähne Seraphims, und obwohl er sich nun gerne heulend an dessen Brust geworfen hätte, ließ er Schwächeanfälle dergleichen doch lieber sein und seufzte stattdessen den tiefsten Seufzer aller Zeiten. Souta war dreckig, übellaunig und auch ein wenig hungrig, aber immerhin hatte er sein Baby zurück, dem nichts passiert zu sein schien. Nachdem sein Dragonslayer sich außerhalb seiner Schlagweite befand, ließ er es erneut in der Hand kreisen, doch es fiel tatsächlich nicht auseinander und war deshalb wohl ein Lichtblick in der stinkenden Dunkelheit ihrer Umgebung.

Ein paar Schritte später flackerte seine Hand erneut auf und tauchte den dunklen Gang in neues Licht, während Souta darüber nachdachte, gesund gepflegt zu werden. Einen Moment lang überlegte der Rotschopf, ob er erwähnen sollte, dass eine kurvige Krankenschwester ausreichen würde, doch dann überlappte sich sein geradezu eidetisches Gedächtnis im Zusammenhang mit weiblichen Rundungen mit Erinnerungen an vergangene Quests und projezierte ein glaubhaftes Hologramm einer uniformtragenden Cyra vor sein inneres Auge. Sie würde ihm Hühnersuppe machen und seine Brust mit Medizin einreiben und Fieber messen … Nein, das konnte der männliche Cyrus wohl besser … Wo gingen sie eigentlich lang?

Im warmen Schein des Feuers erschien Soutas Gesicht fast schon verschämt rot, als er sich mit gerunzelter Stirn umblickte und dabei bemerkte, dass der Strich über ihnen sein Ende an einer großen, stählernen Tür nahm, wie man sie beispielsweise auf Schiffen fand. In der Mitte befand sich eine Art Ventilrad, mit dem man den Öffnungsmechanismus betätigte. Aber wieso hatte jemand eine solch bombenfeste Tür hier eingebaut, mitten in der Kanalisation? Zugegeben, ohne den netten Kratzer an der Decke wäre es schwer gewesen, diesen Ort zu finden, doch das machte ihn nur noch verdächtiger. Irgendjemand wollte entweder etwas dort drinnen beschützen oder dafür sorgen, dass man nicht zu leicht hineinkam. Souta blickte kurz zu Seraphim hinüber und trat dann an die Tür heran. Während er mit einer Hand leuchtete, wohin er griff, lehnte er sein Schwert an die Wand und umschloss das kühle Metall des Rades mit der anderen. Erst tat sich nichts, aber nach ein wenig mehr Gewalt drehte es sich schließlich quietschend herum. Es gab ein knarrendes Geräusch, dann öffnete sie sich beinahe spielend.

Kaum war die Tür weit genug offen, dass man hineinsehen konnte, flackerten geradezu synchron etwa ein Dutzend Lichter auf, die man dekorativ im Kreis angeordnet hatte. Souta nahm seine Waffe wieder auf und riss das Auge auf, als er sah, was für ein Anblick sich ihnen bot: Sie befanden sich in einem nahezu perfekt rundem Raum mit hoher Decke. Am oberen Rand erstreckte sich eine nicht einsehbare Galerie, darunter waren die lachrymabetriebenen Lampen angebracht, so dass sie ihr Licht nur auf die Mitte des Zimmers werfen konnten. Dort befand sich ein einziger Stuhl, auf dem wiederum eine junge Frau saß, welche sie bereits kannten: Grünhaarig, mit tränennassen Augen und einem Knebel im Mund starrte ihnen Nora entgegen, gefesselt und vor Angst so sehr zitternd, dass ihr Stuhl mitzuwackeln schien. Souta verlor keine Zeit und näherte sich dem menschlichen Bündel mit einem erleichterten „Nora!“-Ausruf, doch als er vor ihr auf die Knie fiel, hörte man plötzlich ein mehrstimmiges Sausen: Armbrustbolzen schossen – wie man sicherlich bereits erwartet haben könnte, wäre man nicht mit Heldenhaftigkeit besessen – vom oberen Stock auf den Rothaarigen und seine Schutzbefohlene zu, welche dieser mit seinen Armen umschlang, um sie vor den tödlichen Geschossen zu bewahren. „Seraphim …!“

Seraphim hatte Souta schon mehrmals eingeschärft, dass er nicht den Helden spielen sollte. Er hatte inzwischen zwar begriffen, dass dies eine Angewohnheit des Rothaarigen war, über die er sich weitestgehend definierte, aber das bedeutete ja nicht, dass er es auch nur ansatzweise gutheißen musste. Sicherlich war dieser Reflex des Einäugigen möglicherweise lebensrettend für einige Menschen, doch gleichzeitig brachte er das Leben Soutas in Gefahr. Wenn Seraphim entscheiden musste, ob ihm das Leben von hundert Unbekannten oder das seines Freundes wichtiger war, fiel ihm die Wahl nicht schwer - er würde sie ohne zu zögern selbst anzünden, wenn es den Kettenmagier rettete. Daher ärgerte er sich auch, als Souta, kaum dass sich die Tür mit einem klischeetypischen Quietschen und Knarren öffnete, sofort alle Vorsicht über Bord warf, als er ihre Zielperson inmitten des Raumes erblickte. Es war ja nicht so, als würde die ganze Situation das Wort Falle aus alle Ritzen, Schatten und der ungemütlichen Position der Dame selbst schreien, nicht wahr? Niemand fesselte einen Gefangenen auf Dauer auf diese Weise und erst Recht nicht mitten in einem runden Raum, der praktisch für einen Hinterhalt geschaffen war. Seraphim hätte nun also als erste Reaktion versucht, diese Falle auszuhebeln, ehe er sich Nora annahm. Sie hatte bisher überlebt, also würde sie es auch weiterhin schaffen. Nicht so Souta. Der sah die Grünhaarige und angetrieben von ihren Tränen und wahrscheinlich auch ihrem üppigen, momentan bebenden Vorbau, warf er sich ihr zu Füßen und blickte sie an, als sei sie gerade alles, was für ihn existierte. Eine klitzekleine Sekunde dachte Seraphim darüber nach, ob er einfach abwarten sollte, damit Souta sah, was er mit seiner Dummheit anrichtete, doch er brauchte nicht erst das Sirren der Armbrüste, um zu bemerken, dass er das gar nicht konnte. Es war dumm, so dumm, was der Feuermagie da anstellte und er hasste jede Sekunde davon, aber er konnte nicht stehen bleiben und zusehen, wie der Rothaarige durchbohrt wurde. Der einzige, der das Recht zu solchen Aktionen hatte, war immerhin er selbst...
"Verdammter Gutmensch...", grummelte er, während er sein Mana konzentrierte und einen Sprung in den Raum machte. >Sky Dragon's Repulsion!< Die Druckwelle fegte durch den gesamten Raum, ließ auch Souta und Nora ein wenig rucken und ließ die Armbrustbolzen, die ihnen allen gefährlich nahe gekommen waren, noch im Flug umdrehen. Seraphim legte die Arme zusammen und zog sie danach ruckartig auseinander, sodass sich zwei wirbelnde Peitschen aus Wind um sie bildeten, mit denen er blindlings in die Dunkelheit über ihnen schlug und mit einem Stöhnen mehrerer Stimmen belohnt wurde. Eine Armbrust fiel zu Boden, eine weitere klatschte gegen eine der gemauerten Wände. "Was würdest du eigentlich tun, wenn du mich nicht hättest, Souta...chan?" Irritiert drehte er sich zu dem Kettenmagier in der Mitte des Raumes um. Er war sich beinahe sicher, auch aus seiner Richtung ein Stöhnen gehört zu haben, was ihm in anderen Situationen sicher gefallen hätte - nun löste es jedoch ein unschönes Gefühl aus, das seine Wirbelsäule herunterschoss und Gänsehaut zurückließ. Hatte er etwas übersehen?

Souta hatte keine Angst. Nicht im Geringsten. In einem Moment rief er den Namen seines Freundes durch den Raum, im nächsten spürte er Noras weichen Körper, den er an sich drückte. Er reichte gerade genug, um sich als Schutzschild über sie zu breiten und die wichtigsten, lebensnotwendigen Stellen ihres Körpers vor nahenden Bolzen zu bewahren, aber obwohl sein Herz in seinem Brustkorb flatterte und das Adrenalin durch seine Venen schoss, wusste er, dass dies nicht nötig sein würde.
Oh, er war ein Idiot und er würde die größte Standpauke seines Lebens erhalten, wenn sie mit diesem Business abgerechnet hatten, aber im Moment größter Gefahr blieb Itasa Soutanobu absolut cool. Er war nicht abgebrüht, abgestumpft oder ein so harter Bursche, dass ein Hagel aus potenziell tödlichen Geschossen ihn nicht aus der Fassung bringen würde. Selbst in seinen abenteuerlicheren Jahren bei Lamia Scale hätte eine derartige Situation ihn wahrscheinlich mit dem leichten-Unbehagen-Zug Richtung Schwitzen befördert, aber damals hatte er auch noch nicht gewusst, was für eine köstlich magische Kraft Vertrauen besaß. Vierzig Jahre verheiratete Ehepaare saßen sich auf dem Frühstückstisch gegenüber und führten ihre Gespräche größtenteils telepathisch, uralte Freunde konnten an den Ticks ihres besten Kumpels sofort erkennen, wenn dieser ein Problem hatte, und er und Seraphim waren ein Brei aus diesen beiden Szenarien, den das Schicksal für sie als Schnellgericht zusammengekocht hatte. Aus dem „Schatz, willst du noch eine Scheibe Speck?“-Szenario wurde eine braun gebrannte Faust, deren Nebenjob manchmal kosmetische Landschaftsgärtnerei war, wenn sie gebraucht wurde. Ein Küsschen am Morgen, schneidende Luftklingen am Nachmittag, streichelnde, blasse Hände am Abend. Das war das eigentümliche Abrakadabra ihrer Beziehung, deshalb hatte Souta keine Angst. Furcht war in dieser Situation einfach vollkommen irrational. Warf man einen Stein, landete dieser schließlich auf dem Boden und flog nicht einfach vertikal nach oben, oder?

Er schlang die Arme um Nora, um sie gleichzeitig zu schützen und zu beruhigen. Natürlich hätte er versuchen können, den Bolzen auszuweichen. Vielleicht hätte er es geschafft. Vielleicht wäre er an der Wand hochgelaufen, hätte sich abgestoßen und hätte im Rückwärtssalto ein paar der Pfeile aus der Luft gepflückt wie ein umgekehrter Dartspieler, weil er es wahrscheinlich hingekriegt hätte, aber das war nicht nötig. Keines der Geschosse würde ihn auch nur berühren, also konzentrierte er sich ganz auf Noras rasenden Puls, ihren zitternden Leib und den von sanften Schluchzern geschüttelten Kopf, während sein Gehirn auf Beschützen schaltete.
Außerordentlich dumm.
Souta und Seraphim mochten ihn tanzen, den telepathischen Walzer, der manchmal zu einem Tango und manchmal zu einem lustigen Twist mutierte, aber der Rothaarige machte allzu oft den Fehler, zu glauben, dass auch alle anderen Menschen zum selben moralischen Rhythmus tanzten. Nicht einmal Seraphim tat das: Ihm war Souta auf der Tanzfläche nur wichtiger als die unartigeren Schrittchen, bei denen sein Freund ihn nicht begleiten würde. Wie sich herausstellen sollte, war auch Nora nicht auf derselben Wellenlänge. Sie ging nicht einmal in denselben Club. Sie war gefesselt und somit wehrlos, aber natürlich hatte der Rotschopf keine Sekunde darauf verschwendet zu überprüfen, wie fest ihre Seile tatsächlich waren. Auch das war dumm, denn so merkte er kaum, dass sie sich befreite und ihm die Arme un die Schultern legte, als suche sie Trost. Wahrscheinlich hätte er dies nicht einmal dann seltsam gefunden, wenn sie sich direkt vor seinem Auge befreit hätte, schließlich war sie sehr weiblich und sehr verzweifelt und brachte damit sein heldenhaftes Herz zum Bluten. Ihre Lippen berührten sein Ohr, während die Bolzen wie ein aufgebrachter Vogelschwarm davonstoben, verscheucht von einer unwirschen Handbewegung seines Freundes.
„Ich hatte mich auf einen ernsthaften Kampf zwei gegen einen eingestellt, aber so ist es noch viel besser, Souta.“ Ihre Stimme klang sanft, doch die Worte waren verwirrender denn je. Der Angesprochene öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen könnte, verlagerte sich ihre Hand von seinem Rücken zu seiner Vorderseite und sie schaute ihn aus großen, tränenerfüllten Augen an, die jeden Zweifel aus seinem Hirn saugten. Schließlich war er sich absolut sicher, dass sie ihn zur Belohnung küssen würde, und obwohl ein Teil seines Herzens dabei in Alarmzustand geriet, hielt der restliche Souta dies für eine ausgezeichnete Idee. Nur kam er nicht so weit, dass sich ihre Lippen berührten, denn irgendwo auf dem Weg dorthin explodierte sein Bauch. In einem Moment war alles in Ordnung, im nächsten schubste sie ihn von sich weg, und er rollte, rollte. Unzusammenhängende Gedanken überfluteten seinen Kopf und er strengte sich an, eine Lösung zu finden, doch Nora machte es ihm ein wenig leichter, indem sie ein blutiges Messer hochhielt. Und grinste. Ihr Lächeln machte sie zugleich jünger und hässlicher. Souta holte Luft, bemerkte, dass er dies ohne Probleme konnte und daher mit seinem Atemtrakt alles in Ordnung war. Auch mit seinen Gliedmaßen war alles okay. Mit dem Fehlen von lebensbedrohlichen Wunden? Nicht so wirklich. Souta spürte Lava aus seinen Bauch laufen und als er probehalber die Hand dorthin legte, wo sie ihn verletzt haben musste, spürte er a) schreckliches Aua und b) färbte sich die Finger sofort rot. Betäubt von Schmerz und Unglauben lag er auf dem Rücken wie ein umgeworfener Käfer, blutete vor sich hin und stöhnte. Es war nicht einmal ein besonders gequältes Stöhnen, das nach Hilfe rief … Es klang eher nach „Oh, scheiße.“. Nicht nur hatte Seraphim mit seinem grundlosen Hass gegenüber Nora Recht behalten, er hatte sich auch noch auf der Quest verletzt, auf der er ihn ermahnt hatte, genau das nicht zu tun. Diese Standpauke würde man noch am anderen Ende des Königreiches hören. Er würde wahrscheinlich nicht sterben, seine Wunde war tief, aber nicht sofort tödlich, aber sie schmerzte wie ein Miststück und hielt ihn davon ab, sich in etwaige Kämpfe einzumischen. Nicht, dass es diese geben würde. Wahrscheinlich würde keiner von ihnen erfahren, warum Nora Jones war und wie sie ihren Plan ausgeführt hatte, denn mit dieser Aktion hatte sie ihr Leben ausgehaucht. Zeit für Schadensbegrenzung. Er hob die nicht-rote Hand (die andere drückte auf seine Wunde) und gab ein flehendes „Seraphim“ von sich, das vielleicht genug Überzeugungskraft besitzen könnte, um den ohne Zweifel folgenden Berserkermodus noch einen Augenblick herauszuzögern. „Tu ihr nicht weh ...“ Sie verdiente den Tod nicht, denn welche Informationen auch immer stimmen mochten, sie war in diesem Augenblick immernoch die kleine Schwester von Sam Jones und damit seine Schutzbefohlene. Sie war zwar ohne Zweifel nicht unschuldig und hatte ihn überdies übel gemessert, aber das änderte nichts daran, dass ihre Aufgabe lautete, sie einzubuchten, nicht, Selbstjustiz zu üben. Da sie näher an ihm war, hörte sie seine Worte und verzog ihr Gesicht, erst zu einer Maske des Hasses und der Abscheu, dann – interessant – zu einem ehrlichen Ausdruck der totalen Baffheit.

Obgleich Seraphim sich einer guten Körperbeherrschung rühmte und er der Meinung war, dass es einer gewissen Kunst bedarf, ihn aufzuregen, sah er von einem Moment auf den anderen Rot. Normalerweise hatte er sich im Griff, konnte Beleidigungen und Angriffe mit einem Schulterzucken ab, doch es gab eben diese eine einzige Ausnahme, die sein Wesen schon in mehrfachem Sinne umgekrempelt hatte und wohl für immer eine Ausnahme sein würde. Wenn man ihn schmähte, was sollte es, aber wenn jemand Souta beleidigte und dieser sich deswegen schlecht fühlte, bekam man seinen Missmut zu spüren. Kam jemand auf die unglaublich clevere Idee, den Kettenmagier anzugreifen oder am Ende noch schwer zu verletzen, entfachte man etwas in ihm, das jeden Zuschauer wohl ohne Zweifel glauben lassen würde, dass er der leibhaftige Sohn eines Drachen war. Stand man mit einem blutverschmierten Messer neben einem am Boden gekrümmten Souta, aus dessen Bauch es Hellrot sickerte, so stark, dass Seraphim schon nach wenigen Sekunden den beißenden Geruch in der Luft wahrnehmen konnte, wäre es vielleicht eine bessere Idee, sich in Luft aufzulösen. Zu schade also, dass Nora Jones dieser Gabe nicht mächtig war.

Das Rot von Soutas Blut schien sich auszubreiten, kroch langsam über seinen Körper, die Wände, die ganze Umgebung, bis sich der rote Nebel komplett über Seraphims Wahrnehmung gelegt hatte. Die Luft schien dicker geworden zu sein, sodass das Atemholen beinahe körperliche Anstrengung hervorrief, wegen derer sich sein Herzschlag zu beschleunigen begann. Sein ganzer Organismus schien den Eindruck zu machen, er würde sich auf einen Sprint vorbereiten, einen Sprung, Kraft baute sich auf, die schon nach wenigen Augenblicken niemals kontrolliert hätte losgelassen werden können. Es machte ihn wütend, Souta verletzt zu sehen, nicht nur weil er wusste, dass es ihm höllische Schmerzen bereiten musste, sondern auch, weil das einfach ein Unding war. Souta war sein perfekter, heiler, niedlicher und wunderschöner Freund, er war praktisch sein Eigentum und wer es wagte, das zu beschädigen, musste büßen. Seraphim war zufrieden, wenn der Kettenmagier lachte, wenn er satt und glücklich war, er in seinen Armen einschlief und dabei das ganze Kissen vollsabberte. Niemand durfte auch nur den Versuch wagen, ihm diese Momente wegzunehmen... auch Souta selbst nicht. Er war zornig geworden, als er die Narben an seinen Unterarmen bemerkt hatte, vielleicht auch etwas besorgt - aber in diesem Augenblick war es nur brodelnde Wut, die ihn durchströmte. Niemand machte seinen Souta kaputt! Niemand tat ihm weh und brachte ihn dann auch noch auf so idiotische Ideen, wie darum zu bitten, die Person zu verschonen, die ihm so zugesetzt hatte... das war so typisch dummer, heldenhafter Gutmensch! Erst sabberte er über die Oberweite dieser Frau und dann verteidigte er sie auch noch, nachdem sie ihn abgestochen hatte?!

Wenn Noras Ausdruck sich im Anblick von Soutas Reaktion von hasserfüllt zu baff gewandelt hatte, so verschwand in den nächsten Sekunden, in denen sie zu dem Weißhaarigen blickte, jegliche Farbe aus ihrem Gesicht. Seraphim war einen Moment zu versteinert gewesen, um auch nur irgendwie zu reagieren, doch in dem Moment, in dem sich ihre Blicke trafen, schoss etwas aus seiner Hand ins Dunkel über ihnen und schien dort zu explodieren, so gewaltvoll, dass das Rot, das nun die Wände zierte, keinesfalls die Einbildung des Dragonslayers war. Durch irgendein Ventil hatte der Schock herausgemusst - und Nora schien verstanden zu haben, dass sie jetzt vielleicht noch eine Sekunde hatte, ehe die Hölle über ihr losbrechen würde, sie sie bereits in den aufgerissenen, violetten Augen erahnen konnte. Beinahe aus Reflex tat sie genau das richtige und ließ mit einem leisen Klonk das Messer fallen. Wäre sie gerannt, hätte Seraphim sie zu Tode gehetzt, hätte sie ihn angegriffen, wäre sie in tausend Stücke zerfetzt worden, aber so... standen sie sich wenige angespannte Atemzüge gegenüber, ehe der Dragonslayer langsam ein paar Schritte auf Nora zumachte. Die letzten zwei Meter waren in einer schnellen Bewegung überbrückt und der Handrücken des Weißhaarigen schoss durch das Gesicht des Mädchens, das mit einem Stöhnen zur Seite fiel und sich die Wange haltend, liegen blieb. Ein weiterer Blickaustausch reichte aus, um Worte unnötig zu machen. Wenn sie leben wollte, würde sie es nicht wagen, sich wegzubewegen.

Seraphim ging neben Souta auf die Knie und zog seine Hand von der Wunde in seinem Bauch, ehe er zwei grün leuchtende Handflächen auf sie legte. "Du bist ein Idiot, Souta-chan." Und obgleich der Inhalt seiner Worte alles andere als schmeichelhaft war, musste er unwillkürlich lächeln, als er sich vorbeugte und dem Kettenmagier einen Kuss auf die Lippen drückte, während sich die Wunde unter seiner Heilung schloss.