Nun Naomis Essen enthielt doch Fleisch, vielleicht nicht viel, aber die Putenstreifen waren deutlich von einem Tier und das sogar ein wenig kross gebraten. Doch das war schon genug. Immerhin hatte sie das dumme Gefühl, dass nach der langen Zeit Mindesternährung eine zu deftige Mahlzeit ihr einfach nur Übelkeit verursachen würde, wie es bei vielen unterernährten Menschen. Nun gut sie war nicht ganz so schlimm dran, dennoch wäre ein Burger oder ähnliches wahrscheinlich nicht die beste Wahl gewesen, allein der Gedanke am Ende überall Soße zu haben, nur nicht im Mund, nein das musste nicht sein. Als dann endlich die Kellnerin kam, die in der Tat aussah als würde sie zu viel von dem Essen was es hier gab zu sich nehmen. Nun gut es gab zwar schon gute und wohl auch gesunde Gerichte auf dieser Karte, aber von denen genoss sie allerdings wohl eher weniger. Eine Schade eigentlich, denn besonders Gäste wie Seraphim würde man mit einer attraktiven Kellnerin eher hier her locken und somit vielleicht auch mehr Umsatz machen, aber ihr war es sogar lieber, dass es keine zusätzlichen Attraktionen gab, mit mehr Konkurrenz als hier schon so herum lief wollte sie sich nicht herumschlagen müssen, auch wenn sie wusste, dass der Drache heute nicht jagte.
Auf die Frage der Kellnerin reagierte sie ebenfalls mit einer Bitte nach Wasser, was sollte sie auch anderes wollen. Diese süßen Getränke machten den Durst nicht weniger, Saft war immer viel zu schnell leer und Alkohol hatte sie noch nie getrunken und würde heute sicherlich noch nicht damit anfangen. Wenn sie ehrlich war wollte sie von diesem Tag nichts verlieren. Kein bisschen, kein Moment, er sollte ihr genau in Erinnerung bleiben und sie wollte es genießen. Also lächelte sie Seraphim entgegen und sah auch schon das Wasser kommen. Diesmal würde es sich nicht über ihn ergießen, da war sie sich sicher. "Seraphim", nannte sie ihn beim Namen, als die gewichtige Bedienung wieder von dannen gestapft war und als sie sich seiner Aufmerksamkeit sicher war kicherte sie leicht und hatte doch wieder dieses leuchtende vielleicht schon fast wieder etwas kindliche Lächeln im Gesicht und schob nach: "Ich hab dich sehr lieb." Genau das war es doch, was sie verband, eine viel schönere Form der Freundschaft? Wurde es nun kitschig? Ach was sollte es schon, sie mochte es und sie würde es weiterhin so sehen. Daran würde sich auch nie etwas ändern, oder? Er würde sie doch auch immer lieb haben, wenn sie keine riesige Dummheit beging.

Es war wirklich ein Jammer, dass Naomi keinen Alkohol trank, auch wenn man gerade den Eindruck bekommen konnte, dass es Seraphim war, der langsam nervös wurde. Albern wäre eine adäquate Beschreibung für diese Tatsache, denn der Dragonslayer hatte bereits mit so vielen Menschen ähnliche Tage verlebt, dass es ein Wunder war, dass ihm der Gedanke gerade Schauer über den Rücken jagte, deren Ursprung er nicht ganz verstand. Normalerweise hätte er ohne Zögern gesagt, dass er sich freute, aber hier blieb immer ein kleines bisschen Bitterkeit zurück, weil er das Gefühl hatte, dass etwas falsch war. Um auf die ausgelatschte Metapher mit dem Schulterengelchen und –teufelchen zurück zu kommen, gab es gerade ein reines, etwas zerschlissen und müde wirkendes Wesen und ein vor Zuversicht glänzendes, gehörntes Dämonchen auf den Schultern des Dragonslayers. Engelchen spielte ihm in einem fort Bilder von ihrer gemeinsamen Vergangenheit vor und benutzte Worte wie Cousine, Schwester, Kind und Schutzbefohlene, während Teufelchen auf gewisse körperliche Vorzüge hinwies und ihm spiegelte, wie angenehm der Abend werden konnte, wenn er jemanden dahatte, der sicherlich wunderbar formbar war. Selbstverständlich war die zweite Stimme aus Prinzip stärker in ihm, doch sein Gewissen, normalerweise sträflich vernachlässigt und verpönt, war heute unerwartet starrsinnig und hartnäckig. Ekelig. Seraphim gab beiden innerlich einen Klaps auf den Hinterkopf (Engelchen kippte um) und konzentrierte sich statt ihnen zuzuhören wieder auf sein reizendes Gegenüber.
Naomi war ihm ein echtes Rätsel, wenn man ehrlich sein wollte. Er hatte sie schon einmal gefragt, ob sie sich in ihn verliebt hätte, weil er genau wusste, dass das nie gut endete, aber damals hatte sie gesagt, dass das nicht der Fall sei. Ihre Worte widersprachen ihren Taten und vor allem ihrem Blick allerdings so extrem, dass er nicht anders konnte, als sich zu fragen, ob ihre damalige Antwort noch immer aktuell war oder sie vielleicht von Anfang an gelogen hatte. Er würde kein zweites Mal fragen, allerdings nicht aus Trotz, sondern weil er sich nicht sicher war, ob er mit jeder Antwort zurecht kommen würde. Das junge Mädchen war ihm doch etwas zu kostbar, um sie im Falle einer positiven Antwort dennoch flach zu legen, denn sie konnte ihm nicht erzählen, dass sie das so einfach abkönnen würde. Er wollte ihre Gefühle nicht verletzen, aber das würde ohne jede Frage passieren, sollte das so der Fall sein. Wäre er nun also ein wenig ethischer angehaucht, hätte er diese Frage umso sicherer gestellt, denn so hätte er ausschließen können, sie zu verletzen, aber Seraphim fuhr die andere Schiene: Aus den Augen, aus dem Sinn, was er nicht wusste, konnte er nicht in Betracht ziehen. Das war ohne Frage der bequemere Weg und derjenige, der ihn sicherer zu einer interessanten abendlichen Beschäftigung führte, auch wenn man ihn wohl rechtmäßig in Frage stellen durfte. Der Weißhaarige erwiderte ihr Lächeln und spähte kurz nach der Bedienung, selbstverständlich nur, um festzustellen, wann sie wohl wiederkommen würde. Für andere Intentionen war sie ohne Frage nicht attraktiv genug und sicherlich nicht diejenige, wegen der er hier öfter herkam. Ob sie Glück gehabt hatten, dass sie diese Frau abbekommen hatte, war nicht sicher, denn wahrscheinlich hätte Naomi sich ein wenig verarscht gefühlt, wenn er über die Kellnerin gesabbert hätte. „Du bist niedlich, Engelchen… nach wie vor, aber auf eine ganz andere Art…“, murmelte er und legte den Kopf leicht schief. Zuvor hatte man das Mädchen durchknuddeln wollen, jetzt dachte er zuerst an ganz andere Sachen. Noch interessanter war natürlich, dass Naomi das auf einmal auch tat – und vielleicht ein kleines bisschen verstörend.

Naomis Augen lagen auf ihrem Begleiter. Er war zwar immer noch Seraphim, aber irgendwie schien es, als hätte er heute etwas von seiner Selbstsicherheit eingebüßt. Für einen kurzen Moment konnte er auch diese anstrengten Sorgenfalten sehen, die eigentlich nur auf seiner Stirn zu sehen waren, wenn er über etwas wirklich anstrengendes nachdachte. Dann allerdings sprach er wieder und sie kicherte. Niedlich, immer noch niedlich sein, das war irgendwie erleichternd. Etwas was ihr sorgen machte war, dass er meinte auf eine ganz andere Art. Was für einen Art, was hatte sich verändert außer, ihr Blick wanderte an sich herunter und sie seufzte. Natürlich das hatte sich verändert, das war absolut nicht mehr ganz das was es gewesen war. Aber war das schlimm? Eigentlich nicht, aber das änderte eben einige Dinge. Die Bedienung kam mit ihren Bestellungen und Naomi dankte ihr. "Guten Appetit Seraphim-sama", sie schenkte ihm ein wirklich liebevolles Lächeln während sie die erste Gabel voll Salat in ihren Mund schob. Das Dressing schmeckte erstaunlich gut, der Käse war nicht zu penetrant und das Fleisch war wirklich lecker. Es war wirklich besser als sie erwartet hatte und somit doch ein Pluspunkt für diesen Ort. Dennoch hatte sie nicht vor viel Länger hier zu bleiben. Immerhin hatte sie an diesem Tag noch etwas anderes vor und hoffte darauf, dass es ihren schon wundervollen Tag zu einem wirklich atemberaubenden machen würde.

Naomis Beobachtung entsprach ohne Abstriche der Wahrheit: Seraphim hatte heute ganz eindeutig etwas von seiner Selbstsicherheit eingebüßt. Das hatte damit zu tun, dass er seine Handlungen normalerweise nicht in Frage stellte und sie daher ohne den leisesten Hauch eines Zweifels ausführen konnte; heute aber war das alles nicht ganz so simpel. Jedes andere Mädchen hätte er ohne Bedenken einfach so zu sich nach Hause gelenkt und sie am nächsten Morgen irgendwo abgesetzt, aber obgleich er sich eigentlich schon mit dem Gedanken abgefunden hatte, dass Naomi hier sicherlich nicht das Opfer sein würde, gab es immer noch Details, die gegen diese ganze Geschichte sprachen. Das stärkste, das ihm immer wieder vorgehalten wurde, wenn er in das nicht ganz entspannte Gesicht seiner Begleitung sah, hatte mit dem Schatten zu tun, der über ihren Augen lag. Es gab Ereignisse, die ihre Zeit brauchten, um größtenteils aus dem Leben einer Person zu verschwinden, lange Entbehrungen oder Handlungen, de die persönliche Freiheit zu stark eingeschränkt hatten. Menschen, die so etwas gerade hinter sich hatten, neigten oft dazu, den Eindruck, den das bei ihnen hinterlassen hatte, zu ignorieren, obgleich er vorhanden war, was sie zu Dingen trieb, die ihnen im Nachhinein nur schadeten. Der Dragonslayer, so asozial und ignorant er in solchen Angelegenheiten sein mochte, machte sich ernsthafte Sorgen, ob er dem kleinen Mädchen nicht vielleicht tiefer schaden könnte, als er ahnte. Es wäre durchaus denkbar, dass sie glaubte, dass sie damit zurecht kommen würde, nur eine einzige Nacht mit ihm verleben zu dürfen, aber danach tief traurig oder verstört sein würde. Sie konnte so oft sagen, dass sie ihn nicht liebte, ihre Handlungen sprachen vom absoluten Gegenteil. Nur ein wenig liebhaben war wohl etwas anderes, als sich jemandem gleich an den Hals zu schmeißen und was tat sie schon anderes? Sicherlich war sie dabei süß und niedlich, aber machte es das besser? Er gewann durch ihre irgendwie kindliche Art nicht gerade an Zutrauen, dass sie wirklich reif genug für so etwas war. Ihr musste der Schock noch tief in den Knochen stecken, alles andere wäre nicht logisch, also würde er ihren verwundbarsten Moment ausnutzen um ihr… na ja. Schadete er ihr damit oder nicht? Die Meinung militanter Frauenrechtlerinnen dazu konnte er sich vorstellen, ebenso jene der meisten Pädagogen und in diesem Punkt waren sie wohl recht eindeutig. Hatte der Dragonslayer, der für seine unmoralische Ader bekannt war, genug Schneid, sich dem vielleicht auftauchenden schlechten Gewissen zu stellen? Das paradoxe an ihm war, dass er durchaus Probleme bekam, wenn er ein solches hatte, weil er nämlich nicht daran gewöhnt war. Andere Menschen bekamen es öfter mit einem solchen zu tun, weswegen es für sie kaum einer Erwähnung wert war, aber für den Dragonslayer war es immer etwas Neues, Unerwartetes und erschreckend Tiefes. Er war daran gewöhnt, dass er wenigstens auf seine eigene Konstitution zählen konnte, denn wenn ihn diese betrog, konnte er damit schwer umgehen.
Sich selbst innerlich ohrfeigend wünschte er Naomi ebenfalls einen guten Appetit und nahm danach einen Bissen seines eigenen Essens, das sich als annehmbar bis gut herausstellte. Mehr konnte man von so einer Bar kaum erwarten, weniger dafür umso mehr. „Wann hast du vor, dich um eine Wohnung für dich zu kümmern?“, fragte er und blickte sie an. Je länger er darüber nachdachte, umso wichtiger erschien es ihm, dass sie sich erst einmal um die wichtigen Dinge kümmerten, immerhin waren Naomis Vorstellungen von Realität ein wenig verzerrt. Sie hatte immerhin Interesse daran bekundet, die Vormundschaft für ihren Cousin zu übernehmen, was natürlich absoluter Käse war. Der Junge war maximal ein Jahr jünger als sie und für solche Späße musste man vom Gesetz her schon in seinen Zwanzigern sein, was vielleicht auf ihn, aber nicht auf sie zutraf.

Schon kam er wieder auf die Zukunft zu sprechen. Eine Wohnung, sie war doch noch keinen halben Tag aus diesem Knast heraus. Natürlich hatte sie sich schon ausgemalt, wie es sein könnte, wieder in einem eigenen Heim zu wohnen, wieder selbst zu entscheiden, was es zu essen gab und wann sie was tat. Doch das waren bisher nur Träume gewesen, mit denen konnte sie nichts ausrichten. Dennoch musste sie nun irgendwas sagen und nein war keine mögliche Option. "Nun bisher ist es der Plan, dieses Haus zu verkaufen und dann teilen Jonathan und ich das Geld und gehen uns aus dem Weg, oder so ähnlich. Es wäre natürlich toll, wenn er in der Stadt und Gilde bleibt, sie haben sicher einen besseren Einfluss auf ihn, als es der Rest der Familie haben würde", mit Grauen dachte sie an die Eltern, die ihren Onkel zu dem Menschen macht hatten, der er geworden war. Nein, dies konnten keine guten Menschen sein, wahrscheinlich waren sie genau so psychopatisch und verschroben wie er. Doch solange sie nicht auf den Plan traten, musste sie sich um diese Leute keine Gedanken machen. "Ich denke es sollte nicht lange dauern, ansonsten hat mein Onkel auch noch die Haushaltskasse in seinem Arbeitszimmer, daraus könnte man auch eine Weile leben, wenn man möchte."
Bei ihrem Verbrauch wahrscheinlich sogar länger, immerhin aß sie wie ein Spatz. Ein Spatz der ihr gerade etwas von ihrem Salat stibitzte, das war vielleicht ein frecher Vogel. War der doch glatt während sie nachdachte zu ihrem Teller gehüpft und hatte sich ein Stück Karotte daraus geklaut. Nun gut, darauf konnte die Magierin schmerzlos verzichten, aber so ein dreistes Biest. Ein Blick herum bestätigte die Annahme, dass hier ein kleiner Schwarm dieser kleinen Vögel lebte und sich wahrscheinlich von den Tellern der Gäste ernährte, oder dem was Kindern herunter fiel und das war in Mülltonnen landete. "Keine Angst", sie zwinkerte ihm liebevoll zu, "Ich habe nicht vor dich längerfristig zu belästigen, oder gar den Versuch zu starten dein Heim zu belagern ich würde dich ungern stören", leicht lächelte sie ihn an, wahrscheinlich gab es da Dinge, mit denen wollte sie einfach nicht jeden Tag konfrontiert werden, auch wenn es sie eigentlich wenig stören sollte. Dennoch wäre eine Wohngemeinschaft mit Seraphim sicher nichts, was man empfehlen sollte, wenn man sich nicht seinen Gewohnheiten anpassen konnte. Nun da ihr Teller bereits zum Vogelhaus mutiert war, schob sie ihn bei Seite: "Ich bin satt, ich danke dir für die Einladung."
Ein roter Schimmer legte sich über die allgemeine Szenerie. Die Sonne hatte ihren Abstieg begonnen und färbte den Strand in ein fast schon blutiges Rot. Es war um sie herum ruhiger geworden. Familien mit Kindern gab es schon kaum noch, mehr Pärchen, die noch die letzten ruhigen Stunden genossen, bevor die Jugend in der Nacht den Strand für ausgelassene Feiern eroberte. Etwas was auch Naomi lieber umgehen wollte, als daran teilzuhaben.